Heute feiert Humberto R. Maturana seinen 90. Geburtstag. Der chilenische Biologe und Philosoph wurde am 14. September 1928 in Santiago de Chile geboren und gilt als ein wichtiger Wegbereiter der konstruktivistischen Erkenntnistheorie. Er studierte ab 1948 Medizin an der Universidad de Chile und ging 1954 mit einem Stipendium der Rockefeller-Stiftung an das University College in London. Dort entwickelte er erstmals eine Theorie zur Existenz lebender Systeme als autonome dynamische Einheiten. Ab 1956 lebte er in Harvard, USA, wo er 1958 das Doktorat in Biologie abschloss, und arbeitete bis 1960 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge (Massachusetts), USA. 1960 erhielt er den Ruf auf den Lehrstuhl für Biologie an der Fakultät für Medizin der Universidad de Chile, Santiago de Chile. Dort spezialisierte er sich auf Untersuchungen zur visuellen Perzeption, insbesondere der Farbwahrnehmung, und auf die Grundlagen zur Unterscheidung lebender Systeme und nicht-lebender Systeme. 1968 reiste er auf Einladung Heinz von Foersters nach Urbana und nahm von 1969 bis 1970 eine Gastprofessur an der University of Illinois wahr.Von 1970 bis 1973 arbeitete er in enger Kooperation mit Francisco J. Varela in Santiago de Chile. Ab 1970 widmete er sich vor allem der Weiterentwicklung der „Biologie der Erkenntnis“ und beschäftigt sich als Neurophysiologe mit erkenntnistheoretischen Problemen über den Weg der „Biologie des Erkennens“.
Seine Theorie der Autopoise lebender Systeme (im engeren Sinne: der Autopoiese der zellulären Vorgänge in Organismen) erwies sich als äußerst einflussreich im systemisch-konstruktivistischen Diskurs. Der Begriff der Autopoiese wurde von Niklas Luhmann auf die Organisation psychischer und sozialer Systeme übertragen, eine Theorieentscheidung, der Maturana bis heute widerspricht. In einem Gespräch mit Bernhard Pörksen, das 2001 in der Zeitschrift Communicatio Socialis erschienen ist, erklärt er, warum er die Übernahme des Autopoiese-Begriffs für die Theorie Sozialer Systeme für falsch hält.
systemagazin gratuliert Humberto Maturana und wünscht ihm alles Gute für die kommenden Zeiten!
Gerade zu dem Thema Maturana-Luhmann hat Marianne Krüll beide vor etwa 30 Jahren zusammengebracht und ihnen dieselben Fragen gestellt. Nachzulesen hier:Marianne Krüll, Niklas Luhmann & Humberto Maturana. Grundkonzepte der Theorie autopoetischer Systeme. Neun Fragen an Niklas Luhmann und Humberto Maturana und ihre Antworten. Z.system.Ther. 5(1): 4-25, 1987
Wen’s interessiert
Viva Humberto Maturana! Que viva mucho tiempo!
Der deutschsprachige systemtheoretische Diskurs wäre m. E. gut beraten, diesen Geburtstag zum Anlass zu nehmen, Maturana nicht mehr wie bisher zwar in Ehren zu halten, ihn ansonsten aber links liegen zu lassen.
Auf einem Foto in „Vom Sein zum Tun“ (S. 171) sieht man Maturana als jungen Mann zusammen mit einem bereits ergrauten, aber noch sehr rüstigen Heinz von Foerster in lebhafter Kommunikation. Maturana nennt ihn einen „Zenmeister in der Kunst, mit Systemen umzugehen.“ „Heinz von Foerster versteht Systeme in einer sehr tiefen Weise. Er erkennt die Matrix, ersieht die Lücken und offenen Stellen, die von dieser Matrix nicht berührt werden. In diesen Lücken vermag er sich vollkommen frei und mit einem vollendeten Selbstvertrauen zu bewegen und sich bei Bedarf auch unsichtbar zu bewegen.“
Maturanas Begegnung mit Luhmann verlief bekanntlich weniger glücklich. Das hat m. E. weniger mit Persönlichkeitsunterschieden zu tun (die es bestimmt gab), sondern eher damit, dass beide in Bezug auf die Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein, Antipoden bilden; d. h. sie nehmen orthogonal zueinander stehende, nichtsdestoweniger aber komplementäre Beobachter-Positionen ein.
Die Bateson’sche Frage nach dem Muster, das beide Positionen miteinander verbindet (und der „Matrix“, in die sich dieses Muster einbettet) ist bis heute offen. Von Vielen wird sie noch nicht einmal als sinnvolle Frage angesehen. Dabei könnte die Frage nach dem Unterschied zwischen menschlicher und technischer Kommunikation, wenn man sie denn präzise stellt, in unserer sich digitalisierenden Lebenswelt zur Überlebensfrage werden.
Luhmann nimmt ja Information (verstanden als ein – nicht beobachtbares – Ereignis, das einen Systemzustand auswählt) in die menschliche Kommunikation hinein. Mit diesem Kommunikationsbegriff stehen wir den Herausforderungen der sich digitalisierenden Welt aber mit leeren Händen gegenüber
(vgl. hierzu G. Peyn: https://carl-auer-akademie.com/blogs/systemzeit/2018/09/03/nformaton/ )
Hier wäre ein Studium Maturanas und G. Batesons sehr hilfreich. Dann ließe sich nämlich zeigen, dass und wie Kommunizierende die Irritationen durch ihre Umwelt in Form von Bildern zu Selbst-Information verarbeiten, um sich wechselseitig (mimetisch) solange auf ihr jeweiliges, individuelles Bild hin zu orientieren, bis Isomorphie erreicht ist – ablesbar an sinn-voller Verhaltenskoordination.
Auch wir gratulieren zum 90! von Humberto Maturana
https://www.carl-auer.de/humberto-maturana/
Viel Spaß!