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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Geschichten im Sand

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Wiltrud Brächter

Wiltrud Brächter (2010) Geschichten im Sand

Am 6. September 2010 stellte ich im systemagazin einen Vorabdruck des Buches „Geschichten im Sand“ von Wiltrud Brächter vor, in dem sie ihre spieltherapeutische Arbeit mit Kindern darlegt. Dazu schrieb ich damals: „Als Dozent und Supervisor hatte ich lange Jahre das Vergnügen, Wiltrud Brächter bei der Entwicklung ihres kongenialen Konzeptes einer systemischen Spieltherapie begleiten zu dürfen. Ihre Arbeit zeichnet sich nicht nur durch eine gründliche theoretische Fundierung, sondern auch durch eine außerordentliche Phantasie und ihre phänomenale Fähigkeit aus, sich voll und ganz – eben spielerisch – auf die Welt der Kinder einzulassen, deren ,Geschichten im Sand’ sie behutsam zur Entfaltung verhilft. Das kann ich hier nur wiederholen. Sie schreibt selbst: „Spieltherapie trägt schon im Namen eine Sicht von Veränderungsprozessen, die der Arbeitsmetapher entgegengesetzt ist. Therapie als »Spiel« zu konzeptualisieren widerspricht gängigen Annahmen unserer Gegenwartskultur. In der Erwachsenenwelt gilt Spiel als (unproduktive) Freizeitbeschäftigung; auch der »Spiel-Raum« vieler Kinder wird zunehmend durch Aktivitäten beschnitten, die Fähigkeiten vermeintlich zielgerichteter fördern sollen. Neurobiologische Forschungen unterstützen dagegen einen spielerischen Weg zur Veränderung. Entwicklungsprozesse gelingen am leichtesten in einer »mood for development«. Systemische Therapie spielt bereits aufgrund ihres konstruktivistischen Hintergrunds mit unterschiedlichen Sichtweisen von Realität. Spiel bietet Kindern ähnliche Möglichkeiten: Beim »Tun als ob« nehmen Kinder eine gewünschte Realität vorweg, experimentieren mit Lösungsideen, ergreifen probeweise die Position anderer Personen und erfahren Zirkularität. Als Konstruktion von Wirklichkeit ist Spiel immer auch ein Spiel mit Möglichkeiten” (S. 232f.). Ein wunderbares Buch! Peter P. Allemann aus der Schweiz hat es gelesen und empfiehlt es ebenfalls wärmstens!

Peter P. Allemann, Bülach (Schweiz):

Treten Sie ein: Wiltrud Brächter öffnet ihre Praxistür. Eine Weile dürfen wir zuschauen, wie Wiltrud Brächter Kinder und Familien anregt, ihre Sorgen und Nöte im Spiel auszudrücken, Bilder im Sand zu stellen und die Geschichten weiter zu erzählen.

So sehen wir zum Beispiel zwei Kinder, Geschwister, zuhause oft in Streitereien verwickelt. Mit Figuren stellen sie in zwei eigenen Bildern ihre Sicht ihrer Familie auf. Ihr Befinden, ihre Rollen und das Konflikthafte werden in den Sandbildern bald sichtbar und spürbar. Unterschiede werden klar.

Brächter leitet nun die Kinder an, neue Sandbilder zu entwerfen. Wunschbilder entstehen, Klagen werden zu Wünschen, im Sandbild gleich umgesetzt. Die Kinder entdecken Möglichkeiten, ihre Beziehungswünsche konstruktiv zu gestalten.

In Brächter’s Verständnis narrativer Therapie externalisieren Kinder ihre Themen und Konflikte.

In der Spielwelt probieren die Kinder Möglichkeiten aus, ihren Alltag besser bewältigen zu können. Selbstwirksamkeit wird angesprochen und gestärkt.

Wiederum dürfen wir in das Therapiezimmer von Brächter gucken.

Atembetäubender Lärm dringt an unsere Ohren. Ein Rhinozeros kämpft gegen einen Wal. Das Rhinozeros – vom Seeigel um Hilfe gerufen – will seinen Freund schützen. Es verteidigt den Platz des Seeigels, der wie der Wal weiterhin im Meer leben will.

Der Junge führt Regie.

Seeigel und Wal verstehen sich einfach nicht.

Der achtjährige Junge weiß, dass der Seeigel gar nicht sprechen kann. Wie denn soll er sich dem Wal gegenüber erklären?

Das Rhinozeros bekommt eine Aufgabe: Es soll sich dafür einsetzen, im Meer eine Ordnung zu schaffen, in der alle Meeresbewohner die Möglichkeit haben, einen eigenen Wohn- und Entfaltungsraum zu finden.

Das Rhinozeros ist nun auch als innerer Teil (Ego-State) mehr ins Bewusstsein des Jungen eingetreten. Im anschließenden Familiengespräch kann der Junge gegenüber den Eltern ausdrücken, was er selber an Entfaltungsraum braucht, um sich im Familienmeer wohler zu fühlen. Nicht nur das; die Spielerfahrung und die Rolle des Rhinozeros geben der Familie neue Zugangsmöglichkeiten, Bedürfnisse auszuhandeln, statt sich zu bekämpfen.

Das Spiel des Kindes steht nicht in einem von der Realität losgelösten Raum. Brächter übersetzt und regt an, die in den Spielszenen entstandenen Möglichkeiten im Beziehungsraum aufzunehmen.

Wenn Kinder spielen, stellen sie nicht nur Konflikte dar. Kinder haben ein ursprüngliches Drängen, zu wachsen und Schwierigkeiten zu überwinden.

Brächter führt das Kind feinfühlig zum Entdecken neuer Möglichkeiten und stellt sich neben das Kind, wenn es darum geht, die im Spiel geschaffenen Erfahrungsbilder für das reale Leben in der Familie, in der Schule, in der Freizeit usw. zu übersetzen.

Brächter lädt ein zu Dialog.

Spiel ist Einladung die Welt zu erkunden, andere Menschen, andersartige Menschen, Tiere, Pflanzen, Schwierigkeiten, Rückschritte und Fortschritte kennen zu lernen.

Brächter zeigt, wie sie in unterschiedlichen Rollen und Aufgaben dem Kind ein Gegenüber ist, das hilfreich zur Verfügung steht die Welt zu entdecken.

In anderen Situationen verkörpert sie die Realität eines anderen Lebewesens, mit seinen ganz eigenen Ansprüchen, über die man nicht einfach hinweggehen kann. Emotionale und soziale Kompetenzen werden im Spiel eingeübt.

Brächter’s narrativer Ansatz ist – wie Moreno’s Psychodrama – Einladung zur Begegnung. Brächter vertraut darauf, dass das Kind seine Geschichten am besten erzählen kann, wenn es in ihnen handelt, als ängstlicher Igel, als mutiger Tiger, als verletztes Pferd.

Sie weiss jedoch auch, dass das verletzte Pferd jemanden kennen lernen muss, der weiss, wo es heilende Kräuter gibt.

Systemisch-lösungsgestaltende Therapie mit Kindern kann ich mir gar nicht anders vorstellen, als dass Kinder die Möglichkeit haben, sich im Spiel auszudrücken. Kinder sind Meister im systemischen Gestalten und Verstehen. Ihre (Spiel-) Welt ist eine Welt in Zusammenhängen, in der das eine Tun auf das Tun des anderen wirkt und umgekehrt.

Brächter zeigt eindrücklich, wie sie es über die Angebote verschiedener Medien wie Sand, Handpuppen, zeichnen, Rollenspiele schafft, den Kindern Gelegenheit zu geben ihre Problemgeschichten spielend zu erzählen, die Geschichten weiterzuspielen und wo nötig umzugestalten.

Brächter zeigt auch, wie sie mit ganzen Familien Sandbilder entwirft, und wie sie mit den Eltern arbeitet, um sich von den Lösungsbildern, die im Spiel entstanden sind anregen zu lassen.

Immer wieder erklärt sie auch, was sie tut und was sie bewirken will. Die Reflexionen und fachlichen Orientierungen unterbrechen den Lesefluss. Das habe ich an einigen Stellen bedauert. Andererseits geben sie dem Kinder- und Familientherapeuten auch ein Rüstzeug in die Hand, fachlich zu argumentieren, was wir dann tun, wenn wir in den Sitzungen mitspielen.

Das Buch ist gut strukturiert. Nach jedem Kapitel werden die wichtigsten Punkte zusammengefasst.

Im 1. Teil stellt Brächter den Kontext ihres narrativen Ansatzes zu anderen Therapieansätzen vor.

Im 2. Teil zeigt sie praktische Möglichkeiten, wie mit verschiedenen Medien (Sand, Rollenspiel u.a.) gearbeitet werden kann, und welche therapeutischen Interventionen sie einsetzt, um Wachstum und Entwicklung zu ermöglichen. Sie gibt Anregungen zur Arbeit mit dem Kind alleine, stellt Beispiele von Geschwistersitzungen zur Verfügung und zeigt Möglichkeiten auf, mit Familien oder Kindergruppen zu arbeiten.

Im 3. Teil stellt sie ihren Ansatz in der Anwendung bei konkreten Themen wie z.B. bei Misshandlung und Gewalt, bei traumatischem Erleben, bei depressiver Symptomatik oder bei ADHS-Beschreibungen vor.

Brächter zeigt, dass spielen wohl leicht geschehen kann, dass die Therapeutin, der Therapeut jedoch viel reflektieren muss, um sich die Regieanweisungen so zu geben, dass das Spiel im Dienste der Entwicklung der Kinder, der Familien steht.

Im deutschsprachigen Raum kenne ich bisher nur Alfons Aichinger aus Ulm, der mit seinem Kinderpsychodrama meisterlich zeigt, was in der Kinder- und Familientherapie möglich wird, wenn das Spiel als Königsweg der Kinder seinen Platz in der Therapie bekommt.

Brächter’s Buch gesellt sich nun dazu.

links

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort und Einleitung

Kapitel 9: Beispiele aus verschiedenen Anwendungsbereichen

info

 

Wiltrud Brächter: Geschichten im Sand. Grundlagen und Praxis einer narrativen systemischen Spieltherapie

Mit einem Vorwort von Wilhelm Rotthaus

Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2010
245 Seiten, 37 Abb., Kt.

Preis: 27,95 €
ISBN 978-3-89670-744-4

Verlagsinformation

„Oft wissen die Hände ein Geheimnis zu enträtseln, an dem der Verstand sich vergebens mühte“ (C. G. Jung). Diese Verbindung zwischen Unterbewusstem und Gestaltungswillen macht sich die Sandspieltherapie zunutze, bei der Kinder in Sandkästen Szenen gestalten, deren Themen rein sprachlich nicht zu fassen sind. Wiltrud Brächter verbindet die klassische Sandspieltherapie mit narrativen Konzepten und entwickelt so eine neue Form der Kindertherapie: eine narrative systemische Spieltherapie, die sich an den Geschichten von Kindern orientiert und mit ihnen arbeitet. Neben den Grundlagen und Hintergründen stellt die Autorin verschiedene Techniken vor, darunter Rollenspiele, die Arbeit mit Handpuppen und kreative Methoden, die sie jeweils mit zahlreichen Fallbeispielen illustriert. Der ausführliche dritte Teil zeigt für unterschiedliche Praxisfelder auf, wie Kinder die Möglichkeiten narrativer Therapie nutzen. Hier werden die Vorteile des Ansatzes sehr deutlich, weil klar wird, wie Eltern Zugang zu der Sicht des Kindes gewinnen und in der Familie eine intensive Kommunikation entstehen kann.

Über die Autorin: 

Wiltrud Brächter, Studium der Sozialwissenschaften und Pädagogik; Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Systemische Therapeutin (SG). Weiterbildbildungen u. a.: Gestalttherapeutische Arbeit mit Kindern (Analytisches Gestalt Institut, Bonn); Psychoanalytisch-systemische Therapie (APF, Köln); Hypnotherapeutische und Systemische Konzepte für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (MEG). Langjährige Arbeit in autonomen Frauenhäusern mit Frauen und Kindern nach häuslicher Gewalt; Mitgründung des zweiten Kölner Frauenhauses; Schwangerschaftsberatung zu pränataler Diagnostik im Kölner Geburtshaus; Tätigkeit in einer Frauenberatungsstelle. Seit 2000 Spiel- und Familientherapeutin in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis; Veröffentlichungen und Weiterbildungstätigkeit im Bereich systemischer Kindertherapie. Schwerpunkte: Konzeptionelle Fragen zur Entwicklung einer systemischen Spieltherapie; lösungsorientierte und familienbezogene Anwendungsformen des Sandspiels; Entwickung eines eigenen therapeutischen Ansatzes (narrative Spieltherapie).

Ein Kommentar

  1. […] im Sand’ sie behutsam zur Entfaltung verhilft. Im Carl-Auer-Verlag hat sie darüber ein wunderbares Buch […]

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