Wolfgang Loth (Bergisch Gladbach):
Roland Schleiffer hat sich einen Namen gemacht mit seinen Publikationen zu einer systemtheoretischen Entwicklungspsychopathologie und zur funktionalen Analyse von Verhaltensauffälligkeiten. Vor kurzem hat er seine Arbeiten dazu in zwei bemerkenswerten Bänden aktualisiert und gebündelt (1). Mit dem nun vorliegenden Buch „Fremdplatzierung und Bindungstheorie“ geht er einem Themenbereich nach, der mit den vorher genannten korrespondiert, jedoch ein eigenes Profil gewinnt. Mit der Bindungstheorie wählt er einen zentralen entwicklungspsychologischen Bezugsrahmen und mit Fremdplatzierung denjenigen Bereich der Jugendhilfe, der zu den bindungstheoretischen Assoziationen am stärksten kontrastiert und darüber hinaus den höchsten Aufwand erfordert. Dies schließt ein, dass sich damit die am weitesten gehenden Anforderungen an alle Beteiligten verknüpfen. Das Thema ist also wichtig. Orientierung tut not, weit über alle rechtlichen und verfahrenstechnischen Vorgaben hinaus.
Der Autor geht sein Thema mit geradezu akribischer Sorgfalt an, diskutiert entwicklungspsychologische, sozialpädagogische, juristische und gesellschaftliche Aspekte und streut dabei immer wieder systemtheoretische Querverbindungen Luhmannscher Provenienz ein. Das Material gliedert Schleiffer in sechs inhaltlichen Kapiteln.

In den beiden ersten legt er die bindungstheoretischen Grundlagen dar und setzt sie in Beziehung zur Situation und zur Vielfalt der heutigen Familien. Auch wenn die Form des vorliegenden Buches letztlich nur eine Skizzierung dieser Thematik erlaubt, so wirkt diese Skizze doch wie aus einem Guss und überzeugt sowohl durch Differenziertheit als auch durch die Souveränität ihrer Darstellung. Die Entwicklungslinie von den biologischen Grundlagen des Bindungsverhaltenssystems hin zur kommunikativ und lebensweltlich moderierten Ausprägung wird deutlich, ebenso Formen intergenerationaler Weitergabe und beziehungsspezifischer Konstellationen (Peers, Freundschaften, Liebesbeziehungen).
Dieser fundierten theoretischen Einbettung folgt dann das zunächst abstrakte Thema Fremdplatzierung. Schleiffer stellt im Detail die rechtlichen Grundlagen vor, macht deutlich, in welcher Weise sich Fremdplatzierung als Problem begreifen lässt und was zur Indikation zur Fremdplatzierung gesagt werden kann. In erster Linie geht es hier um das Beenden von Misshandlung und Vernachlässigung. Es gehört zu Schleiffers Stärken, hier nicht nur die schädlichen Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung aufzugreifen, sondern sie im Rahmen einer funktionalen Analyse verstehender Beobachtung zugänglich zu machen. Hieraus ergeben sich Ansatzpunkte zum Verstehen möglicher (Verhaltens-)Antworten fremdplatzierter Kinder, und dies dient wiederum dem Ausbilden von angemessenem, feinfühligem und hilfreichem Verhalten professioneller Helferinnen. Schleiffer diskutiert das insbesondere am Beispiel desorganisierter Hilfekommunikation.
Die praktischen Anwendungsbereiche von Fremdplatzierung bilden die folgenden Kapitel: Heimerziehung, Pflegefamilien und Adoption. Heimerziehung erhält dabei den größten Raum und schließt an an eine frühere Arbeit Schleiffers, die seinerzeit
Heimerziehung und den „heimlichen Wunsch nach Nähe“ auf inspirierende Weise erkundete (2). Der Heimkontext steht nicht zufällig im Zentrum bindungstheoretischer Forschung, war er doch schon Ausgangspunkt der seinerzeitigen Arbeiten John Bowlbys zu den psychischen Auswirkungen von Fremdplatzierung für Kinder und Jugendliche.
Schleiffer schlägt einen großen Bogen, diskutiert das Negativimage des Heims sowie den Werdegang der Heimreform. Er gibt einen Überblick über die bindungsrelevanten Daten zur Heimbelegung sowie zur Wirksamkeitsforschung hinsichtlich Heimerziehung. Wie weit es gelingt, dass Heimkinder eine sichere Bindung zu HeimpädagogInnen entwickeln, entscheidet über den Erfolg der Maßnahme. Dies wiederum setzt voraus, dass die professionellen Helferinnen über die jeweiligen Bindungskonzepte von Heimkindern Bescheid wissen. Schleiffer illustriert dies am Beispiel desorganisierter Hilfebeziehung im Heim. Er stellt ebenfalls Prämissen hilfreicher Beziehungen im Rahmen einer bindungsorientierten Heimerziehung vor, thematisiert dabei auch die Möglichkeit von bindungskorrigierenden Erfahrungen. Der Abschnitt über bindungsgeleitete Interventionen bleibt im Rahmen dieses Buches etwas allgemein, deutet jedoch an, was daraus gemacht werden kann.
Neben der Heimerziehung stehen Pflegefamilien und Adoption im Fokus von Fremdunterbringungen. Beide erhalten ein eigenes Kapitel. Das Kapitel über Pflegefamilien informiert neben Formen und Modellen insbesondere über bindungsrelevante Aspekte. Als Grundproblem im Hinblick auf Dauerpflegefamilien nennt Schleiffer „die unsichere Elternschaft“. Dieses Grundproblem mache sich „bevorzugt an drei Konfliktthemen bemerkbar, am Für und Wider von Besuchskontakten, überhaupt an der Verpflichtung aller Beteiligten zur Kooperation sowie an der Frage der Professionalität von Pflegeeltern“ (S. 169). Schleiffer würdigt die Herausforderungen für Pflegeeltern, stellt jedoch nüchtern fest, ein sicheres Bindungskonzept sei ein unrealistisches Auswahlkriterium für Pflegeeltern.
Auch zum Thema Adoption liefert Schleiffer neben klärenden Begriffsbestimmungen wieder ein Kompendium neuerer Forschungsergebnisse. Er diskutiert Adoption sowohl in Bezug auf Risikofaktoren (auch psychiatrischen) als auch in Bezug auf protektive Faktoren. „Die protektive Bedeutung von Bindungssicherheit bei den Adoptiveltern erweist sich gerade bei der Aufgabe, ihrem Kind den Sachverhalt Adoption verständlich zu machen“ (S. 198): Diese Aufgabe erfordert sowohl ein geklärtes Verhältnis zur eigenen Motivation als auch einen offenen Blick für die Bindungsbedürfnisse des Kindes einerseits, wie auch für die wirksamen Irritationen, die sich für das Kind aus der Erkenntnis doppelter Elternschaft ergeben. Aus Schleiffers Sicht erweist sich Adoption „für die meisten Kinder insgesamt als eine protektive Maßnahme“ (S. 210), wozu wohl auch beiträgt, dass die sichere Elternschaft es Adoptiveltern er leichtere, sich auch affektiv auf die Beziehung zum Kind einzulassen sowie die im Familienkontext einforderbare „Adressierung als Vollperson“ zu gewähren und ihr gerecht zu werden.
Insgesamt bietet das vorliegende Buch einen umfassenden Überblick über Grundlagen, Formen und Folgerungen fremdplatzierender Maßnahmen der Jugendhilfe. Bindungstheorie gilt dabei als die Orientierungshilfe, um sowohl die affektiven Grundwellen zu verstehen, die damit verbunden sind, als auch dafür, die technische Seite dieser Maßnahmen durch ein aufmerksames Berücksichtigen lebensnotwendiger Bedürfnisse abzufedern. Diese Aufmerksamkeit, d. h. eine bindungstheoretische Orientierung sollte nach Schleiffer „die Erfüllung der gesetzlichen Forderung erleichtern, das Kindeswohl im Konfliktfall über das Elternrecht zu stellen“ (S. 208).
Während ich die inhaltliche Fülle und Diskussionsbreite des Buches an sich nur nachhaltig empfehlen kann, finde ich es schade, dass der Verlag das Buch offenbar relativ unverbunden publiziert hat. Die Lektüre erfordert motivierte Leserinnen, da das Buch in dieser Form kaum Unterstützung für die Lektüre anbietet. Das Inhaltsverzeichnis gibt nur die Hauptkapitel wieder (mir hat es dann geholfen, dass ich mir die Zwischenüberschriften selbst exzerpiert habe). Es gibt weder ein Sach- noch ein Personenverzeichnis. Beides hätte bei einem Buch mit dieser hochwertigen Fülle an Querverbindungen und Details sicher gute Dienste getan. Es hätte dadurch lexikalische Handbuch-Qualitäten gewonnen. In der vorliegenden Form dürfte das Buch seine hervorragenden Dienste nur motivierten und am Thema interessierten Leserinnen leisten. Das ist schade, denn die Lektüre dürfte mit Sicherheit auch für Personen und Institutionen gewinnbringend sein, die generell bei diesem Thema als Verbündete gebraucht werden, Sozialpolitikerinnen etwa. Wie dem auch sei, das vorliegende Buch ist eine hervorragende Einführung in die Thematik und gibt eine Vielzahl von Anregungen, sich zu diesem sensiblen und wichtigen Thema fundiert zu informieren.
Anmerkungen:
(1) R. Schleiffer (2012): Das System der Abweichungen. Eine Neubegründung der Psychopathologie. Heidelberg (Carl-Auer); R. Schleiffer (2013): Verhaltensstörungen. Sinn und Funktion. Heidelberg (Carl-Auer)
(2) R. Schleiffer (2001): Der heimliche Wunsch nach Nähe. Bindungstheorie und Heimerziehung. Votum, Münster (5. Auflage 2014: Beltz Juventa, Weinheim, Basel)
(mit freundlicher Genehmigung aus systeme 29(1), 2015
Roland Schleiffer (2015): Fremdplatzierung und Bindungstheorie. Weinheim/Basel (Beltz Juventa)
244 Seiten, kt.
ISBN:978-3-7799-2980-2
Preis: 24,95 €
Verlagsinformation:
Fremdplatzierung, die Unterbringung eines Kindes außerhalb seiner Herkunftsfamilie, steht als Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe dann an, wenn Eltern ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen und so das Kindeswohl gefährden. Die unterschiedlichen Formen, die Unterbringung in ein Heim oder eine Pflegefamilie sowie die in eine Adoptivfamilie werden unter einer bindungstheoretischen Perspektive diskutiert.
Inhalt:
Einleitung 7
Bindungstheorie 14
Bindung und Familie 58
Fremdplatzierung 68
Heimerziehung 100
Pflegefamilie 150
Adoption 180
Epilog 205
Literatur 213
Über den Autor:
Roland Schleiffer, Dr. med., Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für Psychotherapeutische Medizin; psychoanalytische Zusatzausbildung. Nach langjähriger Tätigkeit in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie von 1995 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2012 Professor für Psychiatrie und Psychotherapie in der Heilpädagogik an der Universität Köln. Schwerpunkte: Entwicklungspsychopathologie, Systemtheorie, Bindungstheorie, Fremdunterbringung.