In einem lesenswerten Aufsatz in der„Zeit“, die anlässlich des 150. Geburtstages von Sigmund Freud eine Reihe zur Freud-Rezeption in unterschiedlichen Kulturen veröffentlicht, hat sich heute der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar über die Schwierigkeiten geäußert, die europäisch geprägte Psychoanalyse in einem kulturellen Kontext anzuwenden, in dem„psychoanalytische Vorstellungen von psychischer Reife, sozialem Verhalten, »positiven« oder »negativen« Lösungen von Entwicklungskonflikten und Komplexen (wie etwa dem Ödipuskomplex)“ sich als Ausdruck von Erfahrungen und Wertbegriffen des europäischen Bürgertums erweisen und eben nicht als„universelle Wahrheiten“. Dies hat vor allem etwas mit völlig unterschiedlichen Vorstellungen zu tun, die das Selbst (und seinen sozialen Kontext) betreffen.
So schreibt Kakar:„Für den traditionellen Inder ebenso wie für den modernen westlichen Patienten, der einen Psychoanalytiker aufsucht, ist Introspektion der Königsweg zur Überwindung von seelischen Problemen. Aber die traditionellen indischen Methoden, die verschiedenen psycho-philosophischen Meditationsschulen, sind nicht dasselbe wie die Selbsterforschung, die in der Psychoanalyse gefordert wird. Die Psychoanalyse, eine abendländische Wissenschaft, stützt sich auf die introspektiven Elemente der späthellenischen Philosophie, in der sich das Selbst durch die aktive Betrachtung des eigenen Lebens definierte, wie dies in der sokratischen Formel des »Erkenne dich selbst« zum Ausdruck kommt.
Die Inder, genauer gesagt die Hindus, kennen eine ähnliche Formel atmanam vidhi (»Erkenne dein Selbst«), doch das Selbst (atman) unterscheidet sich wesentlich von dem, was Sokrates darunter versteht. Es ist ein metaphysisches, kein biografisches Selbst, losgelöst von Zeit und Raum und daher ohne die lebensgeschichtliche Dimension, die der Kern der Psychoanalyse ist.
Ein traditioneller Inder ist daher psychologisch modern, aber er muss nicht psychologisch bereit im psychoanalytischen Sinne sein. Ganz abgesehen von den introspektiven Fähigkeiten, die der einzelne Patient, ob Europäer oder Inder, mitbringt, muss also die biografische Introspektion erlernt werden, sodass ein indischer Analytiker zunächst sehr viel didaktischer vorgehen wird als sein westlicher Kollege. Und wenn sich sein Patient immer wieder sträubt, den Weg zum biografischen Selbst zu beschreiten, kann sich der indische Analytiker jedes Mal mit dem Gedanken trösten, dass Freud selbst den Beruf des Psychoanalytikers als einen von drei unmöglichen Berufen bezeichnet hat. Allerdings wird er Freuds Worte kaum mit der gleichen befreienden Ironie verwenden können“
Es wäre reizvoll, ähnliche Überlegungen zur kulturspezifischen Rezeption von systemischen oder lösungsorientierten Therapieansätzen
anzustellen. Vielleicht gibt es schon entsprechende Arbeiten? Wenn Ihnen etwas dazu einfällt, kommentieren Sie doch bitte diesen Eintrag.
Hier kommen Sie übrigens zum vollständigen Text von Sudhir Kakar in der„Zeit“.