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Hartwig Hansen: Der Kontext ist wichtiger als der Text

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Im Bücherregal meines Vaters – das Regal, das ich mittlerweile geerbt habe – standen diverse Bücher, die mir in frühen Tagen Ehrfurcht einflößten, vor allem Ehrfurcht vor meinem Vater, der diese Bücher offenbar gelesen und verstanden hatte.
Eines dieser dickleibigen Bücher trug den verwirrenden Titel „Ökologie des Geistes“ und mein Vater sagte nun seinerseits mit Ehrfurcht in der Stimme, der Autor Gregory Bateson (nie gehört!) sei ein wichtiger Vordenker. Zu der Zeit studierte ich immerhin Psychologie, opponierte innerlich aber noch gerne gegen „große Namen“.
Später, Ende der 1980er, tauchte der Name Gregory Bateson plötzlich wieder auf. Mich hatte es mittlerweile nach Bonn verschlagen. Dort sollte ich das Buchprogramm des noch jungen Psychiatrie Verlages weiterentwickeln, der ökonomisch vor allem von dem Erfolg des Lehrbuches „Irren ist menschlich“ lebte. Klaus Dörner (der vor ein paar Tagen ja gerade 80 Jahre alt geworden ist) hatte mit Ursula Plog diesen Klassiker geschrieben und zitierte immer mal wieder – wie er es später nannte – „ein zauberhaftes Ewigkeitswort von Gregory Bateson, dem Erfinder der Systemtheorie“. Den Namen hatte ich doch schon mal gehört … Das sogenannte Ewigkeitswort lautete: „Der Kontext ist immer wichtiger als der Text.“
Dieses Diktum „der großen Geister“ hat mich erreicht und überzeugt. Es lässt mich jetzt sogar diese Episode aufschreiben, denn ich sollte bald eindrucksvoll erfahren, wie es sich im Leben bewahrheitet.
Mein Vorgänger im Psychiatrie Verlag hatte ab Mitte der 1980er einen innerdeutschen Coup landen können. Er hatte die Druckaufträge der regelmäßig stattlichen Nachauflagen von „Irren ist menschlich“ nämlich nach Leipzig vergeben (schauen Sie ruhig noch mal ins Impressum Ihrer lila „Irren ist menschlich“-Ausgabe mit dem Waldbild vorne drauf). Damit hatte er es nach schwierigen Verhandlungen sogar geschafft, dass das Buch als „Mitdruck“ mit 2.000 Exemplaren in der DDR erscheinen konnte. Was heißt „erscheinen“? Ob sie wirklich in Buchhandlungen erwerbbar waren, blieb offen.
Der besagte Vorgänger hatte mir noch ein weiteres grenzüberwindendes Großprojekt anvertraut.
Ein Herausgeber aus dem Osten – Professor Achim Thom (1935-2010) aus Leipzig – und einer aus dem Westen – Professor Erich Wulff (1926-2010) aus Hannover – wollten seit 1986 einen richtungsweisenden Sammelband mit prominenten Psychiatrie-Namen aus ganz Europa zusammenstellen, Titel: „Psychiatrie im Wandel – Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West“. Vierzig hochkarätige Autorinnen und Autoren, langes Harren auf die Beiträge, freundliches Mahnen, Hin und Her in der Bearbeitung, heute in Vergessenheit geratene Kommunikationsprobleme zwischen Ost und West – kurz: Eine Riesenbrett, das es zu bohren galt.
1989 war immerhin absehbar, dass das Buch fertig werden könnte – es sollte ja ein Verkaufsschlager werden … Aber nun – Sie ahnen es – sollte alles anders kommen.
Die Mauer fiel – und damit auch unsere hochfliegende Hoffnung, mit diesem weitsichtigen, in Sisyphus-Arbeit erstellten Band von über 600 Seiten die innerdeutsche Grenze durchlässiger zu machen. Die musste nicht mehr durchlässiger gemacht werden, sie war niedergerissen worden.
Und so schließt sich der Kreis des Bateson-Paradigmas: Der Kontext ist wichtiger als der Text. Der Kontext des Umbruch-, Aufbruch- und Einheitsjahres 1990 hatte den so mühsam zusammengestellten Text von „Psychiatrie im Wandel“ in Windeseile überholt. Wir stellten es zwar im Oktober 1990 noch in einer Art „Familienfeier“ in Leipzig vor, aber alle Beteiligten spürten, dass nun etwas anderes auf der Tagesordnung stand. Das Buch gibt es mittlerweile nur noch antiquarisch – zu einem erstaunlich günstigen Preis!
Und mittlerweile zitiere ich mitunter Herrn Bateson – zitiert von Herrn Dörner – in der einen oder anderen Beratung oder Fortbildung. So ändern sich die Zeiten und Gewohnheiten.

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