Harald Welzer, 48, Gedächtnis- und Erinnerungsforscher am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, beleuchtet in einem TAZ-Interview die„Grass-Affäre“ aus der Perspektive seiner Untersuchungen über die Erinnerungen an die NS-Zeit („Opa war kein Nazi„) und wirft ihm mal was ganz anderes vor als die sonst gerne genannten moralischen Defizite, nämlich sein„leeren Sprechen“ über die Seiten der dunklen Vergangenheit, in die er selbst als Akteur verstrickt war. Zitate:
„Es werden, wie bei Grass, wie wir in unseren Studien zu deutschen Familienüberlieferungen der Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus gefunden haben, fast nie Details geliefert, wenn es um Einheiten, Orte und Einsätze geht. Es werden aber in der Regel auch keine erfragt. Und mit gutem Grund dringt man in solchen Momenten nicht weiter in die Zeitzeugen, würden einem Details über Ort und Art der Einsätze doch vielleicht das Bild vom guten Großvater oder aufrechten Großschriftsteller etwas zerknittern.
„Den Modus, der dieses generationelle Einverständnis garantiert, haben wir in unserer Untersuchung über das deutsche Familiengedächtnis ‚leeres Sprechen‘ genannt: Man sagt vage ‚das da mit den Juden‘ oder ‚was sie da gemacht haben‘ und vermeidet es tunlichst, Akteure, Ereignisse und Zusammenhänge konkret zu benennen. ‚Sie‘, ‚die‘, ‚das da‘ und ‚man‘ – solche nebulösen Benennungen machen es dem Zuhörer möglich, die Leerstelle genau mit jenem Sinn aufzufüllen, der seinem eigenen Bedürfnis entspricht. Orte, Zeiten, Personen werden im Modus des leeren Sprechens nicht genannt, und doch glaubt man, etwas über die Vergangenheit des Erzählers zu erfahren. Das mag ein Grund sein, weshalb keiner der vielen Leser der Vorabexemplare von Grass‘ Zwiebelbiografie bemerkt hatte, dass hier sein Outing schon vorkam – als eigentümlich leere Formulierung, ‚wie mir auch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist’“
„Was die Angehörigen dieser Generation nie begriffen haben, ist, dass sie Teil eines gegenmenschlichen Projekts waren, das es ohne ihre Teilhabe nicht gegeben hätte. Das erinnerungspolitische Zauberkunststück, sich permanent aus jenem Zusammenhang herauszudefinieren, den man zugleich ’niemals zu vergessen‘ behauptet, beherrschen sie mit solcher Sicherheit, dass die Frage, warum sich ganz normale Deutsche mehrheitlich in erstaunlich kurzer Zeit für die Unmenschlichkeit entschieden haben, bis heute unbeantwortet geblieben ist“
„Das ist das Erbe der nationalsozialistischen Zeit: Eine Distanzlosigkeit sich selbst gegenüber, die eine Anerkennung dessen, was anderen angetan wurde, über bloße Bekenntnisrhetorik hinaus nie im Sinn und, vor allem, nie im Gefühl gehabt hat. Ein Habitus des Immer-recht-Habens, der Larmoyanz, der vollständigen Unfähigkeit zur Ambivalenz, frei von jeder Selbstironie. Totalitäre Systeme sind solche, in denen die größte Gewissheit darüber besteht, was richtig und was falsch ist. Wer in einer Gewissheitswelt groß geworden ist, scheut Ambivalenzen wie der Teufel das Weihwasser.
Noch die Welt der 68er war völlig binär gewirkt und darin dem Nationalsozialismus viel näher, als sie selbst wahrhaben mochte. Der Fall Grass markiert nur den Abgesang einer Generation, die sich immer ganz sicher war und einem damit schon immer auf die Nerven ging“
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Harald Welzer über Günter Grass u.a.
6. September 2006 | Keine Kommentare