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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Geist und Materie, Gott und die Welt – ein verborgener Gesamtzusammenhang

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Luc Ciompi dürfte allen Leserinnen und Lesern des systemagazin ein Begriff sein. Mit seinem Konzept der Affektlogik ist er seit den frühen 1980ern weit bekannt geworden, auch als Kliniker hat er mit seinem Modell der Soteria-Psychosenbehandlung Bahnbrechendes geleistet. Nun hat er im Alter von 95 Jahren noch einmal einen „kleinen Essay“ in Buchform veröffentlicht, der Themen aufgreift, mit denen er sich ebenfalls schon seit Jahrzehnten intensiv auseinandersetzt⁠1. Darin geht es um die Frage nach dem Geistigen und seinen Zusammenhängen mit der materiellen Welt, also um eine Frage, die die Philosophie seit jeher beschäftigt. Ciompi möchte ein Gesamtbild entwerfen, das „als eine Zusammenschau von unterschiedlichen Zugängen zum ,großen Ganzen’, die für Leserinnen und Leser verschiedenster Denk- und Glaubensrichtungen von Interesse sein könnte“ gelten soll (8).

Unter Geist versteht Ciompi ein unendliches „Netzwerk von abstrakten Beziehungen und Verhältnissen, das obligat mit allem faktischen Geschehen einhergeht. Dazu gehören nicht nur alle Ideen über Zusammenhänge, Beziehungen und Kommunikationen, die man gewöhnlich als „geistig“ versteht, sondern ebenfalls eine unendliche Fülle von immateriellen abstrakten Beziehungen und Verhältnissen z. B. geometrischer, mathematischer oder sonst wie allgemeiner Art weit über den zwischenmenschlichen Bereich hinaus“ (9). Diese Definition des Geistigen, das Ciompi auch „Weltgeist“ nennt, wenngleich er diesen Begriff von der Hegelschen Verwendung des Wortes abgrenzt, umfasst auch den „Menschengeist“, greift aber weit darüber hinaus und ließe sich auch als „unendliches virtuelles Potenzial [verstehen], aus dem sich ,mit der Zeit‘ und je nach Umständen gewisse Aspekte verwirklichen (,verkörpern’) und andere nicht“ (14). Die uns bekannte materielle Welt ist dann nicht mehr als eine selektive Verkörperung dieser virtuellen Potentiale, jeweils gebunden an konkrete ermöglichende Umstände, die sich wiederum evolutionär entfalten.

Geist ist aus dieser Perspektive in gewissem Sinne das größere Ganze, das alles Partikulare übersteigt und für den Menschen in seiner evolutionären Nische grundsätzlich nicht in Gänze erfasst werden kann. Damit sind wir schon sehr nahe bei den uns bekannten Gottesvorstellungen und in der Tat liegt für Ciompi „der Gedanke nahe, dass mit dem, was die Menschen im Lauf ihrer Geschichte in tausenderlei Verkleidungen als ,Gott’ oder ,göttlich‘ bezeichnet haben, eigentlich immer wieder ein Aspekt dessen gemeint war, was ich den Weltgeist – man könnte auch sagen ,das Geistige schlechthin’ – genannt habe“ (25).

Die mythischen und personalen Gottesvorstellungen der Menschen sieht Ciompi darin gegeben, dass einem „über Jahrmillionen sich entwickelnden Menschengeist ein anderes als ein bildhaft-projektives Denken über die längste Zeit gar nicht zur Verfügung stand“ (27). Denken in abstrakten Kategorien, auf das er sich stützt, sind in der Geschichte der Menschheit erst seit allerkürzester Zeit möglich geworden. In Baruch de Spinoza (1632-1677) findet er einen historisch frühen geistigen Bundesgenossen, der schon seinerzeit postulierte, dass es im Universum nur eine einzige Substanz gäbe, die sowohl Gott als auch die Natur sei. Für Spinoza existiert Gott nicht außerhalb der Natur. Für ihn ist die Natur Gott und Gott ist die Natur, worin eben auch der Mensch eingeschlossen ist.

Auch im systemischen Diskurs gibt es eine entsprechende Theorielinie – wir sind hier nämlich sehr nahe an der „Epistemologie des Heiligen“ Gregory Batesons, der sehr ähnliche Vorstellungen des Geistigen und Göttlichen entwickelt hat. Auch für sein Konzept von „Geist und Natur“, der „Ökologie des Geistes“ gilt, dass die „patterns that connect“ nicht in der materiellen Welt aufgehen, sondern genau die verbindenden abstrakten Prinzipien darstellen, die Ciompi dem Weltgeist zuschreibt. Leider fehlt im vorliegenden Essay die Brücke zu Bateson, die den Gedankengang ja nicht verändert, gleichwohl aber eine Vertiefung ins systemische Feld gestärkt hätte (vgl. auch Charlton 2008, S 174 ff.).

(Foto: Tom Levold)

Im abschließenden Kapitel über die Welt geht es Ciompi um die Wechselwirkungen zwischen Geist und Materie und die Evolution des Bewusstseins, dessen Ursprung er als rudimentäres „Wissen von etwas“ schon den einfachsten Organismen zugesteht und das sich im Laufe der Jahrmillionen zu immer abstrakteren Leistungen aufgeschwungen hat. Seine Idee der Wechselwirkung ist dabei sehr umfassend (und spekulativ), da er auch der physikalischen Umwelt kommunikative Fähigkeiten zuschreibt, „gar nicht ganz so radikal verschieden von den Vorgängen, die dem rudimentären Bewusstsein eines Pantoffeltierchens oder, auf einer schon unendlich höheren Entwicklungsstufe, dem Verhalten einer Katze oder eines Menschenaffen zugrunde liegen“ (39). Für ihn läuft alles „auf eine Art von Gespür der Materie für das Gefüge von letztlich geistigen Kräften und Zusammenhängen zwischen den Dingen [hinaus], das von einem ,toten’ Materieteilchen bis zu einem hoch differenzierten Organismus stufenweise zunimmt. Der Graben zwischen toter und lebendiger Materie ist möglicherweise weniger tief, als wir gewöhnlich annehmen. Der Unterschied besteht vielleicht nur im Komplexitätsgrad der materiellen und damit auch geistigen Organisation“ (ebd).

Der Essay lädt seine Leser zum Nachdenken und mitspekulieren ein. Ihnen möchte Ciompi denn auch die Frage überlassen, ob es überhaupt zulässig sei, „die Abstraktion und Dezentration über die ,Welt’ so weit zu treiben, dass von allem Konkreten praktisch nichts mehr übrig bleibt als eben – der Geist?“ (49).

In seinen „gegenwartsbezogenen Schlussbemerkungen“ geht er schließlich noch auf die bedrückenden konkreten weltpolitischen Bedingungen des Jahres 2023 ein, in dem das Manuskript entstanden ist. Den derzeitig angesagten dystopischen Weltuntergangsvorstellungen kann er allerdings nichts abgewinnen. Neben den „vielen Hass- und Kriegsherden in unserer Welt“ sieht er „mindestens ebenso viele oder noch viel mehr kleine und große Friedens- und Liebesherde, die unbeachtet bleiben. Einen Beitrag zur Minderung von Hass und Unfrieden könnte auch die Fokussierung auf Gemeinsames statt Trennendes leisten, die meinen Überlegungen zugrunde liegt. Deren wichtigste praktische Konsequenz aber ist zweifellos, dass wir umfassend selbst verantwortlich sind: verantwortlich für unsere Umwelt, für unser Alltagsverhalten und vor allem für unsere Wertehierarchien (= unsere ,Götter’): Geld und Macht oder ,Dienen’, meine persönlichen ,legitimen Interessen’ und Rechte (wie etwa in der Covidkrise) auf Kosten der Gemeinschaft, Eigenwohl versus Gemeinwohl (zwei weitere Polaritäten, zwischen denen es ein sinnvolles Gleichgewicht zu finden gilt)“ (52).

Ciompi spannt mit seinem bei aller Abstraktion sehr verständlich geschriebenen „kleinen Essay“ einen weiten Bogen über die Grundfragen unserer Existenz und die Existenz von Allem. Wie jeder gute Text regt er die Leser zu weiteren Fragen und Überlegungen an. Dass der Band seine Leser finden möge, ist ihm sehr zu wünschen.

Das Buch ist auch Gegenstand eines Interviews mit Matthias Ohler, das in der Reihe Sounds of Science bei Carl-Auer erschienen ist:

Literatur:

Gregory Bateson (1987): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 

Gregory Bateson (1987): Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 

Gregory & Mary Catherine Bateson (2005): Wo Engel zögern. Unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen. Frankfurt/M. (Suhrkamp)

Charlton, Noel G. (2008): Understanding Gregory Bateson. Mind, Beauty, And The Sacred Earth. Albany (University of New York Press)

1 Etwa 1988 in: Außenwelt, Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

Zur Website des Autors

Luc Ciompi (2025): Geist und Materie, Gott und die Welt – ein verborgener Gesamtzusammenhang / Spirit and Matter, God and the World – a Hidden Overall Context. EIN KLEINER ESSAY / A SHORT ESSAY. Heidelberg (Carl-Auer)

Zweisprachige Ausgabe (Deutsch/Englisch) 111 Seiten, Kt.
Erscheinungsdatum 12.11.2024
ISBN: 978-3-8497-9082-0
Preis: 14,95 €

Verlagsinformation:

uc Ciompi untersucht in seinem Essay die vier großen Themen Geist, Materie, Gott und Welt auf Grundlage einer eigenen Definition von „Geist“ – dabei zeigt sich ein Gesamtzusammenhang von erstaunlicher Kohärenz. Luc Ciompi explores in his essay the four major topics spirit, matter, God and the world based on his own definition of “mind” or “spirit” – what emerges is an overall context of astonishing coherence.

Über den Autor:

Prof. Dr. med. emeritus, Dr. honoris causa der Universität Lausanne. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vormals ärztlicher Direktor der sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern / Schweiz. Begründer des Konzepts der Affektlogik zu den Wechselwirkungen zwischen Fühlen und Denken sowie der therapeutischen Wohngemeinschaft „Soteria Bern“. Promotor eines integrativ psycho-sozio-biologischen Verständnisses von psychischen Störungen und eines gemeindezentrierten Versorgungssystems zur Krisenintervention und sozialen Wiedereingliederung von psychisch Kranken. Über 260 wissenschaftliche Publikationen, darunter 16 Bücher und über 50 Buchbeiträge. Diverse wissenschaftliche Preise und Ehrungen.

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