Wie schon bei der Vorstellung der aktuellen Ausgabe von systhema erwähnt, ist Gesa Jürgens, Mitbegründerin des Instituts für Familientherapie Weinheim, am 3. Mai gestorben. Mit freundlicher Genehmigung der systhema erscheint an dieser Stelle der Nachruf von Cornelia Hennecke und dem Teams des IFW, der einige Stimmen zum Abschied versammelt hat. In der nächsten Ausgabe von systhema soll noch ausführlicher auf Gesa Jürgens eingegangen werden.
Hier der Text des Nachrufes:
Uns erreichte im Institut am 4. Mai die traurige Nachricht, dass am 3.5.2022 unser frühere Kollegin Gesa Jürgens verstorben ist.
Gesa gehörte mit zur Gründergeneration des IF Weinheim und hat zwischen 1975 und 2008 mit ihrem Wissen als Familientherapeutin und Dozentin, ihrem unverwechselbaren Gespür für heilsame Prozesse und großem Vertrauen in Menschen und die Kraft der Begegnung wesentliche Grundlagen unserer Weiterbildungen und der ‚Weinheimer Didaktik‘ mit etabliert und dabei hunderte Teilnehmer*innen in ihrer Entwicklung begleitet.
Ihrem Psychologiestudium folgten erste Jahre eigener therapeutischer Praxis und weitere Ausbildungen, z.B. zur Gestalttherapeutin, sowie eine Zeit als Hochschulassistentin am Psychologischen Institut der Universität Hamburg.
Ihre Entwicklung als systemische Familientherapeutin stand dann in den 70iger Jahren in direkter Verbindung mit dem kollegialen Zusammenschluss von Kolleginnen und Kollegen und der Gründung des Weinheimer Instituts auf Initiative von Maria Bosch.
Unter den Begegnungen mit einigen damals schon sehr bekannten Familientherapeut*innen, zählte Gesa die Seminare mit Virginia Satir zu den ihre Arbeitsweise nachhaltig prägenden Erfahrungen. Als Teilnehmende einer von Virginia Satir geleiteten Ausbildungsgruppe lernte Gesa auch ihre späteren Kolleginnen und Kollegen am Weinheimer Institut kennen. Virginia’s damals noch sehr ungewöhnlichen Arbeitsweisen, z.B. mit Familienskulpturen und ihre ermutigenden unkonventionellen Formen der Lehre und Didaktik sowie das in der Arbeit spürbare humanistische Menschenbild – das alles traf bei Gesa auf starkes Interesse und sie fühlte sich gleichermaßen ‚angestachelt‘, aus all dem ihren eigenen Stil zu entwickeln. Gern erzählte sie die Geschichte, in der sie auf einer Veranstaltung mit Virginia Satir einmal vor großem Publikum geäußert habe, dass sie Virgina‘s Arbeit sehr schätze, viel gelernt habe aber sicher auch einiges anders sehen und anders machen würde, weil sie eben ein anderer Mensch sei.
Ihr unermüdliches fachliches und politisches Engagement mündete in vielerlei Initiativen, die den Boden für den Einzug der Familientherapie und die Vernetzung der in Deutschland tätigen Familientherapeuten mit bereiteten.
Ihr besonderes Interesse galt dabei sowohl fachlich wie politisch der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Zeit des Nationalsozialismus, frauenspezifischen Themen sowie multikulturellem Zusammenleben von Menschen in Familien und Gemeinschaften.
Bereits in den 80iger Jahren entwickelte sie zusammen mit Mohammed el Hachimi und Arist v. Schlippe ein spezielles Curriculum mit multikulturellem Fokus in Ausbildung von Familientherapeut*innen. Das gemeinsame Lernen mit den Teilnehmenden dieser Gruppen, u.a. auch an verschiedenen Orten in Marokko, bezeichnete sie immer wieder für sich als von unschätzbarem Wert, gerade weil sie sich selbst dabei als Lernende verstand. 2003 fanden diese Erfahrungen und die im Curriculum entwickelten spezifischen therapeutischen Zugänge in diesem Feld Eingang in das Buch „Multikulturelle systemische Praxis“ (Arist v. Schlippe, Mohammed El Hachimi, Gesa Jürgens, Carl Auer Verlag)
Bis zuletzt wurde sie nicht müde, sich den Erfahrungen von Menschen in totalitären Systemen zuzuwenden, sich einzumischen, nach Wegen der Transformation zu suchen und sich für öffnende und begegnungsorientierte Prozesse zu engagieren.
So war es für sie folgerichtig und konsequent, sich seit dem Fall der Mauer 1989 für die Transformationsprozesse zwischen Ost- und Westdeutschland in unterschiedlichster politischer und fachlicher Weise zu engagieren. Speziell unter diesem Aspekt entstanden (ab 2001) mit Prof. Dr. Ursula Pfäfflin in Dresden entwickelte Ausbildungsgänge.
Den Kolleginnen und Kollegen der zweiten und dritten Generation von Dozentinnen und Dozenten an unserem Institut war Gesa in den 33 Jahren ihrer Teammitgliedshaft eine verlässlich unterstützende Kollegin. Im Laufe der Jahre empfanden das viele auch ein bisschen wie eine ‚Instanz zum Anfassen‘.
Nicht nur, dass man oft nicht um sie herumkam. Gesa ging auf Menschen zu, mischte sich auf ihre unverwechselbare und gern auch unkonventionelle Art ein!
Einige Stimmen von Kolleg*innen, lesen sich dann z.B. so:
„Gesa habe ich im Rahmen meiner Ausbildung zur systemischen Supervisorin im IFW kennen gelernt. Nach meiner Ausbildung waren wir dann ab 2002 auch Kolleginnen im IF Weinheim. Sowohl in meiner Ausbildung als auch im gemeinsamen kollegialen Tun habe ich Gesa als sehr präsente, liebevolle, kreative und naturverbundene Therapeutin kennen lernen dürfen. In ihrer ungewöhnlichen Art Menschen in ihren Prozessen zu begleiten hat sie einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen. Ich bin ihr für ihr Tun sehr dankbar und werde sie nicht vergessen.“ (Claudia-Terrahe Hecking)
„Wenn ich an Gesa denke, dann denke ich an unsere erste Begegnung in dem wunderbaren Haus, dem verzaubernden Garten. Gesa hatte was Besonderes, kein Mainstream. Gesa war authentisch. Wenn ich an Gesa denke, denke ich an Würzburg, an den großen Seminarraum und die vielen Mehrgenerastionenaufstellungen. Ich weiß, dass ich durch sie den Mut zu diesem transgenerationalen Blick erlernt und erlebt habe, der in meiner Arbeit immer eine Rolle spielt. Wenn ich an Gesa denke, dann weiß ich um ihre Empörung über Ungerechtigkeiten, Diskriminierung und die Umweltzerstörung. Über mein politisches Engagement für Klimaneutralität in meiner Kommune wäre Gesa sicher begeistert. Sie würde mir immer wieder zurufen: gib nicht auf! Wie gut, dass ich sie erleben durfte.“ (Angelika Pannen-Burchartz)
„Viele Andere und ich (Mohammed) haben viel Schönes und Lebenswichtiges von Dir gelernt… All das trage ich gerne mit Respekt in mir weiter….“ (Mohammed El Hachimi)
„Es fällt mir schwer, ein einzelnes Bild von Gesa in mir wachzurufen. Ich sehe zum einen diese ganz besonders kraftvolle Frau vor mir, eine Kraft, die sie aus einer Intuition schöpfte, die ich nur bewundern, aber oft nicht nachvollziehen konnte – woher holte sie diese Ideen nur her? Zugleich steht neben dieser Kraft auch ihre Verletzlichkeit, die sich aus ihrer komplizierten Lebensgeschichte ergab. Durch ihre Sensibilität und Bewusstheit für diese Seiten war sie persönlich für die Menschen so sehr berührbar, mit denen sie arbeitete, – sei es in den vielen Familienrekonstruktionsseminaren, die wir zusammen abhielten oder in den ca. 16 Jahren gemeinsamer Lehrpraxis. Und wie auf einer „Parts Party“ kommt mir jetzt ihr Humor in den Sinn, was haben wir oft gelacht! Sie war die Einzige, die, auch wenn die Küche des Hotels geschlossen war und nur noch der Barkeeper wach, erreichte, dass dieser uns noch um 23:30h eine Extrakäseplatte servierte! Und dann, und damit will ich schließen, kommt mir ihre politische Seite in den Sinn. Mit Entschiedenheit und all ihrer Wut setzte sie sich für unterpivilegierte Menschen und für die Erhaltung dieser Welt ein. Wenn ich an sie denke, wird mir warm ums Herz. Ade, liebe Gesa, sei umarmt!“ (Arist v. Schlippe)
„Gesa hat mich mit ihrer Wertschätzung, ihrem Humor, Leichtigkeit, Kreativität aber auch manchmal Verrücktheit in meiner therapeutischen Haltung stark geprägt und ich bin sehr dankbar, dass ich bei ihr lernen durfte.“ (Barbara Ollefs)
„Liebe Gesa, ich nehme Abschied von Dir. Seit wir uns kennen, haben wir unsere Unterschiedlichkeit kreativ genutzt. Du gehörst zu den Gründerfrauen des Instituts und hast immer für bunte Vielfalt im Team und in der Ausbildung gestanden. Im wahrsten Sinne des Wortes hast Du Farbe ins Team gebracht. Auch nach der Wende in der Familientherapie, als sich die systemischen Ansätze mehr und mehr durchgesetzt haben, bist Du, die stark von Virginia Satir geprägt war, einem Ansatz der Vielfalt treu geblieben, so hast Du u. a. eine kreative und inspirierende Art und Weise gefunden, Teilnehmer und Klienten an Freud und Leid ihrer Familiengeschichte heranzuführen. Ich habe gerne mit Dir gearbeitet und schätzte Deine kollegiale Wertschätzung. Ich bin froh, dass ich durch Dich in den beiden Ost-West Gruppen, die ich mit Dir geleitet habe, mich noch einmal intensiv mit den Folgen der Nazivergangenheit auseinandersetzen konnte und auch die dunklen Seite meiner Familiengeschichte, in der sich ein Ost Westgeheimnis verbarg und über das bisher in meiner Familie nicht gesprochen wurde, erhellen konnte. Last not least Gesa, du warst kein Kind von Traurigkeit, es hat Spaß gemacht, mit Dir zu genießen und zu feiern. (Haja Johann Jakob Molter)
„Wenn ich an Gesa denke, erinnere ich mich u.a. an lustige und kreative gemeinsame Stunden im Seminar, zum Beispiel mit kollektivem Verkleiden in ihrem Tagungshaus. Ich erinnere, wie konsequent Gesa auf die Bedeutung der Historie, auch und gerade der nationalsozialistischen, für uns alle hingewiesen hat. Mit ihr habe ich im Rahmen der Seminare schöne Radtouren unternommen. Ich freue mich, dass sie in den letzten Tagen friedlich und liebevoll begleitet worden ist.“ (Hans Lieb)
„Als Teilnehmerin eines Basiskurses bei Gesa und Maria Solmsen Anfang der 90iger Jahre war das für eine wie mich (aus Ostberlin) schon sehr fremd: mit bunten Tüchern und Seilen Kommunikationstypen zu erarbeiten, auf Kissen zu steigen, um den vom Körpermaß größeren Menschen auf Augenhöhe begegnen zu können und dann auch noch andauernd gefragt zu werden, wie ich all die Umbrüche, die da gerade so im Gange waren, erlebte und was ich denn gerade brauchte. Das war faszinierend, mir manchmal auch zu viel, zu ungewöhnlich wohl auch zu nah. Als ich dann 2002 ins Weinheimer Team kam, luden mich Gesa, Michael Grabbe und Arist v. Schlippe ein, in ihrer gemeinsamen Lehrpraxis in Osnabrück mitzumachen. Es war für mich eine wunderbare Gelegenheit, auch Gesa im kollegialen Dialog und in ihrer therapeutischen Arbeit zu erleben. Zwischen 2003 und 2008 fuhr dann mein Auto schon fast allein nach Königshorst. In mehreren Gruppen erlebte ich als Dozentin an ihrer Seite ihr unermüdliches Engagement für Begegnungen, aufrichtige Gespräche und Vielstimmigkeit, ihre Bereitschaft, Spannungen und Gegensätze in ihrem Wert, Sinn und Kontext zu erforschen und dabei nicht müde zu werden, den beteiligten Menschen mit all ihren Eigenarten und Ansichten respektvoll zu begegnen. Gerade dadurch habe ich so viel gelernt und fühlte mich sehr von ihr ermutigt, meinen eignen Arbeitsstil als Dozentin zu entwickeln (so ähnlich schien es ihr auch mit Virgina Satir gegangen zu sein. Sie ermutigte mich, nicht aufzugeben, Wege auch zu verlassen, wenn sie zu viel Kraft oder Leid verursachten und neue Wege zu suchen, auszuprobieren … immer wieder von Neuem!“ (Cornelia Hennecke)
Was wäre nun ein Nachruf für Gesa ohne eine Stimme von den viele Teilnehmer*innen?
Eine Teilnehmerin hat Gesa am Ende ihrer systemischen Therapieausbildung ein Buch gewidmet. Ein Zitat daraus mag illustrieren, wie vermutlich vielen Teilnehmern das Tagungshaus in Königshorst in der Zusammenarbeit mit Gesa in Erinnerung ist:
„In ihren Räumen hat die Sonnenfrau viele Schätze. Glasschränke sind voll mit Puppen und kleinen Tieren aus Holz und Ton, mit Steinen und Muscheln. In einer großen Holztruhe bewahrt sie wunderschöne Kleider auf. Sie hat auch viele Hüte, große und kleine. Und Tücher und Bänder und Stifte und Farben, und große Papierbögen. Und sie hat Instrumente: Trommeln und Flöten, einen riesigen Gong und ein langes Regenrohr…. Wenn Menschen, denen es nicht gut geht, zu ihr kommen, öffnet die Sonnenfrau ihre Schränke. Sie dürfen die Schätze entdecken, berühren und ausprobieren. Dazu stellt sie Fragen und gibt ihnen Aufgaben. Manchmal setzt sich jemand ganz viele Hüte auf einmal auf den Kopf und soll dann sortieren, welchen Hut er wozu braucht.“
(aus „Die Sonnenfrau“ – erzählt von Patricia Paweletz und illustriert von Isabelle Dickert, copyright P. Paweletz Hamburg 2011).
„Die Andacht in Wustrow zu Gesas Tod war sehr würdig und wertschätzend. Der festliche Rahmen war locker, ohne enges Programm und somit frei, dass alles auch spontan fließen konnte – stimmig für Gesa, die sich ja auch oft nicht an Konventionen hielt und frei bewegte.
Berührende und ergreifende Gedichte, Texte oder Lieder zeichnen sich in ihrer Besonderheit nicht allein durch die Worte oder Töne aus, sondern durch das, was zwischen den Zeilen schwingt und herüberkommt. Dazu braucht es natürlich Worte und Töne von Erlebtem und Erfahrenem. Ich war und bin sehr ergriffen und gerührt von dem, was über und von Begegnungen mit Gesa zwischen den Worten und Zeilen mich erreichte … mir keine Worte mehr wichtig waren und ich ergriffen, freudig und voller Liebe, Wärme und Dankbarkeit Gesa loslassen konnte. Ja – das und so war Gesa mit all ihren Facetten und so wird sie für mich bleiben.“ (Michael Grabbe)
Die meisten der vierten Generation Weinheimer Dozent*innen kennen Gesa nicht mehr aus tatsächlichen Begegnungen. Als ‚Vorfahrin‘ lebt sie weiter in unseren Erzählungen, in kleinen Verweisen auf durch sie inspirierte und weiter entwickelte Arbeitsweisen.
In unserer nunmehr 47-jährigen Institutsgeschichte hat Gesa einen ehrenvollen Platz und sie hinterlässt nachhaltige Spuren. Wir sind sehr dankbar für dieses Erbe und halten sie auch über ihren Tod hinaus in ehrendem Gedenken.
Team des IF Weinheim
Ich glaube daran,
dass das größte Geschenk,
das ich von jemandem empfangen kann,
ist, gesehen, gehört, verstanden
und berührt zu werden.
Das größte Geschenk,
das ich geben kann, ist,
den anderen zu sehen, zu hören,
zu verstehen und zu berühren.
Wenn dies geschieht,
entsteht Kontakt.
Virginia Satir
(Diese Zeilen wurden als Teil unseres Beitrages im Rahmen der Trauerfeier von Tom Pinkall vorgetragen.)