Die Mehrzahl aller chronisch kranken Menschen wird von den eigenen Angehörigen betreut. Für mich ist es immer wieder ein Wunder, zu erleben, mit wie viel Energie und Einfühlsamkeit diese Arbeit getan wird. Vorwiegend von Frauen natürlich! Von Töchtern für ihre Eltern, von Frauen für ihre Partner oder ihre chronisch kranken Kinder. Brüder sind für den Einsatz am elterlichen Krankenbett meist unabkömmlich, und ich kann Schwestern ihre Bitterkeit nachfühlen, wenn die Brüder erst zur Verteilung des Erbes anrücken.
Die eigene Familie und Berufstätigkeit kommen oft zur chronischen Überlastung hinzu. Und weil die Krankheitsverläufe in den meisten Fällen unvorhersehbar sind, wissen die Angehörigen nie, wie viel sie sich selber zumuten können und ab welchem Punkt sie ihre eigene Gesundheit gefährden. Ein schwieriger Balanceakt zwischen engagierter Präsenz und absoluter Verzweiflung! Für mich waren die Krankheit und das Sterben meiner Eltern ein solcher Balanceakt, an den ich mich mit zwiespältigen Gefühlen erinnere: Mit Dankbarkeit, dass ich Mutter und Vater begleiten und ihnen in einer zarten Weise neu begegnen konnte. Mit Zorn, dass sie so schwer von der Erde mussten. Es war ein Jahr tiefster Erschöpfung, während das Leben anderswo stattfand. Zum Glück blieben mein Partner und die Kinder auf ihre eigene Weise emotional präsent.
Aber Empathie für Familien in dieser Lage ist mir geblieben. Ich arbeite bei ihrer Beratung gerne mit Ärztinnen und Ärzten zusammen, die ein Gespür für familienzentrierte Medizin haben. Und die über die technische Hilfestellung hinaus auch das Krankheitsverständnis und alltägliche Bewältigungsmöglichkeiten von Kranken und ihren Bezugspersonen kennen. Dass das nicht selbstverständlich ist, habe ich bei der Beratung eines älteren Paares dieser Tage erlebt. Annegret leidet an einer behindernden, schmerzhaften Polyarthritis mit Versteifung von Hand- und Kniegelenken, Heinrich ist gelernter Automechaniker und noch berufstätig. «Wenn Sie versprechen, dem Rheumatologen nichts davon zu sagen, erzähle ich es», beantwortet Annegret meine Frage nach Dingen, die ihre Lebensqualität verbessern. Es sei das Hafermus, das Heinrich ihr jeden Morgen koche und ans Bett bringe. Er hat nämlich die Idee, dass Arthritis mit zu viel Säure zu tun habe, welche durch den Hafer gebunden werde. Ist objektiv vermutlich Quatsch. Aber subjektiv wunderbar! «Das ist es, was ich jetzt brauche, mehr als die Spritzen des Rheumatologen. Aber sagen Sie es dem Doktor nicht. Er wäre beleidigt, und vielleicht brauche ich ihn ja wieder einmal.».
Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.
Hafermus als Balsam
21. August 2011 | Keine Kommentare