Wer sich auf den Stand der aktuellen systemtheoretischen Debatten bringen wil, muss„Soziale Systeme“ lesen! Nachdem die Zeitschrift für eine Weile ins Trudeln geraten war, weil keine Hefte mehr erschienen, haben es die Herausgeber mit einem publizistischen Kraftakt geschafft, nun auch einen vollständigen Jahrgang 2008 zu kommen. Und was für ein Jahrgang! Das Heft 1 (Heft zwei wird demnächst hier vorgestellt) befasst sich mit der heiklen Frage Niklas Luhmanns, ob es in unserer Gesellschaft überhaupt noch unverzichtbare Normen gebe und geben könne. Eine zentrale Frage angesichts der Herausforderung, vor die die Gesellschaft im 21. Jahrhundert angesichts unüberschaubarer Bedrohungen gestellt ist. Auf einer Metaebene läuft dabei aber auch die Frage mit, welche Werkzeuge und Perspektiven die Systemtheorie in der Beobachtung und Beantwortung dieser Frage zur Verfügung stellt und inwieweit sie dabei selber zum Problem wird. Die Positionen in diesem von William Rasch als Herausgeber verantworteten Heft, das zwei ins Englische übersetzte Arbeiten Luhmanns enthält (deren eine auch online zu lesen ist), gehen dabei in unterschiedliche Richtungen. So stellt beispielsweise Chris Thornhill fest:„In der modernen Gesellschaft hängt also die normative Funktion der Normen davon ab, dass sie durch ihr Schweigen die Differenzierung der Gesellschaft befördern und die eventuelle Konzentration der Gesellschaft auf normative oder politisch umstrittene Kontroversen verhindern. Luhmanns Frage, ob es unverzichtbare Werte gebe, kann also nicht entschieden und eigentlich gar nicht sinnvoll gestellt werden. Sie schreibt der Gesellschaft eine politisch zentrierte oder sogar exzeptionelle Gestalt zu, die sie tatsächlich nicht mehr annehmen kann“ Theorie kann in diesem Kontext nur noch beschreiben, was passiert, aber nicht mehr Stellung nehmen. Costas Douzinas hält dagegen:„Die (falsche) asketische Verpflichtung allein zur Beschreibung, verbunden mit der Akzeptanz der bestehenden Gesellschaftsordnung, macht die Systemtheorie zu einem wertlosen Werkzeug in einem Prozess der Verbesserung der Gesellschaft.„ Und Niels Werber geht noch weiter, indem er postuliert,„dass Luhmanns Plädoyer für ein prinzipienloses Manövrieren im Falle von Ausnahmefällen die Systemtheorie erstaunlich nahe an amoralische Theorien heranrückt, wie sie in den USA besonders seit 9-11 Konjunktur haben“. Die Aufsätze sind sämtlich in englischer Sprache verfasst,„um die anglophone Welt zu ermutigen, sich mit Niklas Luhmanns Markenzeichen der Systemtheorie auseinanderzusetzen“, wie Rasch in der Einleitung schreibt. Ein edles Unterfangen, was leider die Wahrnehmung dieser Texte in der deutschsprachigen Leserschaft wahrscheinlich schwächen wird. Immerhin gibt es zu allen Beiträgen auch deutsche Zusammenfassungen, die hoffentlich Lust auf die überaus spannende Lektüre machen.
zu den vollständigen abstracts
Folter und Systemtheorie
30. März 2009 | Keine Kommentare