Heute vor 125 Jahren wurde Kurt Lewin geboren. Er war einer der wichtigsten und einflussreichsten deutschsprachigen Psychologen des 20. Jahrhunderts, der 1947 im Alter von nur 56 Jahren viel zu jung gestorben ist. In den zwanziger Jahren war er gemeinsam mit Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka ein wichtiger Pionier der Gestaltpsychologie. Als jüdischer Hochschullehrer erfasste er früh die Gefahr durch den Nationalsozialismus und knüpfte rechtzeitig Kontakte in die USA. 1932 erhielt er eine halbjährige Gastprofessur an der Stanford University in Kalifornien und emigrierte dann 1933 endgültig in die Vereinigten Staaten. Dort knüpfte er schnell Kontakte und war unter anderem mit Margaret Mead und Gregory Bateson befreundet, mit denen er gemeinsam auch an der Auftaktveranstaltung der legendären Macy-Konferenzen in New York 1946 teilnahm, die eine wichtige Weichenstellungsfunktion für die sich entwickelnde kybernetische Bewegung innehatte. Heute ist er in erster Linie als ein Wegbereiter der der Gruppendynamik und Pionier der Human-Relations-Bewegung in Erinnerung, eine etwas einseitige Perspektive, die der Breite des vielfältigen Theorie- und Forschungsspektrums Lewins nicht gerecht wird.
Zum 125jährigen Geburtstag ist nun im Carl-Auer-Verlag ein von Klaus Antons und Monika Stützle-Hebel herausgegebener Sammelband zu Ehren Lewins erschienen. Beide arbeiten als Trainer und Dozenten für Gruppen- und Organisationsdynamik und haben eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen versammelt, die sich dem feldtheoretischen Ansatz von Kurt Lewin verpflichtet fühlen. In seinem Geleitwort zum Buch unterstreicht Heiner Keupp die Vielseitigkeit Lewins: „Wenn wir einen aktuellen Psychologieprofessor und sein Fachprofil mit dem von Kurt Lewin vergleichen, dann fällt zuerst auf, was für einen breiten Bildungshintergrund Kurt Lewin hatte: neben unterschiedlichsten Teilbereichen der Psychologie war er auch in der Philosophie, der Medizin, in der Physik oder der Biologie verankert und hat dieses Wissen auch in unterschiedlichsten Kontexten eingesetzt. Heute sind akademische Hochschullehrerkarrieren offensichtlich nur noch in einem engen Fachkorridor möglich, gefördert wird Expertenschaft in einem hochspezialisierten Teilbereich und nicht selten entsteht daraus auch ein fachlicher Tunnelblick. Es dürfte wenige Psychologen geben, die in so unterschiedlichen Bereichen wie der Wahrnehmungspsychologie, der Gestaltpsychologie, der Methodologie, der Jugendforschung, der Gruppendynamik, der Motivationspsychologie, der ökologischen Psychologie oder der Führungsforschung weltweit beachtete Impulse gegeben haben“ (S. 6). Dem kann man nur zustimmen. Insofern ist es sehr erfreulich, dass der dezidiert systemische Carl-Auer-Verlag das Jubiläum zum Anlass nimmt, an Kurt Lewin zu erinnern.
Den Herausgebern ist ein interessanter und umfassender Überblick über Leben und Werk von Kurt Lewin gelungen. Das Buch ist – neben Geleitwort und einem abschließenden Ausblick der Herausgeber – in drei große Abschnitte aufgeteilt. Zunächst finden wir biografische und konzeptuelle „Hinführungen“ zum Werk Lewins, im zweiten Abschnitt befinden sich Texte zur Aktualität der Feldtheorie Lewins und im dritten Teil werden wissenschaftshistorische Aspekte von Lewins Werk beleuchtet. Schön, dass den einzelnen Beiträgen jeweils Fotos von Lewin aus unterschiedlichen Lebensabschnitten vorangestellt werden. Abgerundet wird der Band durch ein nützliches Glossar Lewinscher Begriffe (die meisten Aufsätze dieses Bandes haben sich übrigens – und nicht ganz nachvollziehbar auf die Ausdrucksweise „Lewinisch“ statt „Lewinsch“ festgelegt) sowie ein Verzeichnis seiner Schriften.
In seinem Beitrag über die Person Lewins („der unbekannte Bekannte“) beschreibt Helmut E. Lück, Experte für die Geschichte der Psychologie und Lewin-Biograf, Kurt Lewin in seinen verschiedenen Facettten als patriotischen Soldaten, Wirtschaftspsychologen, Wissenschaftstheoretiker, Persönlichkeitstheoretiker, Feldtheoretiker, als amerikanischen Demokraten, als Zionisten, Netzwerker, Gruppendynamik und Aktionsforscher. Schon früh in seiner Laufbahn wird erkennbar, dass Lewins Neugier sich in alle möglichen Richtungen ausdehnt. Mit professoralem Statusgehabe und disziplinären Engführungen hatte er nicht viel am Hut, vielmehr hatte er Freude an einem lebendigen Austausch mit KollegInnen und StudentInnen, die er entsprechend förderte und unterstützte.
Lewin ist für sein Konzept des „Feldes“ berühmt geworden, der Versuch, die Kräfte, die auf Menschen und Gruppen wirken, und deren Dynamik mithilfe einer topologischen Metapher zu bestimmten. Klaus Antons nimmt einen kurzen Text Lewins mit dem Titel „Kriegslandschaft“, den er als junger Soldat im Jahre 1917 verfasst hat, zum Ausgangspunkt, von dem aus der „Grundakkord seines Denkens“ rekonstruiert werden kann. Das „Feld“ wird hier in seiner topographischen Konstruktion erkennbar und es wird deutlich, dass es sich hier eben nicht um ein abstraktes Konzept handelt, sondern um die jeweils subjektiv erfahrene Landschaft, die sich je nach Kontext unterschiedlich darstellt: als Landwirtschaftsraum, Kriegsgebiet, ästhetische Naturerfahrung u.ä.
Marianne Soff und Monika Stützle-Hebel beschreiben dann die Feldtheorie im Detail. Dieses Kapitel soll Aufschluss geben über den Versuch Lewins, einer formalisierte, um nicht zu sagen mathematische Beschreibung von Feldphänomenen zu entwickeln. Theoretische Postulate werden durch grafisch abgesetzte Textkästen mit Illustrationen aus einem konkreten Gruppenprozess näher erläutert. Freilich bleibt der Text bei der (anschaulichen) Darstellung stehen, eine kritische oder wissenschaftshistorische Einordnung des Versuches einer Mathematisierung psychosozialer Dynamiken mittels Vektorrechnung, Feldtheorie und Topologie bietet er nicht. Dabei wäre dies gerade vor dem Hintergrund seiner späten Kontakte mit dem Kreis der Kybernetiker, die dieses Problem mit ganz anderen Mitteln angegegangen sind, eine Erörterung wert gewesen.
Die anwendungsorientierten Beiträge sind dann in ähnlicher Weise so angelegt, für bestimmte Praxisbereiche jeweils aufzuzeigen, wie die Lewinschen Begriffe zur Beschreibung und Analyse der vorfindbaren Dynamik eingesetzt werden können. Monika Stützle-Hebel zeigt anschaulich und nachvollziehbar, welche Anhaltspunkte die Feldtheorie für die Begleitung von Organisationsentwicklungs- und Veränderungsprozessen geben kann, und zwar am Beispiel der Frage, wie Frauen in Organisationen in Führungspositionen gelangen können – und warum das oft selbst dann so schwierig ist, wenn den beteiligten Protagonisten gar keine Frauenfeindlichkeit unterstellt werden kann.
Ein zweiter Praxis Beitrag von Thomas Stocker untersucht die Brauchbarkeit der Feldtheorie Lewins als Basiskonzept für die betriebliche Weiterbildung von Führungskräften. Ein weiterer Beitrag von Erika Spiess bezieht sich auf die Anwendung der Feldtheorie in der Wirtschaft-, Organisationsteam- und Konsumentenpsychologie. Diese Beiträge vermitteln zwar einen guten Einblick in die feldtheoretischer Perspektive, stellen aber leider keiner Verbindung zu aktuellen Konzepten der Organisationstheorie und -beratung her. Damit wird gewissermaßen der Eindruck erweckt, als als seien die Lewinscher Konzepte immer noch State of the Art. Kurt Lewin hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der human-relations-Bewegung, die in den sechziger und siebziger Jahren hierzulande im Feld der Organisationsberatung eine dominante Rolle gespielt hat. Der gruppendynamische Blick auf Teams und Organisationen hat immer noch seine große Berechtigung, ist aber in den letzten Jahrzehnten durch vielfältige Entwicklungen im Rahmen der Organisationstheorie stark relativiert worden. Von diesen Entwicklungen erfährt der Leser allerdings recht wenig. Bei allem Respekt für den Meister durch die Schüler wäre hier eine kritische Einordnung und Kontrastierung mit anderen Konzepten, die sich auf den gleichen Gegenstandsbereich beziehen, zu wünschen gewesen.
Wie schon einleitend bemerkt, hat sich Lewin mit einer Vielzahl von Fragestellungen befasst und Gruppen unter anderem 1940 auch einen Artikel über „den Hintergrund von Ehekonflikten“ geschrieben. Dieser Text wird von Hans Jellouschek und Klaus Antons in einem gemeinsamen Beitrag aufgegriffen und in seiner Anschlussfähigkeit für die Konzepte gegenwärtiger Paartherapie verdeutlicht: „Lewin vertritt … eine Auffassung von nüchterner, reifer Partner-Liebe, die alles andere als romantisch und Gefühls überschwänglich ist, jedoch sehr geeignet, im Alltag einer Paarbeziehung den unterschiedlichsten Widrigkeiten standzuhalten“ (S. 180).
Ein Phänomen, das Lewin unter gestalttheoretischen Gesichtspunkten beschäftigt hat und von einer seiner Mitarbeiterinnen empirisch untersucht worden ist, ist das Konzept der „psychischen Sättigung“, die sich einstellt, wenn Mikro- oder Makrohandlungen immer wieder repliziert werden. Dieses Konzept macht Marianne Soff zum Ausgangspunkt eines Textes zum Verständnis von Burn-Out. Auch wenn hierin ein origineller und lohnenswerter Aspekt zum Verständnis von Erschöpfungszuständen liegt, stellt sich doch die Frage, ob Burn-Out Phänomene mit einem solchen Basiskonzept hinreichend beschrieben werden können. Auch hier vermisst man Anschlüsse an aktuelle sozialwissenschaftliche und psychologische Burn-Out-Diskurse, die ja mittlerweile eine ziemliche Komplexität erreicht haben.
Heller Gebhardt befasste sich mit ihrem Text mit „feldtheoretisch fundierter Diagnose und Intervention in Supervision und Teamentwicklung“. Ihr gelingt es gut, die Lewinsche Begrifflichkeit anhand praktischer Beispiele aus ihrer Supervisionstätigkeit zum Leben zu erwecken und betont dabei die Funktion einer ergänzenden Perspektive, die die Feldtheorie Lewins in Bezug zu einer systemischen Betrachtungsweise einnehmen kann: „Damit weist die Feldtheorie Lewins über die systemischen Theorieansätze hinaus, die den Aspekt der Repräsentanz der Umwelt in der Wahrnehmung des einzelnen nicht berücksichtigen. Die systemischen Ansätze untersuchen zwar die Wechselwirkung und interaktionelle Verschränkung von Handlungen. Sie richten ihren Blick allerdings nicht auf die psychologische Verarbeitung dieser Fakten innerhalb der handelnden Personen. Dadurch vernachlässigen sie eine Verständnisebene, ohne die für die zu beratenden Probleme keine angemessene Lösung gefunden werden können.“ (S. 225).
Im „wissenschaftshistorischen“ Teil finden sich zwei Artikel. Werner Zimmer-Winkelmann schildert das gesellschaftspolitische Engagement von Lewin, das sich in unterschiedlichen Facetten geäußert hat. Lewin war ein überzeugter Anhänger der US-amerikanischen Demokratie und arbeitete auch engagiert mit staatlichen Einrichtung zusammen. Seine Erfahrungen als Jude in Deutschland führten zu einer intensiven Beschäftigung mit der Frage, wie Führung (in Organisationen wie in der Gesellschaft) beschaffen sein muss, damit Kooperation und Mitbestimmung gelingen und Ausgrenzung und Unterdrückung vermieden werden können. Die Arbeit in und mit Gruppen hatte für Lewin daher auch einen politisch-emanzipatorischen Charakter, der für die Human-Relations-Bewegung in den 60er und 70er Jahren von zentralem Stellenwert war (von dem heute aber nicht mehr viel übrig geblieben ist).
Jürgen Kriz als Vertreter der Gestalttheorie, der Humanistischen Psychotherapie und des Systemischen Ansatzes bleibt es vorbehalten, Kurt Lewin als „frühen Systemiker“ zu porträtieren. Er zeigt den Ursprung der Lewinschen Konzepte in der Berliner Gestaltpsychologie (mit Wertheimer, Köhler und Koffka) und macht die impliziten Verbindungen und Analogien von feldtheoretischen Begriffen und etwa synergetischen Konzepten deutlich. Hier finden wir die ideengeschichtliche Einordnung von Konzepten und Begriffen, von deren Perspektive auch der eine oder andere Beitrag in diesem Band profitiert hätte. Kriz resümiert: „Lewin (hat) mit seiner Feldtheorie viele Konzepte der heutigen Systemtheorie vorweggenommen. Keineswegs zufällig finden sich in den Schriften des Physikers und Begründers der Synergetik, Hermann Haken, viele Verweise auf die Gestaltpsychologie und auch Kurt Lewin. Mehr jedenfalls, als in vielen heutigen deutschsprachigen Lehrbüchern der Psychologie. Auch die praktische Umsetzung dieser Konzepte (…) ist mit zentralen Vorgehensweisen heutiger systemischer Praxis in Therapie, Beratung und Coaching faktisch deckungsgleich. Dass sich beide Richtungen bzw. Entwicklungsströme gegenseitig in den letzten Jahrzehnten befruchtet haben, hat Gemeinsamkeiten gefördert und Differenzierungen ermöglicht. Lewin kann daher durchaus als früher Systemiker bezeichet werden“ (S. 313).
Insgesamt bietet das Buch einen lohneswerten Blick auf einen Menschen und sein Werk, die im aktuellen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs nur noch Wenigen bekannt sind. Dafür ist den Herausgebern und dem Verlag zu danken. Die Faszination des Lewinschen Ansatzes für die praktische Arbeit mit Gruppen, Teams und Organisationen wird hier sehr nachvollziehbar, auch wenn gelegentlich die Anwendung von Begriffen auf praktisches Handeln etwas eindimensional – weil aus historischen und fachlichen Kontexten herausgelöst – erscheint. So wird die Zeitgebundenheit, die die Feldtheorie ja mit jeder anderen sozialwissenschaftlichen Theorie teilt, nicht wirklich erkennbar. Sieht man davon ab, eröffnet einem das Buch aber einen wertvollen Zugang zu einer der eindrucksvollsten Wissenschaftspersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.
Klaus Antons & Monika Stützle-Hebel (Hrsg.) (2015): Feldkräfte im Hier und Jetzt. Antworten von Lewins Feldtheorie auf aktuelle Fragestellungen in Führung, Beratung und Therapie
Mit einem Geleitwort von Heiner Keupp
386 Seiten, Kt.
Preis: 29,95 €
ISBN 978-3-89670-991-2
Verlagsinformation:
Kurt Lewin, der Begründer der Feldtheorie, kann als kongenialer Vorläufer des zeitgenössischen systemischen Denkens und Handelns betrachtet werden. Dieser Sammelband befasst sich mit der Frage, was eine feldtheoretische Sichtweise an „Mehrwert“ leisten kann, wenn sie auf aktuelle Fragestellungen in Führung, Beratung und Therapie angewandt wird. Darüber hinaus geht das Buch dem spannenden Phänomen nach, wieso Lewin zwar als einer der bedeutendsten Wegbereiter der Psychologie des 20. Jahrhunderts hoch gelobt wird, jedoch wissenschaftlich wie praktisch nur oberflächlich rezipiert worden ist.
Mit Beiträgen von: Klaus Antons • Hella Gephart • Hans Jellouschek • Jürgen Kriz • Helmut Lück • Erika Spieß • Marianne Soff • Thomas Stöcker • Monika Stützle-Hebel • Werner Zimmer-Winkelmann.
Über die Herausgeber:
Klaus Antons, Dr. phil. habil., Dipl. Psych., ist nach akademischer Tätigkeit und Leitung einer Bildungseinrichtung seit 1982 freiberuflicher Trainer für Gruppendynamik (DGGO). Außerdem ist er in Supervision (DGSv), Coaching, Persönlichkeitsentwicklung, Organisations- und Konfliktberatung sowie Psychotherapie tätig. Er ist Autor verschiedener Werke, vorwiegend zur Gruppendynamik.
Monika Stützle-Hebel, Dr. phil., ist Psychologin, Trainerin für Gruppendynamik und Gestalttherapeutin. Seit über dreißig Jahren beschäftigt sie sich als Trainerin, Dozentin, Supervisorin, Coach und Beraterin mit Fragen der Gruppen- und Organisationsdynamik in den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern. Nach acht Jahren als Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsdynamik (DGGO) machte sie es sich zur Aufgabe, das geistige Erbe Kurt Lewins für heutige Fragestellungen fruchtbar zu machen.