Heute feiert Harlene Anderson ihren Geburtstag – die englische Wikipedia-Version gibt ihr Geburtsjahr mit 1942 an, das wäre dann heute der 75. Geburtstag, zum dem wir von Herzen gratulieren. Allerdings fehlt für diese Angabe die letzte Verifizierung, letzte Zweifel sind nicht ausgeräumt – der Tag stimmt aber.
Klaus Deissler, der zu den exponierten Vertretern des sozialkonstruktivistischen Ansatzes in Deutschland zählt, hat zu diesem Anlass ein Gespräch beigesteuert, das er als Herausgeber der Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung und seine KollegInnen 1992 mit Harlene Anderson geführt hat und das einen guten Einblick in ihre Arbeitsphilosophie gibt, verbunden mit einer persönlichen Gratulation:
Liebe Harlene,
in Dankbarkeit für die Möglichkeit, mit Dir in Dialogen zu lernen, in herzlicher Freundschaft und kollegialer Wertschätzung, wünsche ich Dir alles Gute, Liebe und Glück.
Anlässlich Deines Geburtstages erscheint unser Gespräch von 1992, das den von Harry Goolishian und Dir begründeten kollaborativ-dialogischen Ansatz zum Inhalt hat und das in der Zeitschrift für Systemische Therapie erschienen ist, heute im systemagazin.
Im Andenken an Harry, unsere vielfachen Formen der Zusammenarbeit in Vergangenheit und Gegenwart und in der Hoffnung auf die Fortsetzung unserer kreativen dialogischen Gespräche und der gemeinschaftlichen Arbeit in der Zukunft, erhebe ich mein Glas auf Dein Wohl,
cheers to you and your family,
Klaus
Im Gespräch mit Harlene Anderson
Am Rande eines kleinen Workshops mit Harlene Anderson (HA) hat sich die Redaktion der Zeitschrift für Systemische Therapie getroffen. Wir haben Harlene als neue Mitarbeiterin für unsere Zeitschrift gewinnen können und nicht zuletzt aus diesem Anlass ein Interview mit ihr durchgeführt. Neben den Redaktionsmitgliedern Gertrud Pietsch, Marburg; Roswitha Schug, Mainz; Thomas Keller, Köln, Wilhelm Rotthaus, Bergheim und Klaus G. Deissler, Marburg (damaliger Herausgeber), war auch Ulrike Jänicke als Gast aus Halle anwesend. Jeder von uns hat Fragen an Harlene gerichtet. Wir haben die Fragen nicht durch die persönlichen Abkürzungen der Autoren gekennzeichnet, sondern als «ST» für Zeitschrift für Systemische Therapie abgekürzt.
ST: Ich habe drei Fragen:
1. Was ist Deiner Meinung nach das Vermächtnis von Harold Goolishian für das Feld der Familientherapie?
2. Würdest Du Eure Art der Therapie noch systemische Therapie nennen?
3. Was glaubst Du, in welche Richtung sich das Familientherapiefeld in Zukunft entwickeln wird?
HA: Am besten erzähle ich zuerst, wie ich Harrys Position im Feld der Familientherapie sehe. Er war nie ein Mainstream-Typ, sondern stand eher am Rande – manche Leute würden sogar sagen, dass er manchmal über den Rand gefallen ist und spielen damit auf einige seiner Ideen und Bereiche seiner Arbeit an. Ich selbst bin voreingenommen und würde sagen, dass er haarscharf am Rand war – immer nach vorne drängend, sehr herausfordernd und provozierend. Er hat sich viele Fragen zum Status Quo der Psychotherapie und Familientherapie gestellt und hat andere zum Nachdenken aufgefordert und angeregt. Seine Rolle war eine sehr interessante und besondere, aber auch schwer zu fassen; er war nicht so etwas wie ein Guru, aber er hatte Anhänger, kleine Gruppen von Menschen, die gerne mit Ihm zusammen waren, die seine Ideen spannend fanden.
Nach seinem Tod haben wir Berge von Briefen und Karten bekommen von Leuten, die ihn sehr gut kannten und eng mit ihm zusammen gearbeitet haben, aber auch von Leuten, die ihn vielleicht nur irgendwann einmal für eine Stunde erlebt hatten. Alle haben sie über den tiefen Einfluss geschrieben, den er auf sie gehabt hat, z.B. wie er sie mit seinen provozierenden Thesen oder Fragen zum Nachdenken anregte oder wie sie selbst kurze Gespräche mit ihm mit neuen Überlegungen und Ideen verließen. Es war faszinierend, wie er mit einer Frage, einem Satz oder Einwurf zu etwas Neuem beitragen konnte. Nicht, dass er DIE Frage oder DIE Antwort gehabt hätte, aber es hat für die Leute etwas eröffnet. Das war das, was in den Briefen am deutlichsten hervortrat. Ich denke, es wird Im Familientherapiefeld niemanden geben, der so sein wird wie Harry.
Zur zweiten Frage: Ich würde unsere Arbeit nicht mehr systemisch nennen. Wir haben dies in letzter Zeit auch nicht mehr getan. Seit ungefähr 5 Jahren bzw. seit der Konferenz in Sulitjelma in Norwegen haben «Systeme» bzw. «systemisch» im Familientherapiefeld zwar recht viele Bedeutungen, aber im allgemeinen assoziiert man dabei doch Kybernetik und kybernetisches Denken und im weitesten Sinne – so war es jedenfalls lange Zeit, auch wenn sich das jetzt ändert – den Mailänder Therapiestil. Außerdem nennt heutzutage fast jeder seine Arbeit systemisch – und man muss sowieso fragen, was damit genau gemeint ist. Seit wir mehr in Begriffen von sprachlichen Systemen, Erzählungen und Dialogen denken, scheinen die alten Begriffe nicht mehr auszureichen. Wir brauchen neue Begriffe und Beschreibungen für das, was wir tun und worüber wir reden. Nicht nur für uns, sondern auch um Kollegen die Möglichkeit zu geben, unseren Ansatz mit anderen zu vergleichen, Unterscheidungen zu treffen etc.. Es kommt natürlich auch darauf an, mit wem ich rede – manchmal benutze ich doch noch die Begriffe System oder systemisch.
ST: Habt Ihr einen neuen Namen für Euren Ansatz?
HA: Nein, wir haben den Namen immer wieder geändert. Am Anfang sprachen wir von «problem-definierenden, problemdeterminierten Systemen», dann einfach von «Problemsystemen», dann von «sprachlichen Systemen» und in den letzten Jahren von «collaborative language systems». Dieser Begriff stimmt besser mit unserem Denken überein und ist auch eine Antwort auf Anregungen von Kolleginnen, die uns fragten, warum wir auf Probleme und nicht auf Lösungen fokussierten. Sie wiesen auf den lösungsorientierten Ansatz von Steve de Shazer und Insoo Berg hin, die sagen, dass es befreiender sei, sich mit Lösungen zu beschäftigen, während die Konzentration auf Probleme eher einengend und begrenzend sei. Wir dachten dann: «Es ist wirklich nicht unsere Absicht, uns auf Probleme zu konzentrieren, aber andere scheinen das von uns zu denken», und so suchten wir nach anderen Möglichkeiten, unsere Arbeit zu beschreiben und darüber zu reden. Und später, als viele Leute anfingen, über therapeutische Konversation und den Gebrauch von Sprache zu reden, fragten wir uns erneut, was wir eigentlich genau machen und wo Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen Ansätzen sind. Das Wort, das uns dann am häufigsten einfiel und am besten gefiel, war «collaborative»: Therapie als gemeinsames Bemühen. Als ich das erste Mal in Marburg war, sprachen wir über Wörter und deren Bedeutung und man fragte mich, warum wir den Begriff «kollaborativ» und nicht «kooperativ» verwenden. Ich erklärte damals, dass diese Begriffe in den USA im Psychotherapiefeld unterschiedliche Bedeutungen haben. «Kooperation» impliziert, dass ich versuche, jemanden dazu zu bringen, mit mir zusammenzuarbeiten, das heißt, dass er/sie das tut oder sagt, was ich von ihm/ihr erwarte. Kooperativ wird also fast im Sinne von gefügig («compliant») gebraucht. Man fragt, ob ein Klient «compliant» oder «non-compliant ist». Kennt Ihr diesen Begriff hier?
ST: Hier wird viel Geld in die Compliance-Forschung gesteckt!
HA: Nach dem Motto wie kann man den Patienten dazu kriegen, die Ärzte glücklich zu machen?! Also, «Kollaboration» schien uns ein passendes Wort zu sein und daher haben wir es beibehalten. Ich habe allerdings schon erfahren, dass diese Begriffe im Deutschen eine ganz andere Bedeutung haben und etwas anderes bezeichnen.
ST: Ihr habt also keinen besonderen Namen für Eure Therapie? Z.B. wenn Ihr etwas veröffentlicht?
HA: Ich sage meistens «Collaborative Language Systems Approach» oder «Collaborative Language Systems Therapy». Einen anderen Namen habe ich nicht.
ST: Nochmal zurück zu den Diskussionen über Problemsysteme und Lösungen. Mir kommt es manchmal so vor, als seien die Leute zu sehr gefesselt von der Bedeutung von Wörtern oder Begriffen. Ob man das jetzt «Problem-» oder «Lösungen-» nennt – ich könnte auch sagen, ein «X-organisierendes/auflösendes System» statt ein «problem-organisierendes/auflösendes System», oder ich könnte sagen, ein «lösungsorganisierendes System»… Ist das nicht nur ein Spiel mit Worten oder gar ein Krieg mit Worten?
HA: Ja, es geht schon darum, welche Bedeutung Leute bestimmten Begriffen zuschreiben und was das für sie heißt. Übrigens hatte ich ganz vergessen zu erwähnen, dass wir eine Zeit lang den Begriff «problemorganisierendes, problemauflösendes System» gebraucht haben. Ich glaube allerdings nicht, dass es ein Krieg mit Worten ist, ich würde es nicht so hart ausdrücken. Aber es ist schon sehr interessant, wie Begriffe eine bestimmte Bedeutung innerhalb des Familientherapiefeldes erlangen und dann die Tendenz haben, hängenzubleiben.
ST: Was ist. wenn ein Wort «hilft», das Feld zu teilen, es gewissermaßen in zwei Lager zu spalten? Nehmen wir da die Worte nicht zu ernst?
HA: Das glaube ich schon. Besonders, wenn Worte zu Etiketten werden, und damit starr, fest und unveränderbar werden.
Wie sich das Feld weiterentwickeln könnte, ist eine sehr offene Frage. Es gibt Leute im Feld der Familientherapie und der Psychotherapie im Allgemeinen, die sich für Sprache und Erzählung interessieren. Das ist aber, glaube ich, eine Minderheit. Ob diese Ideen für andere nützlicher werden, ob sie mehr akzeptiert werden oder ob sie populärer werden, weiß ich nicht, weil es für einige Leute so sehr anders, so diskrepant ist, dass sie sehr erschüttert sein könnten. Viele fundamentale Prämissen, auf die wir unser Lebenswerk gebaut haben, werden erschüttert.
ST: Welche z.B.?
HA: «Therapeutisches Expertentum», «therapeutisches Wissen», «Meta-Position», «Objektivität-, «Diagnose», «Pathologie», «Behandlung», «Heilen».
ST: Diese Ideen sind sehr reizvoll für mich, aber es gibt ein «aber». Dieses «aber» betrifft, wie man diese Ideen «verkauft». Personen, die in irgendeiner Weise das, was wir tun, bezahlen – sei es für Forschung oder für Therapie – würden kein Geld dafür ausgeben, damit wir uns zu «Nicht-Experten» ausbilden, viel Geld dafür bezahlen und es später praktizieren. Es wäre ein schwieriges Unterfangen, wenn wir z.B. zu Krankenversicherungen oder Politikern gehen würden, damit diese uns für das, was wir tun, Geld geben.
HA: Man muss in der Lage sein, sozusagen die Sprache der Geldgeber zu sprechen – sei es die einer staatlichen Einrichtung, einer Stiftung oder einer Versicherung, man muss irgendeinen Weg finden, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich denke an unsere Forschungsprojekte, die wir begonnen haben ohne Geld, und wie wir darüber nachdachten, wie wir finanzielle Unterstützung erhalten könnten. Wir haben erkannt, dass wir einen Schritt zurück machen und fundamentale Daten sammeln mussten.
Dies erscheint uns z.B. intuitiv sinnvoll, und wir erhalten auch Rückmeldungen von der Kinderschutzeinrichtung, die uns Klienten schickt. Sie schätzt unsere Arbeit sehr und sie mögen es, dass wir die im Fall engagierten Betreuer einbeziehen und mit ihnen kommunizieren. Sie teilen unser Gefühl, dass wir am Institut mehr von den verurteilten Klienten sehen, die normalerweise nicht nur zur ersten Sitzung kommen, sondern dass wir die Therapie bis zu dem Punkt fortsetzen, wo wir eine wechselseitige übereinstimmende Vereinbarung über die Beendigung der Therapie treffen können; dies wird dann von dem Gericht akzeptiert. Aber es gibt für uns keinen Weg, das zu dokumentieren oder darüber zu sprechen und wir würden mit Sicherheit nicht zu einem Richter gehen, um ihn zu veranlassen mit weiteren Richtern zu sprechen, damit wir mehr Geld kriegen nach dem Motto «Wir wissen, dass ‚Nicht-Wissen‘ mehr Leute zu uns bringt». Deshalb müssen wir einige Schritte zurückmachen und beginnen, Basisinformationen zu sammeln, damit wir eine Pilotstudie beschreiben können, die anderen Leuten sinnvoll erscheint und uns erlaubt, etwas explorieren zu können.
Ja, ich stimme mit Dir überein: Es ist sehr schwierig mit den eigenen Kolleginnen zu sprechen. Ich werde auch ständig herausgefordert und kritisiert, wenn ich über «geteiltes Expertentum» spreche, kein «Inhaltsexperte» zu sein oder eine «nicht-wissende Haltung» einzunehmen. Ich glaube, viele Leute sehen in dieser Haltung sofort eine «entweder/oder»-Position oder ein Ende eines Kontinuums gegen das andere – es errichtet Polarisierungen oder falsche Dichotomisierungen, die nicht in meiner Absicht liegen. Ich selbst denke in letzter Zeit darüber nach, wie ich über meine Arbeit so sprechen kann, dass mehr Tore für einen Austausch geöffnet werden. Ich sehe z.B. dieses Seminar der letzten beiden Tage – die Leute waren einfach toll: interessiert, offen, viele gute Fragen. Ich habe mich gefragt, wie das kommt und denke, sie haben mit Euch gearbeitet und ihr habt einen Kontext hergestellt, in dem man gut lernen, neugierig und interessiert sein kann. Ich war es nicht so sehr, die diesen Prozess mit der Gruppe in Gang gebracht hat, es muss schon vorher einiges mit Teilen der Gruppe passiert sein. Ich vermute eher, dass Ihr vorher schon einiges getan haben müsst, als dass ich das eingeleitet hätte.
ST: Manchmal habe ich ein Problem mit Kollegen, die sagen, die Haltung oder Position des «Nicht-Wissens» sei arrogant – sei es, dass sie das Anliegen eines Klienten mit einem Experten zu sprechen, nicht ernst nehme oder dass der Therapeut sein Expertentum wie einen alten Schuh abgelegt hat und ihn nun an den Klienten weitergibt.
HA: Ich denke darüber mehr im Sinne eines «geteilten Expertentums», dass das Expertentum des Therapeuten, so wie ich es verstehe, mehr darin besteht, einen Raum zu schaffen, in dem beide Seiten lernen können.
Es ist eine andere Weise über Menschen und darüber zu denken, wie sie sich verändern – das betrifft sowohl Klienten als auch Therapeuten.
ST: ….sollte ein Raum für gemeinsame Selbstexploration geschaffen werden ?
HA: Harry hat vor einiger Zeit den Begriff der Ko-Autorschaft geprägt, dass Klient und Therapeut sich im Prozess einer Ko-Autorschaft befinden. Das primäre Anliegen gehört natürlich dem Klienten, weil er ja wegen «etwas» gekommen ist. Aber in diesem Prozess verändert sich der Therapeut auch.
ST: Ich habe zwei Fragen, die sich nicht aufeinander beziehen. Ich würde gerne wissen, welche Philosophie Eurem Ansatz zugrunde liegt und welches Menschenbild Ihr habt? Und die zweite Frage: Du hattest erwähnt, dass ihr über Eure Arbeit geforscht habt. Welche Art von Forschung war das und welche Methoden verwendet Ihr?
HA: Wir haben erstens innerhalb unseres Instituts, wie wir sagen, «informelle» Forschung betrieben, und zweitens gab es Studentinnen, die während ihres Graduiertenstudiums kleine Forschungsprojekte durchgeführt haben. Ein Student z.B. interessierte sich für die verschiedenen Sichtweisen von Therapeuten und Klienten bezüglich der Therapie: was sie jeweils als Problem des Klienten definierten, ob sie glaubten, dass die Therapie erfolgreich war und welche Erklärung sie für den Erfolg der Therapie hatten. Es stellte sich heraus, dass eine große Übereinstimmung zwischen Klienten, Familienmitgliedern und Therapeuten darüber herrschte, was das Problem des Klienten war und ob es positive Veränderungen bzw. eine Lösung für das Problem gegeben hatte oder nicht. Wenig Übereinstimmung bestand bei den Erklärungen für positive Veränderungen. Die Klienten schrieben die Veränderung meistens irgendwelchen Lebensumständen zu – irgendwelchen Ereignissen oder Alltagsgeschehnissen, die ihrer Meinung nach dazu geführt hatten, dass das Problem nicht länger ein Problem oder Ärgernis war. Die Therapeuten hingegen behaupteten, sie wüssten genau – manchmal sogar in welchem Moment in welcher Sitzung – was Bedeutsames in der Therapie geschehen war, das zu einer Lösung des Problems geführt hatte.
Ein anderes Forschungsprojekt wurde von einer Mitarbeiterin durchgeführt. Sie beschäftigte sich mit der Erfahrung afroamerikanischer Familien, denen im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens Familientherapie auferlegt worden war, die also nicht freiwillig kamen, sondern von den Gerichten geschickt wurden. Sie befragte diese Familien nach Beendigung der Therapie bezüglich ihrer Erfahrung: was sie glaubten, warum sie zur Familientherapie geschickt worden seien, ob die Therapie hilfreich gewesen sei etc. Die meisten berichteten, dass sie zuerst nicht kommen wollten, dass sie die Therapeuten als verlängerten Arm der Justiz angesehen hatten und sich nicht vorstellen konnten, dass die Therapeutinnen, die auch noch der «weißen Mittelklasse» angehörten, ihnen helfen könnten.
Im Verlauf der Therapie gewannen sie allerdings den Eindruck, dass die Therapeutinnen versuchten, ihnen zu helfen und sie zu verstehen. Sie fühlten sich respektiert und erlebten den anderen ethnischen und kulturellen Hintergrund der Therapeutinnen nicht als Problem. Das sind Beispiele für ethnographische und phänomenologische Untersuchungen.
Zur Zeit schreibt eine Mitarbeiterin ihre Erfahrungen aus einem Projekt über das Thema Gewalt in Familien nieder. Ihr Interesse galt den «Geschichten» von Frauen, die von sich sagten, dass sie misshandelt worden waren oder in Beziehungen lebten, in denen gewalttätige Auseinandersetzungen vorkamen. Sie interviewte 9 Frauen, deren Beschreibungen von ‚misshandelt werden‘ ein Spektrum von massiver physischer Gewalt bis hin zu verbaler Gewalt ohne handgreifliche Misshandlung umfassten. Die Interviewerin war von Anfang an mehr daran interessiert, von den Frauen selbst zu erfahren, was ‚misshandelt werden‘ für sie bedeutete, statt eine Definition vorzugeben und dann zu sehen, ob die Frauen in die Kategorie passten. Sie hatte allerdings einen Leitfaden für das Interview vorbereitet, der 12 Fragen enthielt, die den Frauen den Einstieg ins Gespräch erleichtern sollten. Nach kurzer Zeit verzichtete sie jedoch auf die Fragen und ließ sich statt dessen davon leiten, was die Frauen erzählten und was sie für wichtig hielten. Ihr Papier heißt: «Das Ungehörte hören», denn die Frauen befanden, dass ihnen bisher noch nie jemand wirklich zugehört bzw. sie angehört hatte – weder der Ehemann, noch der Therapeut oder der Seelsorger – und dass ihnen niemals die Gelegenheit gegeben worden war, ihre Geschichte zu erzählen. Unsere Mitarbeiterin hat einige wundervolle Interviews aufgezeichnet und beschreibt in ihrer Arbeit auch, wie sie die Methode im Laufe der Interviews verändert hat und wie stark sie selbst in diese Untersuchung einbezogen war als Mit-Beteiligte, und die Frauen gewissermaßen als Mit-Forscherinnen, die zeitweise die Führung übernahmen. Sie erzählte allerdings in einem Gespräch, wie schwierig es sei, sich aus der Rolle der Forscherin zu lösen, in der sie entscheidet, was sie aus den Interviews als wichtig herauszieht.
ST: Das ist dann eine qualitative Methode?
HA: Ja, absolut!
ST: Wählt ihr die qualitative Methode aufgrund Eurer Philosophie?
HA: Die Philosophie hat natürlich einen Einfluss auf die Wahl der Methode, aber man führt eine Untersuchung ja auch mit einer bestimmten Absicht durch – man hat ein besonderes Interesse und eine besondere Fragestellung. Bei bestimmten Fragen oder Untersuchungen geht man eher von einem qualitativen Standpunkt aus, bei anderen eher von einem quantitativen. Wenn man z.B. ein Frauenhaus für misshandelte Frauen einrichten will, braucht man bestimmte Informationen und Daten – z.B. Zahlen darüber, wie viele Frauen voraussichtlich das Haus nutzen werden etc.. Es kommt also darauf an, welche Information man haben will und aus welchem Grund und mit welchem Interesse man etwas untersucht. Die andere Frage über die Philosophie unserer Arbeit? Das ist schwierig! Hier in Deutschland mit all der philosophischen Tradition und dem philosophischen Erbe – ich bin da ganz bescheiden.
Als wir uns mehr für das Gebiet der Sprache zu interessieren begannen, beschäftigten wir uns zunächst mit den Ideen der Palo-Alto-Gruppe, dann mit den Vorstellungen Maturanas zu Sprache und gingen dann dazu über, Sprache besonders unter dem Aspekt der Bedeutungsentwicklung zu betrachten. Wir fühlten uns angezogen von den interpretativen Wissenschaften wie der Hermeneutik und auch von den Ideen eines Sozialen Konstruktionismus, wie sie Kenneth Gergen vertritt. Damit betonen wir den intersubjektiven Charakter der Bedeutungsentstehung im Gegensatz zu der Bedeutungsentstehung in den Köpfen der Leute.
ST: Habt Ihr ein besonderes Menschenbild?
HA: Nicht direkt – eigentlich haben wir ein ganz einfaches: Wir verstehen Menschen als Lebewesen, die in und durch Sprache leben. Das ist die menschliche Weise miteinander in der Welt zu sein. Wir entwickeln und gestalten unsere Identität in einem sich ständig vollziehenden Prozess. Wir sind in jeweils unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Personen. Wir haben «vielfältige Selbst-Identitäten», da wir uns dauernd verändern. Ich kann nicht sagen «das bin ich», sondern ich kann nur wissen, wer ich in einem bestimmten Moment bin, und wer in einem anderen. Unser Menschenbild besagt also, dass wir Menschen sind, die zu sich selbst und mit anderen reden und sich dabei verändern.
ST: Du hast erzählt, dass Du oft von Frauengruppen eingeladen wirst – meine Frage dazu: Was hältst Du für die neuen Entwicklungen in der feministischen Bewegung, wie beziehen sich Therapeutinnen darauf und wie stehst Du dazu? Ergeben sich dadurch Veränderungen für Deine Arbeit?
HA: Es gibt viele Diskussionen, Publikationen und Veranstaltungen zum Thema Frauen. Geschlechtsspezifik, Feminismus und feministische Therapie. Und es besteht Einigkeit darüber, dass die Familientherapie und die Psychotherapie überhaupt erst langsam beginnen, das aufzuholen, was außerhalb des Therapiefeldes im Bereich der feministischen Bewegung erarbeitet worden ist. Mich selbst interessiert das Thema sehr, aber ich bin auch gerade erst am Anfang, mich eingehender damit zu beschäftigen. Am liebsten würde ich ins Gespräch kommen mit Frauen, die darüber geforscht oder geschrieben haben. Und besonders interessiert mich Frauenliteratur, Frauenkunst und postmoderne feministische Philosophie.
ST: Gestern hatte jemand aus der Gruppe gesagt, dass er in der Art, wie Du arbeitest, viele Ähnlichkeiten zum klientenzentrierten Ansatz sieht. Kannst Du nochmal wiederholen, worin Deiner Meinung nach die Unterschiede und Ähnlichkeiten bestehen?
HA: Es gibt einige Ähnlichkeiten, z.B. den Klienten in den Mittelpunkt zu stellen und ihm eine respektvolle Haltung entgegenzubringen. Der Unterschied besteht darin, dass unser Verhältnis zu den Klienten stärker von Gegenseitigkeit geprägt ist, dass wir gemeinsam mit ihnen mehr über ihre Realität herauszufinden versuchen und uns gemeinsam mit ihnen entwickeln. «Klientenzentriert» ist auch ein Begriff, und es kommt darauf an, was damit gemeint ist. Ich habe vor kurzem an einem Workshop über die Arzt-Patient-Beziehung teilgenommen, in dem der klientenzentrierte Ansatz vorgestellt werden sollte. Das war völlig anders, als ich es mir vorgestellt hatte und sicherlich ganz anders als meine Arbeit.
ST: Du sagtest, dass das Entscheidende an einer Therapieform die Haltung der Therapeuten sei und dass Deine Haltung einschließt, dass Du etwas von den Klienten lernen möchtest. Du kennst ja die Artikel von Cecchin über Neugier – kannst Du uns die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu diesem Konzept schildern?
HA: Ich finde, dass seine Bezeichnung «Neugier» sehr gut passt, und ich sehe meine Haltung auch als eine neugierige an. Wir interessieren uns beide für die Geschichten der Klienten und möchten etwas über sie wissen und lernen, aber ich glaube, aus unterschiedlichen Gründen. Ich weiß nicht, ob Cecchin meine Einschätzung teilen wird. Ich selbst sehe diese «Neugier» als Ausgangspunkt, um dann überzugehen zu einem mehr gegenseitigen Lernen, zu einem Dialog zwischen Klienten und Therapeuten, das heißt: Ich interessiere mich dafür, was sie sagen und stelle Fragen, dann erzählen sie etwas, wodurch wieder neue Gedanken und Fragen bei mir oder ihnen entstehen usw.. Wir entwickeln das Gespräch also eher gemeinsam. Cecchin würde wahrscheinlich nicht mit meinen Ideen Über (inhaltliches) «Nicht-Expertentum» und über «Nicht-Wissen» übereinstimmen. Er sieht den Therapeuten als jemanden, der ein besonderes Expertentum hat und es auch nutzen sollte. Ein Teil dieses Expertentums besteht in dem Wissen über Menschen und ihr Leben, das heißt, der Therapeut hat ein Repertoire an Informationen und (Therapeuten-) Geschichten, die nützlich sein können für die Klienten.
ST: Du glaubst nicht, dass diese Geschichten für Dich wichtig sind?
HA: Mich interessiert mehr, wie und welche Geschichte der Klient erzählt, wenn wir versuchen, sie gemeinsam herauszufinden. Ich glaube, dass Cecchin davon ausgeht, dass es mehr oder weniger nützliche Geschichten gibt (wenn er das liest, kann er mich ja anrufen und mich korrigieren). Ich glaube, er hat einmal gesagt, dass es vielleicht 20 Geschichten über Menschen gibt, und dass Therapeuten Erfahrungen mit diesen Geschichten haben und diese Erfahrung auch nutzen sollten in der Arbeit mit Klienten. Ist das verständlich?
ST: Ich wüsste gerne, ob es für Dich z.B. nützlich ist, über allgemeine Probleme von Stieffamilien Bescheid zu wissen, oder ob Du das eher als hinderlich empfindest?
HA: Es kann beides sein. Mir wäre es nicht recht, wenn meine eigene Erfahrung mit oder allgemeine Ideen über Stieffamilien mir im Wege stehen würden und ich versuchen würde, etwas über diese eine besondere Stieffamilie zu erfahren. Oder wenn mich dieses allgemeine Wissen daran hindern würde, gemeinsam mit der Familie herauszufinden, was das Besondere und Einzigartige an ihnen und ihrer Situation ist. Das heißt nicht, dass ich der Familie meine Ideen über Stieffamilien nicht mitteilen würde. Ich würde allerdings nicht denken, dass meine Ideen besser oder nützlicher sind oder dass das, was in Untersuchungen über Stieffamilien herausgefunden wurde, in jedem Fall zuträfe. Ich kann meine Einfälle also einbringen und anbieten als Teil des Gesprächs. Die Familie wird meine Ideen vielleicht aufgreifen und weiter darüber reden wollen oder sie einfach ignorieren und im Gespräch fortfahren.
ST: Ist es nicht manchmal so, dass Du denkst, an diesem Punkt ist die Familie mit ihren Vorstellungen oder Vorurteilen ganz schon festgefahren?
HA: Eigentlich denke ich nicht in solchen Kategorien. Bel der Familie heute z.B., hat mich am meisten beschäftigt, was sie erzählten und dass es viel Schmerz und wenig Freude und Trost in der Familie gibt. Sie haben alle mit anderen Worten gesagt, dass es außerhalb der Familie besser ist. Wenn ich also gewissermaßen eingetaucht und versunken bin in das, was sie erzählen, habe ich gar keinen Platz mehr in meinem Kopf für solche Gedanken. Allerdings habe ich durchaus wahrgenommen, dass am Anfang eine Schwere in der Gesprächsatmosphäre vorhanden war, eine Art Traurigkeit und Angespanntheit. Später merkte ich dann, wie sich diese Spannung aufzulösen schien. Z.B. begann die Frau, ihren Mann anzusehen, wenn er etwas sagte und überhaupt schien es so, als fingen die Familienmitglieder an, sich mehr für das zu interessieren, was die anderen sagten. Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob das, was der Therapeut machte, nützlich war oder nicht, oder ob er etwas anderes machen sollte. Solche Gedanken hatte ich einfach nicht.
ST: Würdest Du gerne ein Vorbild oder Modell für die Familien sein und sie lehren, voneinander zu lernen?
HA: Ich nehme an, dass meine Art, mich zu verhalten oder zu sprechen als Vorbild wirkt oder als Vorbild angesehen wird. Das ist aber nicht unbedingt meine Absicht. Mir geht es darum, dass mich die Klienten als jemanden erleben, die an ihnen interessiert ist und sie respektiert, dass sie durch meine Haltung ein Gefühl von Wert und Bestätigung erfahren. Das möchte ich gerne vermitteln. Modell? Weiß ich nicht so genau.
ST: Vielleicht ein Modell für respektvollen Umgang miteinander?
HA: Das könnte vielleicht passieren, dass die Familie mich als Vorbild sieht, das ist aber nicht meine Absicht. Wenn ich an die Familie von gestern denke, so könnte die Art, wie wir miteinander gesprochen haben, wie für Gespräche Raum geschaffen wurde, etwas sein, was die Familie sonst nicht tun. Das ist eine interessante Frage.
S.T: Ich habe in der letzten Zeit in einigen Feldern der Systemischen Therapie die Rückwendung von Therapeuten zur Vergangenheit der Klienten beobachtet. Welche Bedeutung hat für Dich die Vergangenheit, die Geschichte von Familien und Klienten.
HA: Ich denke nicht in den Begriffen «Geschichte/Nicht-Geschichte» als eine wichtige Unterscheidung. Wenn ein Teil der Erzählung eines Klienten mit «Geschichte» zu tun hat oder «geschichtlich» ist, möchte ich das kennenlernen. Wenn der Klient etwas sagt, das vorher passierte, bin ich darauf neugierig und ich stelle diesbezügliche Fragen. Aber nicht in dem Sinne, dass Geschichte wichtig für das Stück Arbeit wäre, das wir miteinander machen, oder wichtig wäre, für das Gespräch, das wir miteinander führen. Und wenn ich einen Klienten habe, der denkt, dass seine Probleme mit etwas aus seiner Kindheit zusammenhängt, dann bin ich sehr daran interessiert, darüber mehr zu erfahren und darüber zu sprechen.
ST: Mich beschäftigt die Frage, das Bild oder das Phänomen «chronisch» – chronisch krank in der Psychiatrie» oder «chronisch krank im gesamten psychosozialen Feld». Glaubst Du mit Deiner Art der Therapie, dem Phänomen «chronisch» etwas besser zu Leibe rücken zu können?
HA: Wir haben mit einer Reihe sehr schwieriger Klienten zusammengearbeitet – mit jungen wie mit älteren «Schizophrenen». Harry hat eine Reihe von Interviews gemacht, die wir aufgenommen haben und die wirklich toll sind. Am Anfang des Interviews spricht die Person wirklich so, als sei sie verrückt oder sie wirkt kataton, immobilisiert – dies ist eine Art die Sache zu beschreiben. Am Ende des Interviews spricht diese Person wie alle anderen im Raum. Das ist verblüffend zu beobachten, wie sich das entwickelt. Wenn man das Interview nicht mit vorgefassten Ideen führt über eine Erkrankung oder darüber, wie die Familie die Krankheit verursacht hat und die sogenannte schizophrene Person gleichermaßen ins Gespräch einbezieht, indem man sie nach ihren Ideen und Meinungen fragt, z.B. «wo waren sie, als dies oder jenes passierte?», dann wird das ganze Gespräch innerhalb der Sitzung flüssiger.
Ich weiß nicht so genau – ich denke mehr in «inneren» versus «äußeren Gesprächen». Es gibt Leute, diejenigen, die wir vielleicht «psychotisch» nennen, die mehr «monologisierende innere Gespräche» führen und die sich dann ständig wiederholen. Es fehlt die Frische neuer Ideen oder neuer Bestandteile des Gesprächs. Ich weiß nicht, was diese Frische im konkreten Fall bedeuten würde – vielleicht mit anderen als denjenigen Personen zusammenzuleben, die aufhören oder weniger mit einem sprechen, wenn man «verrückte Ideen» äußert, Personen, die vielleicht konkreter werden…
ST: Ich habe ein Problem, das vielleicht zusammenhängt mit dem klinischen stationären Setting, in dem ich arbeite. Zu uns kommen oft Familien, die eine sehr starre, festgelegte Vorstellung von Krankheit haben. Z.B. sind die Eltern fest davon überzeugt, dass das Kind keine Verantwortung für den Ursprung des Problems und auch nicht für die Lösung des Problems hat. Die Auffassungen von Therapeuten und Familie sind also sehr unterschiedlich. Wenn ein Familienmitglied stationär aufgenommen werden soll, bleibt meistens nicht viel Zeit, darüber zu diskutieren und zu einer Übereinstimmung zu kommen. Trotzdem sprechen wir mit der Familie, in der Hoffnung, ihre Sichtweise verändern zu können.
H A.: Ihre Sichtweise bezüglich der Ärzte und ihrer Rolle?
ST: Ja, über unsere Verantwortung und ihre Verantwortung. Darüber, wer die Verantwortung für das Kind und für die Lösung des Problems trägt. Es kann sehr schwierig sein, zu einer Einigung zu kommen.
HA: Ich würde darüber, glaube ich, nicht mit den Klienten diskutieren bzw. nicht versuchen, sie zu überzeugen. Ich würde eher vom ersten Kontakt an durch mein Verhalten signalisieren, dass ich an ihnen und an ihrer Erfahrung Interessiert bin. Wenn mich beispielsweise eine Mutter anruft und sagt «mein 16-jähriger Sohn macht eine Menge Probleme, und die Schule hat angedroht, ihn ‚rauszuwerfen‘, wenn wir nichts unternehmen. Kann er zu Ihnen kommen?», wurde ich mir Zeit nehmen und fragen «Erzählen Sie ein bisschen mehr darüber, was das für Sachen sind, die Ihr Sohn macht. Ist das nur ein Problem der Schule oder auch zuhause? Leben Sie alleine mit Ihrem Sohn, oder wer lebt noch in der Familie?» So würde ich schon am Telefon etwas mehr über die Klienten und ihr Anliegen erfahren. Und je nachdem, was die Mutter erzählt, könnte ich den Vorschlag machen, zuerst mit ihr und ihrem Mann zu sprechen, damit sie mir helfen könnten, besser zu verstehen, worum es geht. Vielleicht wäre die Mutter einverstanden, vielleicht würde sie aber auch sagen, dass der Sohn alleine kommen solle. Ich würde das akzeptieren, ihr aber sagen, dass ich möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt nochmal mit Ihr reden wolle. Also: Von Anfang an werden alle Entscheidungen besprochen und verhandelt. Wenn Eltern wollen, dass ich ihr Kind ins Krankenhaus bringe, würde ich mich sehr dafür interessieren, was sie zu dieser Entscheidung veranlasst hat. Ich glaube, es ist wichtig, gleich zu Beginn eine solche Haltung einzunehmen. Noch etwas anderes, was Du angesprochen hast, finde ich wichtig: Heutzutage kommen relativ viele Leute zu uns, die bereits Erfahrungen mit Therapie gemacht haben. Sie sind sozialisiert im medizinischen Modell und haben viel Übung damit. Sie suchen den Experten und erwarten eine Expertenmeinung.
ST: Ja, sie sagen dann: «Wir waren schon bei zwei Ärzten, und die haben gesagt, dass unsere Tochter eine Borderline-Störung hat und sie nicht dafür verantwortlich ist, was sie tut.» Wenn Eltern so fixiert sind auf ihre Vorstellung, dann finde ich es sehr schwierig…
HA: Selbst wenn Du denkst, dass es sich um eine fixe Idee oder eine sehr feste Vorstellung handelt und Du versuchen willst, sie etwas zu lockern, dann besteht die Möglichkeit, neugierig bezüglich eben dieser Idee zu sein. Das könnte der Anfang eines Gesprächs sein: «Zwei Ärzte haben Ihnen gesagt. dass sie eine Borderline-Störung hat und nichts dafür kann. Und dass es immer so bleiben wird. Darüber wurde ich gerne mehr wissen…» oder «das muss ja ziemlich frustrierend und verwirrend für Sie sein und macht Sie wahrscheinlich sehr ärgerlich…». Ich würde also versuchen, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen, z.B.: «Sie ist doch gerade erst elf: Haben die Ärzte etwas darüber gesagt, wie es sein wird, wenn sie dreißig ist?» Es gibt viele Möglichkeiten, über die Überzeugungen der Familie zu reden.
ST: Mir kam gerade ein Gedanke: Vielleicht haben wir viel zu feste Vorstellungen über feste Vorstellungen. Eigentlich kann ich in solchen Aufnahmesituationen ganz gut mit meinem Ärger umgehen, aber die Mitarbeiter und das Pflegepersonal nicht. Und ich muss dann mit deren Ärger umgehen.
HA: Vielleicht kann man sich das so vorstellen: Die verschiedenen Definitionen und Auffassungen, die sich um ein bestimmtes Problem gruppieren, repräsentieren gewissermaßen Teile davon. Daher ist es notwendig, verschiedene Gespräche mit verschiedenen Personen zu führen – manchmal gleichzeitig, manchmal hintereinander; Gespräche auf ganz verschiedenen Ebenen, z.B. mit Kollegen, mit Supervisoren, mit den Familienmitgliedern. Am Anfang braucht man natürlich mehr Zeit, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt und man langfristig weniger Arbeit hat und weniger Zeit braucht.
ST: Ich habe noch eine sehr einfache und pragmatische Frage: In welchen Settings arbeitet Ihr? Ich weiß, dass es am Houston-Galveston-lnstitute ein Team gibt. Arbeitet Ihr im Team zusammen oder alleine? Oder wie nutzt Ihr das Team?
HA: Normalerweise arbeiten wir alleine, das heißt, wir sehen die Familien alleine. Allerdings ist unsere Arbeit immer offen und zugänglich für Kolleginnen oder Studentinnen, die zugucken wollen. Alle Räume sind mit Video und Einwegscheibe ausgestattet, so dass dies möglich ist. Wir verstehen «Team» weniger im Sinne von Organisation: «Wir treffen uns dienstags und arbeiten zusammen», sondern vielmehr als Konzept. Das heißt, unsere Arbeit ist offen und öffentlich, wir reden darüber und tauschen uns darüber aus. In der Ausbildung nutzen wir das Team sehr intensiv. Ich halte Teams in der Ausbildung für sehr wichtig, damit die Therapeuten lernen, zusammenzuarbeiten und damit sie die klinische Arbeit aus verschiedenen Perspektiven erleben können: als einzige Therapeutin im Therapieraum, mit einer Kollegin im Therapieraum, als Therapeut hinter der Scheibe, als Therapeut, der einen Fall vorstellt, als Therapeutin, die Ideen zu einem Fall einbringt etc.. Teams ermöglichen diese Vielfalt und den Reichtum an Erfahrung. Gelegentlich arbeiten wir auch einfach so zusammen. Harry und ich haben das sehr gerne getan. Wenn er z.B. Zeit hatte, kam er als «besuchender Therapeut» mit zu einem meiner Fälle, oder wenn ich Zeit hatte, habe ich mich bei ihm mit dazugesetzt. Manchmal frage ich auch Kollegen oder Studenten, ob sie Lust haben, sich hinter die Scheibe zu setzen und zuzusehen – z.B. wenn ich einen besonders interessanten Fall habe oder sehr müde bin. Team heißt bei uns also mehr die Offenheit der Arbeit und nicht Team als feste Gruppe. Das Team und die Zusammenarbeit formiert sich um besondere Aufgaben und Anliegen herum. Leute, die eine einjährige Ausbildung an unserem Institut machen, verbringen von Anfang an bestimmte Tage in der Woche mit den verschiedenen Mitarbeitern. Sie sitzen hinter der Scheibe und beobachten die Therapie oder sie sitzen mit im Therapieraum. Wir machen das, damit sie uns und unsere Art zu arbeiten kennenlernen können, damit sie Ähnlichkeiten und Unterschiede unserer Arbeit erleben. Obwohl wir die gleichen grundlegenden Vorstellungen über Therapie haben, gehen wir doch verschieden vor und jeder bringt seine Persönlichkeit in die Arbeit ein. Es ist uns wichtig, dass die Trainees uns nicht für eine Gruppe von Expertinnen halten, die alle das Gleiche tun und denen sie nacheifern müssten. Wir wollen, dass sie ihren eigenen Stil entwickeln und nutzen. Im nächsten Schritt fangen Trainees und Mitarbeiterinnen an, die Falle gemeinsam zu sehen.
Wir wollen, dass die beiden Therapeutinnen ihre eigenen, unterschiedlichen Ideen und Einfälle aufrechterhalten und sich in oder außerhalb des Therapieraumes darüber austauschen können. Die neuen Therapeutinnen werden also gewissermaßen an die Hand genommen und so in die Arbeit eingeführt. Später haben sie dann meist ihre eigenen Fälle und arbeiten ab und zu mit anderen Trainees oder Mitarbeiterinnen zusammen. Neulich war eine Therapeutin aus Australien für zwei Tage zu Besuch und begleitete mich während dieser Zeit bei allen meinen Therapien. Ich sagte meinen Klientinnen, dass sie zu Besuch sei, um unsere Arbeit kennenzulernen und fragte, ob es o k. sei, dass sie dabei bleibe. Alle Klientinnen waren einverstanden. Ich leitete dann die Sitzungen damit ein, dass ich der Besucherin etwas über die Klientinnen erzählte – in Anwesenheit der Klientinnen. Dann fuhr ich mit der Therapie fort wie gewöhnlich und wendete mich ab und zu an sie und fragte: «Sie haben gehört, worüber wir gesprochen haben. Haben Sie Gedanken oder Fragen, die Sie gerne dazu äußern möchten?» Ich versuche also, die Besucherinnen soweit wie möglich mit einzubeziehen, so ähnlich, wie ich es hier mit Euch mache.
ST: Was wäre eine gute letzte Frage oder ein guter letzter Kommentar?
HA: Harry würde jetzt sagen: «It’s time for a beer».
ST: Vielen Dank für das Gespräch!
(Übersetzung des Interviews: Christine Opper, Bremen und Klaus G. Deissler, Marburg).