Zu den wichtigen Lektüreerfahrungen dieses Sommers gehört für mich das Buch „Ideologiemaschinen. Wie Cancel Culture funktioniert“ von Harry Lehmann, das kürzlich im Carl-Auer-Verlag erschienen ist. Es handelt sich um einen Sonderband aus der Reihe update gesellschaft, die Essays über relevante zeitgenössische Diskurse und Konfliktlagen bereit hält. Harry Lehmann, 1965 in Dohna bei Dresden geboren, ist Physiker und Kunstphilosoph, der 2003 mit einer systemtheoretischen Arbeit zur Wahrheit der Kunst promovierte.
Das vorliegende Buch untersucht das sich auch hierzulande ausbreitende Phänomen der Cancel Culture in Hinblick auf die Frage, welche Konsequenzen das Cancel-Culture-Syndrom – „worunter wir den ganzen Komplex aus cancel culture, wokeness, victimhood culture, safetyism und identity politics verstehen“ (S. 7) für die Verfasstheit unserer Gesellschaft hat. Seine These ist, dass „infolge der digitalen Medienrevolution … die Institutionen in liberalen Demokratien die Fähigkeit [verlieren], eine Grenze zwischen politischer und nichtpolitischer Kommunikation zu ziehen, was zu erheblichen Dysfunktionalitäten führt“ (ebd.). Das lässt sich derzeit paradigmatisch an den Funktionssystemen der Wissenschaft und der Kunst zeigen, deren Institutionen leider zunehmend „anstelle von Wissen, Bildung und Kunst Ideologie produzieren: Sie verwandeln sich in Ideologiemaschinen“ (S. 8).
Den dafür verwendeten Ideologie-Begriff entlehnt er der Arbeit des englischen Politikwissenschaftlers Michael Freeden, Professor in der Abteilung für Politik und internationale Studien an der School of Oriental and African Studies der Universität London. Freeden verwirft die traditionelle Definition von Ideologien als statische Glaubenssysteme und stützt seine Analyse ideologischer Sprachspiele stattdessen u.a. auf die Sprachphilosophie Wittgensteins. Genau wie Sprachen bestehen Ideologien für ihn aus bestimmten konzeptuellen Elementen, deren Bedeutung sich im Laufe der Zeit ändern und weiterentwickeln kann. Die spezifischen Beziehungen zwischen ideologischen Konzepten können als Sprachspiele analysiert werden, indem man die jeweiligen semantischen Felder untersucht, in denen sie eine Rolle spielen.
Entscheidend dabei ist, dass die zentralen Elemente in den politischen Sprachspielen wie etwa Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Diversität, Macht, Tradition, Autorität oder Demokratie nicht eindeutig definiert sind, sondern mehrere Bedeutungsdimensionen besitzen, die in den jeweiligen Ideologien aufgewertet und legitimiert oder abgewertet und delegitimiert werden können: „Dabei geraten die politischen Ideen in ein hierarchisches Verhältnis zueinander, so dass etwa der Freiheitsbegriff in der liberalen Parteienfamilie einen Höchstwert darstellt und Gerechtigkeitsforderungen limitiert, wohingegen in der sozialdemokratischen Parteienfamilie der Gerechtigkeitsbegriff primär ist und das Konzept der Freiheit beschränkt.“ (S. 9).
In einer pluralistischen und liberalen Demokratie, die offen für eine inhaltliche Auseinandersetzung ist und Meinungsfreiheit auch für abseitige Ideologien zulässt, so lange sie den Kernbestand demokratischer Freiheiten nicht zerstören, existieren breite Strömungen in der politischen Mitte, die bei „bei ihrer Ideologiebildung tatsächlich auf das ganze Repertoire politischer Kernbegriffe zurück[greifen] und … es in ein je eigenes Arrangement“ bringen (S. 11), was insgesamt eine gewisse Balance in der politischen Kommunikation garantiert. Dagegen setzt Freeden sogenannte „dünne Ideologien“, die sich dadurch auszeichnen, dass sie eine einzige politische Idee als Wert absolut setzen (z.B. Klimaschutz, Feminismus, LGBTQ, Nationalismus, Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung etc.), aber in der Regel in parlamentarischen Auseinandersetzungen kaum Chancen haben, da ihre Vertreter zu den gesellschaftlichen Themen, die über ihre Zentralwerte hinausreichen, wenig zu sagen haben. Ganz unabhängig von der Zustimmungsfähigkeit der hier jeweils bemühten politischen Werte liegt der Clou darin, dass, „insofern das Absolutsetzen eines politischen Wertes es leicht macht, auf andere politische Werte keine Rücksicht zu nehmen, … diese Ideologien auch einen intrinsischen Hang zur Radikalität [haben]. Würde man solche einwertigen Programme tatsächlich umsetzen, käme man sehr schnell in Bereiche, in denen die Politik eine autokratische, illiberale oder antidemokratische Schlagseite bekommt“. (S. 11). Offenbar können aber die Resonanzräume der sozialen Medien solchen dünnen Ideologien so große Verbreitung verschaffen, dass sie auch in der politischen Konkurrenz mit eher gemäßigten Positionen beachtliche Geländegewinne erzielen können. Der massive Verlust an Rückhalt für die sogenannten Volksparteien spricht in dieser Hinsicht Bände.
Der vieldeutige semantische Gehalt politischer Begriffe geht im Prozess zunehmender Ideologisierung verloren, gleichzeitig werden Ideologien „für diejenigen, die in sie involviert sind, selbstevident“ (S. 12; Hervorh. TL), d.h. unbestreitbar. Das gilt aber nicht nur für die Abgrenzung zu anderen ideologischen Akteuren, sondern auch für die Binnenbeziehungen innerhalb einzelner ideologischer Bewegungen: „Die unterschiedlichen Argumentationsstränge innerhalb einer Ideologie besitzen eine Familienähnlichkeit, so dass daraus auch die Möglichkeit zur Fraktionsbildung und zu Flügelkämpfen innerhalb politischer Organisationen entsteht“ (S. 14), wie man allenthalben in Geschichte und Gegenwart primär ideologiegetriebener Gruppen beobachten kann.
Allerdings widerspricht Lehmann Freedens Schlussfolgerung, dass letztlich wir alle Ideologen seien, und kritisiert, dass dieser politische und ideologische Kommunikation in eins setze. Aus dieser Position heraus stünde schlechthin jede Kommunikation unter Ideologieverdacht. Lehmann geht dagegen davon aus, dass ein zunehmender Teil der Bevölkerung kein „essenzialistisches Verhältnis zu Ideologien“ mehr ausbildet (S. 17). Das gilt allerdings nicht für die Gruppen oder Parteien, für die „Ideologien … Vehikel [sind], größere Bevölkerungsgruppen von politischen Programmen und Zielen zu überzeugen, nach denen die Gesellschaft umgestaltet (oder nicht umgestaltet) werden soll“ (S. 16).
Soweit der idologietheoretische Rahmen. Im Unterschied zum engeren ideologischen Kräftespiel im Funktionssystem der Politik zielt Lehmanns Analyse aber auf die Ideologisierungsprozesse, wie sie in den Funktionssystemen Bildung, Wissenschaft und Kunst zu finden sind. Hier geht es im ideologischen Kampf darum, eine bestimmte Sprachpolitik mit Hilfe spezifischer Machtmittel, nämlich negativer Sanktionen, durchzusetzen: „Macht wird eingesetzt, um ein gewünschtes Verhalten – einschließlich eines gewünschten Sprachverhaltens – von Menschen wahrscheinlich zu machen.“ (S. 20).
Zur Erklärung des bereits erwähnten Radikalisierungspotentials zieht Lehmann neben den ideologiepolitischen Erwägungen die psychologische Theorie der Gruppenpolarisierung hinzu. Diese Theorie bezieht sich auf empirische Untersuchungen (etwa von Jury-Entscheidungen an amerikanischen Gerichten), die zeigen, dass Gruppen und die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen, im Verlauf ihrer Abstimmungsprozesse eine extremere Position einnehmen als die, die durch ihre eigenen Urteile vor den Beratungen angezeigt wurde, welche Richtung auch immer die Tendenzen der Gruppenmitglieder vor der Beratung waren. Voraussetzung ist dabei lediglich, dass es einen gewissen geteilten Wertekanon in den Gruppen gibt.
Dazu Lehmann: „Wenn eine Gruppe einen bestimmten Wert teilt, dann zirkulieren in ihr mehr Argumente, die für diesen Wert als gegen ihn sprechen. Wenn es für alle Beteiligten selbstverständlich ist, dass man rassistisches Verhalten grundsätzlich ablehnt, werden moderate Positionen – welche etwa bei einer »problematischen« Inszenierung an einem Theater den Wert der Kunstfreiheit ins Spiel bringen wollen, weil sie den im Raum stehenden Rassismusvorwurf für einen Kategorienfehler halten – ins argumentative Hintertreffen geraten. …Vor allem aber kommt in solchen Kontroversen noch eine Machtkomponente hinzu, die ausschlaggebend dafür ist, dass sich das Meinungsspektrum der Gruppe zum radikalen Pol verschiebt: Sie liegt in den Reputationsschäden begründet, welche die Gruppenmitglieder der moderaten Seite riskieren … Wenn es einen gemeinsam geteilten Wert wie »Antirassismus« in einer Gruppe gibt, scheinen die radikalen Stimmen diesen Wert mehr zu affirmieren als die moderaten, die indifferent wirken und den Wertekonsens der Gruppe vermeintlich infrage stellen. Aus der Perspektive der Critical Race Theory erscheinen diejenigen, die etwa das Ideal der »Farbenblindheit« von Martin Luther King ins Feld führen, selbst als Akteure, welche die Sache des Rassismus befördern. Umgekehrt gilt aber auch, dass diejenigen, die sich heute in einem konservativen Umfeld bewegen und Trump kritisieren, unter Verdacht geraten, keine echten Republikaner zu sein. Die Furcht vor solchen negativen Zuschreibungen, die einem in einer unkalkulierbaren Weise schaden können, führt dazu, dass sich viele in der Gruppe auf die radikale Position hinbewegen, was wiederum den moralischen Druck auf die verbleibenden Gruppenmitglieder erhöht“ (S. 23 ff.).
Der ideologische Durchgriff auf die Institutionen der Funktionssysteme führt Lehmann zufolge dazu, dass aus Angst vor Angriffen auf die wissenschaftliche, künstlerische oder charakterliche Reputation nicht mehr die bestmöglichen künstlerischen, wissenschaftlichen oder pädagogischen Entscheidungen getroffen werden, sondern nur noch die politisch opportunen (S. 26). Auch hier spielen die sozialen Medien, die das kommunikative Handeln aller Akteure in Echtzeit beobachtbar (und skandalisierbar) machen, eine entscheidende Rolle – und zwar mit verheerenden Folgen: „Die digital forcierte Gruppenpolarisierung führt dazu, dass mehr und mehr politische Ziele in die Leitbilder der Institution aufgenommen werden, so dass es in Konfliktfällen nahezu unmöglich wird, für deren systemspezifische Eigenwerte zu streiten (wie etwa für die Wissenschafts- oder die Kunstfreiheit, wenn es um politisch sensible Themen geht). Außerdem werden aufgrund dieser Dynamik immer mehr Compliance-Stellen mit einer klaren politischen Agenda geschaffen, wodurch politische Themen zwangsläufig immer stärker die Tagesordnung bestimmen. Und schließlich führt dies auf der Ebene der Akteure dazu, dass diese nicht nach Kompetenzkriterien, sondern nach politischen Kriterien eingestellt, befördert und beurteilt werden. Vor allem aber breitet sich jetzt eine ideologisch doppelcodierte Kommunikation aus, in der jeder Sprechakt daraufhin beobachtet wird, ob er das vorherrschende ideologische Sprachspiel affirmiert oder nicht, was ein Klima der Angst, des Verdachts und der erzwungenen Rede nach sich zieht. Am Ende können solche Institutionen sich in Ideologiemaschinen verwandeln: in Maschinen, die nicht länger an ihrer Funktion orientiert sind, sondern anstelle von Kunst, Wissenschaft oder Bildung beginnen, Ideologie zu produzieren.“ (41f.).
An Beispielen der vor allem in den USA schon weit fortgeschrittenen Cancel Culture, die oft bizarr und lächerlich erscheinen, aber leider mehr als erschreckend sind, führt Lehmann im weiteren Verlauf einige theoretische Modelle zur Erklärung der Cancel Culture auf, die sich aus philosophischen, psychologischen, soziologischen, pädagogischen, ökonomischen, juristischen, religiösen und rhetorischen Quellen speisen.
Die Analyse Lehmanns macht plausibel, warum der Kernbestand einer liberalen Demokratie durch die Cancel Culture von rechts wie von links bedroht ist. Aber was ist gegen die zunehmende Ideologisierung von Institutionen zu unternehmen?
Lehmann plädiert für eine „Systemtherapie“, die auf die Installation von „Resonanz-“ bzw. „Ideologieunterbrechern“ setzt. Das könnten z.B. Maßnahmen zur Durchsetzung von Redefreiheit sein, etwa die Verabschiedung von Free Speech Rules durch Universitäten, die Ersetzung des Wortes „Respektieren anderer Meinungen“ durch „Tolerieren anderer Meinungen“ usw., die juristische Vertretung von Betroffenen der Cancel Culture, ganz gleich, ob sie von links oder rechts gecancelt wurden, Herstellung von Gegenöffentlichkeit u.a. Lehmann beschreibt hier einige der bereits in den USA vorzufindenden Initiativen. „Generell kristallisieren sich am Modell der forcierten Gruppenpolarisierung zwei komplementäre Strategien heraus, Institutionen vor ideologischen Resonanzkatastrophen zu bewahren – die wie alle Resonanzkatastrophen ihre inneren Strukturen zerstören: Zum einen wird die semantische Differenz zwischen der systemeigenen (wissenschaftlichen, künstlerischen oder journalistischen) Kommunikationsform und der systemfremden politischen Kommunikationsform geschärft. Zum anderen werden Sicherungssysteme in die Institutionen eingebaut, welche die Macht der politischen Kommunikation – mithilfe anderer Formen der Macht – beschränken, sei es über Gerichtsprozesse und Gesetze, welche die Redefreiheit stärken, sei es über betriebsinterne Weisungen, welche zur politischen Neutralität verpflichten, sei es über eine Ethik der Heterodoxie“ (125).
Ob solche Strategien hierzulande Aussicht auf Erfolg haben können, sei dahingestellt. Die Zeichen stehen momentan nicht günstig. Selbst im systemischen Feld, das sich doch die Beobachtung der Beobachtung, also die radikale Infragestellung des Wahrheitswertes der eigenen Beobachtungen auf die Fahne geschrieben hatte, finden sich zunehmend ideologische und moralisierende Positionen wieder, die – auch noch unter dem Deckmäntelchen der Gender-, Rassismus- und Diskriminierungssensibilität – an Multiperspektivität und Meinungsvielfalt nicht mehr interessiert sind.
Niklas Luhmann hat in seinen Arbeiten zur Moral und zur moralischen Kommunikation darauf hingewiesen, dass im Laufe der Geschichte das Recht die Moral als integrierendes Medium der Gesellschaft abgelöst hat. Die Legitimation durch Verfahren ersetzte die Berufung auf unhintergehbare letzte Werte, weil diese nicht mehr für alle Menschen verbindlich zu machen waren. Die identitären und woken Bewegungen der Gegenwart versuchen dagegen, anstelle des Rechts wieder die Moral zu setzen, um ihre Geltungsansprüche durchzusetzen. Die sozialen Medien mit ihren zahlreichen Resonanzräumen spielt ihnen dabei in die Hände.
Dazu schreibt Lehmann gegen Ende des Buches: „Liberale Demokratien beruhen darauf, dass man die Konzepte von »Sprache« und »Handlung« klar unterscheiden kann und nur eine eng gefasste Klasse von »Ehrdelikten« (zu denen hierzulande Beleidigungen, üble Nachrede und Verleumdungen gehören) strafrechtlich relevant sind. Wenn man den Begriff der justiziablen Sprachhandlungen zu vage fasst, wie dies bei den sogenannten Hate-Speech-Gesetzen der Fall ist, führt dies unweigerlich zu einer Einschränkung der Redefreiheit. Die aktivistischen Theorien, welche dem Cancel-Culture-Syndrom heute ihr theoretisches Fundament geben, dekonstruieren die konstitutiven Unterscheidungen der liberalen Moralkultur: die Unterscheidung von Sprache und Handlung, so dass es im Prinzip unmöglich wird, eine Grenze zwischen justiziablen und nichtjustiziablen Sprechakten zu ziehen. In dieser Dekonstruktion liegt die theoretische Rechtfertigung für die Konzepte der Trigger-Warnungen, der sicheren Räume, der Mikroaggression und jener anonymen Beschwerdestellen, in deren Umfeld Menschen für eine victimhood culture hypersensibilisiert werden. Nachdem das postmoderne Weltbild ein halbes Jahrhundert lang recht gut funktioniert hat – d. h., nachdem es den liberalen Charakter liberaler Demokratien reflexiv stabilisieren konnte –, wird es heute dysfunktional. Erfasst von jener Dialektik der Aufklärung, von der man geglaubt hatte, dass man sie nach dem vermeintlichen »Ende der Geschichte« hinter sich lassen könnte, hat sich diese post-moderne Selbstbeschreibung in ein Legitimationsinstrument des Illiberalismus verwandelt. In diesem Sinne ist die Postmoderne heute definitiv an ihr Ende gekommen.“ (130).
Die geschilderten Dynamismen der Gruppenpolarisierung führen dazu, dass allzu viele, die mit dem ideologischen Aktivismus nicht einverstanden sind, aus Angst vor Angriffen auf ihre Reputation schweigen oder gar Initiativen trotz innerer Zweifel unterstützen. Die Standfestigkeit unserer Demokratie wie unserer Institutionen erweist sich daran, inwiefern genügend Menschen, Wissenschaftler und andere Akteure der Funktionssysteme den Mut aufbringen, hier ihre Stimme einzubringen. In der Mehrheit dürften sie noch sein.
Das Buch ist allen nachdrücklich zu empfehlen, die sich Sorgen um die Freiheit von Kunst und Wissenschaft und die Erhaltung der liberalen Demokratie machen. Die Ideologen wird es wohl leider nicht erreichen.
Im sounds-of-science Podcast des Verlages gibt es ein Interview von Matthias Ohler mit dem Autor
Eine Leseprobe und das Inhaltsverzeichnis finden Sie hier…
Zur Website des Autors …
Harry Lehmann (2024): Ideologiemaschinen. Wie Cancel Culture funktioniert. Heidelberg (Carl-Auer Verlag)
147 S., Br.
ISBN 978-3-8497-0545-9
Preis: 19,00 €, ebook 17,99 €
Verlagsinformation:
Wenn kulturelle Institutionen freiwillig Freiheitsrechte preisgeben und anfangen, Ideologie zu produzieren, ist die Demokratie in Gefahr. Harry Lehmann identifiziert den Mechanismus dieser dysfunktionalen Politisierung und entwickelt Vorschläge zur System-Therapie. Ein kluges Plädoyer für die Freiheit in Kunst, Lehre und Wissenschaft!
Über den Autor:
Harry Lehmann, Philosoph; forscht und lehrt an der Universität Luxemburg, studierte Physik und Philosophie, promovierte 2003 an der Universität Potsdam mit Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann, W. Fink (2006). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kunst- und Musikphilosophie, der Systemtheorie und der KI-Ästhetik. Zu seinen wichtigsten Buchpublikationen gehören: Musik und Wirklichkeit. Modelle der Musikphilosophie, Schott Music (2023), Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Schott Music (2012), Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, W. Fink (2016), Ästhetische Erfahrung. Eine Diskursanalyse, W. Fink (2016).
Auch ich bedanke mich für die gut verständliche Zusammenfassung eines anspruchvollen Beitrags. Ja, wir dürfen die Diskurse nicht den Ideologen überlassen.
Habe es gerne weitergeleitet.
Bernd Schmid
Schon Horkheimer und Adorno klärten uns 1944 in ihrer Schrift „Dialektik der Aufklärung“ darüber auf, dass das Projekt der Aufklärung letztlich zu neuen quasireligiösen Ideologien führen kann oder wird.
In man könnte sagen – diabolischer – Verbindung mit der „Tribunalisierung“ (Marquardt; fortwährend werden Ungerechtigkeiten und Angeklagte dafür identifiziert und von Aktivisten forciert) führt dies zu einem kollektiven Verlust der moralischen Urteilsfähigkeit und einer kulturrevolutionären Haltung, in der es nur noch „Gute“ und „Böse“ gibt.
Die Coronajahre haben dies fast wie ein gesellschaftspolitisches Experiment in erschreckender Weise gezeigt. Sog. „Ungeimpfte“ wurden kollektiv von einer Allianz aus Pharmakonzernen, Regierung und Medien verunglimpft, sie wurden aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, sie verloren ihre Arbeit und ihre Reputation. Meinungen, man solle den „Ungeimpften“ einfach mal eine Tracht Prügel verpassen, wurden im ÖRR toleriert und gutiert.
Heute ist klar, dass diese Ausgrenzung keinerlei wissenschaftliche Fundierung hatte.
Von Anfang an wurden maßnahmenkritische Meinungen aus dem öffentlichen Diskurs verbannt, als „Verschwörungstheorie“ und „rechts“ gebrandmarkt. Facebook, Google und Co. trafen Absprachen mit den Regierungen, dass derlei Äußerungen getilgt werden.
Entspricht das tatsächlich noch dem, was man eine „liberale Demokratie“ nennt?
Nebenbei habe ich mich in der Hochphase der C-Zeit und auch im Nachhinein gefragt, wo denn die von manch prominentem Systemiker so hochgelobte „Ressourcenorientierung“ geblieben ist – Stichwort: Immunsystem als Ressource.
Lieber Tom, ich möchte mich dem Dank von Jan Bleckwedel für Deinen Beitrag ausdrücklich anschliessen. Ich habe das Buch gelesen, mit Erschrecken und nüchterner Zurkenntnisnahme zugleich. Die Geschehnisse um die DGSF-Zeitschrift Kontext (bin Abonnent) sind im systemagazin ebenso ausführlich dargestellt und diskutiert worden und werfen ein Schlaglicht darauf, dass sich auch im systemischen Feld besorgniserregende Dynamiken entwickeln können, die in letzter Konsequenz demokratische Grundprinzipien zerstören.
Ich sage jetzt mal ausdrücklich danke für diesen informativen Beitrag. Im Schatten der Postmoderne marschiert die Gegenaufklärung.
—–und warum nicht Julian Nida-Rümelin zumThema, der eine viel ausgedehntere
-auch Vortrags – tätigkeit dazu zu bieten hat?——-von seiner toughen philosophisch-sozialtheoretischen Argumkentation ganz zu schweigen—???
Eine echte Killer-Frage. Chapeau!