systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

Familiendynamik 2022

Heft 1

Schlippe, Arist von & Christina Hunger-Schoppe (2022): Editorial: Erben – eine Belastungsprobe für die Familie. In: Familiendynamik, 47 (1), S. 1-1. 

Abstract: Das Thema »Erben« berührt in vielschichtiger Weise familiäre Verhältnisse. Oftmals geht es um die Auseinandersetzung mit dem Verlust eines geliebten Menschen, für dessen Verarbeitung die Seele Zeit braucht. Ist die Familie gut aufgestellt, erlebt sie sich auch an diesem Schwellenübergang in ein neues soziales System gut verbunden und passend flexibel, um mit den neuen Herausforderungen umzugehen. Nicht selten wirken Erbvorgänge jedoch auch wie ein »Brennglas«, das v. a. konflikthafte Beziehungen sichtbar macht. Erbvorgänge können daher als beziehungsorientierter Stresstest verstanden werden, der alle Ebenen soziopsychobiologischer Prozesse betrifft. An den Folgen unglücklich verlaufender Erbauseinandersetzungen haben Familien oft lange zu tragen. Umso erstaunlicher ist es, dass das Thema »Erben« in der therapeutischen Landschaft kaum vorkommt, auch von Seiten der systemischen Therapie lassen sich nur wenige Ansätze finden. Diesem »blinden Fleck« möchten wir mit unserem Schwerpunktheft zum Thema Erben begegnen.

Schlippe, Arist von (2022): Das Testament schafft Fakten. Erben, Vererbung und Gerechtigkeit. In: Familiendynamik, 47 (1), S. 4-11. 

Abstract: Wenige Themen können eine Familie so belasten wie ein Erbvorgang. Hier können sich alte Konflikte und ungelöste Familienthemen zuspitzen – mit möglicherweise dauerhaften Schäden für die Familienbeziehungen. Mit dem Thema eng verbunden sind die jeweiligen Vorstellungen von Gerechtigkeit und die sehr unterschiedlichen Logiken, wie diese verstanden werden kann. Die Verrechnungsweisen der Pflichten und Verdienste eines Familienmitglieds unterscheiden sich nach Sicht des Betroffenen und seiner Geschwister nicht selten deutlich voneinander. Manchmal kommen noch »psychologische Kontrakte«, also implizite, angedeutete Versprechungen hinzu, die von Seiten des Empfängers oft ganz anders interpretiert wurden als vom Geber gemeint. Wenn diese Diskrepanz erst durch das Testament enttäuschend »an den Tag« gebracht wird, sind heftige emotionale Turbulenzen zu erwarten.

Wempe, Christiane (2022): Redet ihr noch oder habt ihr schon geerbt? Familienpsychologische Über­legungen zum Thema Erbe. In: Familiendynamik, 47 (1), S. 12-21. 

Abstract: Das bisher vernachlässigte Thema Erben und Vererben – als ein Beispiel von Geldflüssen in Familien allgemein – bietet aus familienpsychologischer Sicht einen vielversprechenden Ansatz, Einblick in typische Familienmuster zu gewinnen. Materielle Verteilungsmuster haben einen hohen symbolischen Wert und spiegeln die Qualität der einzelnen Familienbeziehungen auf prägnante Weise wider. Für die Eltern ist das Vererben der letzte Akt der Ressourcenvergabe, mit dem sie über ihren Tod hinaus Sorge für ihre Kinder tragen. Die Motive, die Eltern beim Vererben leiten, sind vielschichtig und nicht immer mit der Norm im Einklang, alle Kinder gleich zu behandeln. Unterschiedliche Zuwendungen für einzelne Kinder kommen in der Familie oft ganz anders an, als sie von den Eltern gemeint sind. Erbschaften, die die Erwartung der Gleichbehandlung verletzen, lösen daher heftige emotionale Reaktionen bei den Kindern aus. Daraus resultierende Unstimmigkeiten können bis zum Auflösen von Familienverbänden führen. Für die Kinder ist das Erben häufig ein Kristallisationspunkt geschwisterlicher Rivalität, die von Anfang an durch elterliche Ungleichbehandlung geschürt wird und nun am Ende eine neue Dynamik entfaltet.

Heintel, Peter (2022): Erben und Vererben. In: Familiendynamik, 47 (1), S. 22-31. 

Abstract: »Hast du schon dein Testament gemacht?« Nicht jeder kann diese Frage mit einer freundlichen Erinnerung verbinden; auch ihre oft sachliche Berechtigung kann nicht so ohne Weiteres in nüchterner Rationalität aufgenommen werden. Zuviel wird mit ihr angestoßen und leicht wird als Mahnung verstanden, was der Ordnung halber gesagt werden will. Unbehelligt und daher vergleichsweise glücklicher erscheint daher oft der, von dem man annimmt, dass er ohnehin nichts zu vererben hat. Ganz offensichtlich berührt die Frage mehr als ein Blatt Papier – eine »Letztverfügung« (schon das Wort muss zu denken geben) – und eine Güteraufteilung. Sie bringt vieles zum Mitschwingen und nicht nur Angenehmes. Die Wissenschaft würde auf ihre Art diese Tatsache als »emotionelle Überdeterminiertheit« bezeichnen; mit Erbe und Vererben wird ein ganzer Gefühlskosmos angesprochen, weit mehr als die bloße Sache z. B. juristisch gefasst meint.

Kitta, Philipp, Christina Josupeit, Jan Josupeit & Denis Köhler (2022): »ich schaff’s«. Pilot-Evaluation eines systemisch-integrativen Beratungsprogramms in der Schulsozialarbeit. In: Familiendynamik, 47 (1), S. 32-43. 

Abstract: Der Artikel fasst die Ergebnisse einer dreimonatigen Evaluation des »ich schaff’s«-Programms zusammen, die im Beratungskontext der Schulsozialarbeit einer Hauptschule durchgeführt wurde. Ziel war es, die Wirkung des Programms auf die personen- und umgebungsbezogenen Ressourcen der Schüler:innen im Unterschied zu einer Vergleichsgruppe zu messen. Die Intervention richtete sich an Schüler:innen, die einer Vielzahl von Risikofaktoren ausgesetzt waren und Belastungsreaktionen im schulischen Alltag zeigten. Die Evaluationsergebnisse legen nahe, dass jene Schüler:innen, die nach dem flexiblen 15-schrittigen »ich schaff’s«-Programm beraten wurden, im Gegensatz zur Vergleichsgruppe signifikante Veränderungen im Empathie-, Selbstwirksamkeits- und Selbstwertempfinden erreichen konnten. Hinzu kamen positive Veränderungen im Erleben der schulischen Integration. Die Einführung des Programms in die schulsozialarbeiterische Praxis scheint demnach empfehlenswert. Gleichzeitig sind weitere Evaluationen notwendig, um die Stabilität der Ergebnisse zu überprüfen. Letztlich ermutigen die hier vorgestellten Ergebnisse zu einer evaluationsbegleiteten Praxis, um die feldübergreifende wissenschaftliche Anerkennung systemischer Verfahren weiter zu fördern.

Jansen, Till (2022): Das Lachen des Konstruktivismus. In: Familiendynamik, 47 (1), S. 44-50. 

Abstract: Der Konstruktivismus ist eine paradoxe Angelegenheit. Auf der einen Seite behauptet er, dass die Welt nur eine Konstruktion sei. Auf der anderen Seite belegt er diese Argumentation mit Aussagen über die Welt – etwa über Hirn- oder Kommunikationsstrukturen. Er nimmt an, dass jede Aussage von einem Beobachter getätigt wird – geht aber davon aus, dass diese Annahme auch dann stimmt, wenn gerade kein Beobachter da ist, der sie tätigt. Als erkenntnistheoretische Position findet der Konstruktivismus seine Einheit im Widerspruch. Ernsthaft kann man ihn so kaum vertreten – lachend jedoch schon.

Rohr, Dirk, Kristin Spath & Ellen Aschermann (2022): Genogramme in Beratung und Therapie. Teil 1: Übersicht über die aktuelle Forschung. In: Familiendynamik, 47 (1), S. 52-61. 

Abstract: Genogramme sind ein fester Bestandteil in Therapie und Beratung. Der vorliegende Artikel gibt auf Basis einer systematischen Literaturrecherche (Cooper, 2017) einen umfassenden Überblick über die Forschungsliteratur zu Genogrammen. Es werden die Erweiterungen des Standardgenogramms für bestimmte Zielgruppen und Beratungssettings dargestellt und Forschungsergebnisse zum Nutzen von Genogrammen in Ausbildung und Supervision analysiert. Die Notwendigkeit der psychometrischen Überprüfung von Genogrammen wird diskutiert. Die vorgestellte Methode der systematischen Literaturrecherche möchte Forscher*innen dazu einladen, ihre zukünftigen Beratungs- und Therapieforschungen mit diesem Vorgehen zu ›untermauern‹. Der Artikel möchte darüber hinaus Berater*innen und Therapeut*innen inspirieren, verschiedene Erweiterungen der Genogrammarbeit abhängig von Zielgruppe und Setting in der Praxis zu erproben.

Lüscher, Kurt (2022): »Die Emotionen können hohe Wellen schlagen wegen eines schwarzen Rollkragenpullovers oder einer Villa«. Ein transdisziplinäres Gespräch zwischen der Notarin Natalia Schmuki und dem Soziologen Kurt Lüscher zum Thema Vererben und Erben. In: Familiendynamik, 47 (1), S. 62-65. 

Abstract: Wer die Familiendynamik zur Hand nimmt, erwartet vorab Berichte darüber, wie private psychische und soziale Beziehungen erlebt und gestaltet werden. Das Thema Vererben und Erben erinnert daran, dass diese Beziehungen biologisch geprägt, doch gleichzeitig kulturell, ökonomisch und rechtlich eingebettet sind. Dementsprechend gewinnen nicht nur Familientherapeutinnen und -therapeuten, sondern auch andere Fachleute Einsichten darüber, wie heutzutage »Familie« gelebt wird. Davon handelt das folgende Gespräch.

Riedel-Wendt, Fanja (2022): Der besondere Fall: »In den Fußstapfen meines Vaters«. Individuation unter besonderen Umständen. In: Familiendynamik, 47 (1), S. 66-69. 

Abstract: Herr U. war einer meiner ersten ambulanten Patienten. Allein das macht die Begegnung mit ihm für mich zu einem »besonderen Fall«. Damals absolvierte ich die 600 ambulanten Stunden meiner verhaltenstherapeutischen Ausbildung in der Ambulanz meines Ausbildungsinstituts. Heute nehme ich selbst Prüfungen ab, und so habe ich im vergangenen Jahr beim Lesen der Examensfälle meinen eigenen Fall immer wieder hervorgeholt. Gerne würde ich wissen, wie es Herrn U., der zum Zeitpunkt der Aufnahme 21 Jahre alt war, heute geht. Ich wüsste zu gern, welches Leben er führt und ob er seinen eigenen Weg neben allen familiären Verpflichtungen gefunden hat.

Fischer, Hans Rudi (2021): Mut haben, die eigenen Überzeugungen infrage zu stellen. Annäherung an ein geglücktes Leben – zum Tode von Helm Stierlin. In: Familiendynamik, S. 70-78. 

König, Oliver (2022): Rezension – Jens Elberfeld (2020): Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. (Campus). In: Familiendynamik, 47 (1), S. 80-83. 

Molter, Haja (2022): Rezension – Rudi Ballreich (Hrsg.)(2020): Systemische Perspektiven. Die Pioniere der systemischen Beratung im Gespräch. Stuttgart (Concadora). In: Familiendynamik, 47 (1), S. 83-84. 

Schmidt, Stefan (2022): Rezension – Matthias Ochs, Maria Borcsa & Jochen Schweitzer (2020): Systemic Research in Individual, Couple and Family Therapy and Counseling. Basel (Springer International). In: Familiendynamik, 47 (1), S. 84-86. 

Lüscher, Kurt (2022): Diagramme: Thesen zeichnen. In: Familiendynamik, 47 (1), S. 87-87. 


Heft 2

Oelkers-Ax, Rieke & Christina Hunger-Schoppe (2022): Editorial: Kollektive Interventionskulturen haben ­Konjunktur. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 89-89. 

Fischer, Hans Rudi, Arist von Schlippe, Christina Hunger-Schoppe, Rieke Oelkers-Ax, Jörn Borke & Thomas Kleffner (2022): Zum Abschied von Ulrike Borst aus der ­Herausgebergruppe der Familiendynamik. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 92-93. 

Vorbringer, Elke, Sabine Schmitz & Hans Knoblauch (2022): Revolutionäre Kräfte in der Psychiatrie. Erfahrungen mit systemtherapeu­tischem Arbeiten im psychiatrischen Krankenhaus. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 94-103. 

Abstract: Der Artikel beschreibt unsere Erfahrungen mit der Einführung von SYMPA (Systemtherapeutische Methoden in der Psychiatrischen Akutversorgung) in einer psychiatrischen Klinik. Beschrieben wird, welch radikales Veränderungspotenzial dem systemtherapeutischen Konzept innewohnt – nicht nur im Hinblick auf eine verbesserte Behandlung für Patient:innen, sondern auch in Bezug auf Organisationskultur und Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team. Unsere Erfahrungsberichte zeigen, wie eine systemische Haltung es ermöglichte, Altes umzuwälzen (zu revolutionieren im Sinne des lateinischen Begriffs revolvere), infrage zu stellen und neue Strukturen zu entwickeln (im Sinne des lateinischen Begriffs evolvere). Mit Einführung von SYMPA wurden Wertschätzung, Respekt und die Gleichberechtigung aller im Behandlungsprozess Aktiven gefördert. Dies erforderte ein Umdenken auf allen Ebenen, von der Klinikleitung bis hin zu jedem einzelnen Mitarbeitenden. Zugleich wurde die Selbstwirksamkeit aller Beteiligten – von Patient:innen, Angehörigen und Mitarbeitenden – gestärkt und die Zufriedenheit erhöht. Näher beschrieben wird insbesondere die Wandlung und Stärkung der Rolle der Pflege.

Nicolai, Elisabeth & Franziska Gaese (2022): SYMPA und psychiatrische Krisen bei Menschen mit Intelligenzminderung. Kontextbedingungen von Gelingen und Scheitern. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 104-112. 

Abstract: Systemische Methoden lassen sich in akutpsychiatrische Settings implementieren, wie im SYMPA-Projekt (Systemtherapeutische Methoden in der Psychiatrischen Akutversorgung) immer wieder gezeigt werden konnte. Zunächst wird ein Einblick in die Genese und Philosophie des SYMPA-Projektes von 2002 bis heute gegeben. Im Fokus steht dann die Anpassung von SYMPA an den besonderen Bedarf von sowohl Patient:innen mit intellektueller Behinderung und psychischer Erkrankung wie auch ihren Behandler:innenteams. ­SYMPA wurde in einer spezialisierten Station mit Ambulanz und den kooperierenden Einrichtungen der Behindertenhilfe implementiert und evaluiert. Nicht aus den Ergebnissen der aufwändigen Begleitforschung, sondern aus der diskursiven Prozessevaluation zweier Beteiligter ist dieser Beitrag entstanden. Wir gehen der Frage nach, was wir über die Anwendungsmöglichkeiten und -grenzen von systemischen Methoden in einem Arbeitsfeld mit zumeist nicht sprechenden Patient:innen gelernt haben, welche strukturellen Bedingungen auf einer psychiatrischen Station und darüber hinaus auf Leitungsebene förderlich oder hinderlich dafür sind, SYMPA zu etablieren, und nicht zuletzt, wie sich SYMPA auf die Zusammenarbeit mit den Angehörigen der Patient:innen oder kooperierenden Einrichtungen auswirkt.

Wehmeyer, Meike (2022): Systemische Ansätze in der psychiatrischen Behandlung von Menschen mit Intelligenzminderung. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 114-122. 

Abstract: Das Leben mit der Doppeldiagnose Intelligenzminderung und psychische Störung ruft in der Regel viele Akteur:innen auf den Plan. Insbesondere aggressive Verhaltensstörungen belasten das Miteinander von Betroffenen und ihren familiären sowie beruflichen Helfer:innen und ziehen gehäuft psychiatrische Behandlungen nach sich. Um Belastungen aufseiten von Betroffenen und Unterstützern zu verringern und deren Wohlbefinden zu verbessern, wurde zwischen 2014 und 2020 erstmals das Trainingsprogramm SYMPA (Systemtherapeutische Methoden in der Psychiatrischen Akutversorgung) auf den Kontext geistige Behinderung übertragen und beforscht. Eine daraus hervorgegangene Studie ermittelte Präventiv-Strategien für eine gelingende Zusammenarbeit mit Patient:innen bzw. in Multi-Helfersystemen sowie Interventions-Strategien, um drohende Verhaltens-Eskalationen zu bewältigen. In diesem Beitrag werden diesbezügliche Schlussfolgerungen für systemisch orientierte Weiterbildungs- und Arbeitskontexte erörtert.

Förster, Jens & Manfred Nußbaum (2022): Vorsicht, ­Diskriminierung! Sozialpsychologische Forschung zu unbewusstem Stereotypen-Priming und ihr Nutzen für die Familientherapie. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 124-132. 

Abstract: Ausgehend vom Paradigma der sozialen Informationsverarbeitung, wird die Wirkung von Stereotypen diskutiert. Auch im therapeutischen Alltag können sie unbewusst Entscheidungen und Verhalten beeinflussen und einer reflektierten Begegnung auf Augenhöhe im Weg stehen. Es werden einige Stereotype benannt, die in unserer Kultur über bestimmte Positionen in der Familie, Lebensalter oder Familienkonstellationen und deren Eigenschaften bestehen (z. B. über Erstgeborene, Pubertierende, Großeltern, Patchwork-Familien). Neben Kosten und Nutzen solcher Effekte sollen Ansätze zum Umgang mit Stereotypen und Vorurteilen aufgezeigt werden. Ziel ist es, unbewusste Diskriminierung im Therapiesetting zu minimieren.

Aschermann, Ellen, Kristin Spath & Dirk Rohr (2022): Genogramme in ­Beratung und Therapie. Teil 2: Ergebnisse einer Mixed-Methods-Studie in Deutschland. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 134-140. 

Abstract: In der vorliegenden Studie wurde untersucht, welche Bedeutung und welche Funktionen Genogramme in der Beratungspraxis in Deutschland einnehmen. Der Artikel gibt Teil-Ergebnisse des Forschungsprojekts InGeno wieder, in dem – auf Basis der zu erforschenden ›tatsächlichen‹ Nutzung von Genogrammen – eine benutzerfreundliche Software zur Genogrammerstellung entwickelt wird. 108 Berater*innen nahmen an der quantitativen Online-Fragebogenstudie teil. Die Daten wurden deskriptiv ausgewertet und gemeinsam mit den qualitativen Ergebnissen der Vor-Studie von Rohr (2017) zusammenfassend analysiert. Die Ergebnisse zeigen: Genogramme sind für diejenigen Berater*innen, die sie in ihrer Beratungspraxis einsetzen, von zentraler Bedeutung. Sie sind ein fester Bestandteil ihrer Beratungstätigkeit, werden in einer Vielzahl von Beratungssituationen gemeinsam mit den Klient*innen genutzt und über den Beratungsverlauf hinweg weiterverwendet und -bearbeitet. Hierbei erfüllt die Genogrammarbeit vielfältige Funktionen, wie beispielsweise Informationen über die Klient*innen zu gewinnen, transgenerationale Muster und Beziehungsdynamiken zu erkennen, die Identität der Klient*innen zu stärken sowie deren Ressourcen aufzudecken. Abschließend werden im Beitrag die Vor- und Nachteile von Standardisierung und Kreativität in der Arbeit mit Genogrammen diskutiert.

Rüsen, Tom A. & Ann-Kristin Hörsting (2022): Der besondere Fall: Den psychischen Belastungen in einer Unter­nehmerfamilie als duales Beraterteam begegnen. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 142-146. 

Abstract: Verhaltensauffälligkeiten werden im psychiatrischen Kontext u. a. als »psychische Störungen« bezeichnet und können alle Lebensbereiche beeinträchtigen. Überschneiden sich die Lebensbereiche Familie und Beruf, wie dies in Familienunternehmen der Fall ist, können die negativen Auswirkungen noch deutlicher zutage treten. Unternehmerfamilien professionalisieren sich meist durch Einführung einer »Family Governance« (Schlippe et al., 2017) – einer Form der Selbstorganisation der Familie als Eigentümerfamilie. Bei der hierfür notwendigen familienstrategischen Entwicklungsarbeit klären sie meist mithilfe von Beratern oder einem ganzen Beraterteam, welche Werte, Ziele und zukünftigen Entscheidungsprozesse ihnen wichtig sind (Rüsen et al., 2021). Dabei können »psychische Belastungen« in Form von Verhaltensauffälligkeiten einzelner oder mehrerer Familienmitglieder das primäre Ziel der familienstrategischen Entwicklung blockieren. Psychische Erkrankungen innerhalb einer Unternehmerfamilie zu thematisieren ist gleichwohl tabubehaftet (Rüsen, 2021), was ein genesungsförderndes Herangehen erschwert (Hörsting & Rüsen, 2021). Das folgende Fallbeispiel zeigt Möglichkeiten, wie ein duales Beraterteam (Psychiater und Berater) mit psychischen Belastungen einzelner Familienmitglieder während einer Familienstrategieentwicklung umging, um das ursprünglich vereinbarte (primäre) Beratungsziel zu erreichen.

Dittrich, Kerstin, Eva-Maria Greiner, Hans Lieb, Matthias Ochs & Christina Hunger-Schoppe (2022): ST meets VT. Ein Kongressbericht. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 148-149. 

Borst, Ulrike (2022): »Ein begnadeter Netzwerker«. Ulrike Borst im Gespräch mit Elisabeth (Liz) Nicolai über Jochen Schweitzer und das SYMPA-Projekt. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 156-158. 

Abstract: Für unsere Leser:innen will ich (UB) vorausschicken: Liz und ich sind seit vielen Jahren in vielen Kontexten verbunden. Dass es so gekommen ist, liegt ganz wesentlich am SYMPA-Projekt. Wir fragen uns heute noch manchmal, wo eigentlich genau der Anfang war … und denken, dass es für uns beide ein großer internationaler Kongress in Zürich war, den Rosmarie Welter-Enderlin ausgerichtet hat: »Rituale – Vielfalt in Alltag und Therapie« im Jahre 1999. Die Freude war groß, als Jochen Schweitzer mich wenige Monate später zu einer kleinen Arbeitstagung zu Organisationsentwicklung in psychiatrischen Institutionen einlud und ich Liz wiedertraf, inzwischen belesen mit ihrer Doktorarbeit »Wenn Krankenhäuser Stimmen hören«. Für mich waren das auch die ersten persönlichen Kontakte zu Jochen.

Kuhnert, Tanja & Mathias Berg (2022): Die Zukunft der Systemischen Therapie. Oder: Wer sind wir und wen interessiert das eigentlich? In: Familiendynamik, 47 (2), S. 160-161. 

Abstract: Im Zuge der wissenschaftlichen und spätestens durch die sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie im Jahr 2019 ist einiges in Bewegung geraten im systemischen Feld. Die Systemische Therapie ist seither in Deutschland Richtlinienverfahren für die Psychotherapie von Erwachsenen und bald auch für Kinder und Jugendliche. Was heißt das für Systemische (Familien-)Therapeut*innen, die eine dreijährige, zertifizierte Weiterbildung absolviert haben? Wird deren »nonformale« Weiterbildung weiterhin neben einer »Systemischen Psychotherapie« mit Approbation existieren können oder sollte bzw. muss sie sich zukünftig verändern, um weiterhin bestehen zu können? Es muss sich erst noch zeigen, welche Relevanz diese Weiterbildung (noch) haben wird, deren Inhalte sich bislang kaum mit einer ontologisierenden Feststellung von psychischen Erkrankungen bzw. deren »Heilung« beschäftigten, sondern stets alternative Konzepte lehrbar machten, wie z. B. die soziale Konstruktion und Aufrechterhaltung eines Problemsystems (sensu Ludewig). Was geschieht mit der Systemischen Therapie jenseits von Approbation und Heilauftrag?, fragten wir in unserem 2020 veröffentlichten Buch und meinten damit eben die verschiedenen Kontexte der Sozialen Arbeit und darüber hinaus, in denen seit Jahrzehnten erfolgreich systemisch-familientherapeutisch (ohne Approbation) gearbeitet wurde und wird. Dürfen die dort tätigen Fachkräfte sich zukünftig noch Systemische Therapeut*innen nennen? Oder wird diese Bezeichnung dann den approbierten Systemischen Psychotherapeut*innen vorbehalten sein?

Sauter, Aurora A. & Niels Braus (2022): Rezension – Jochen Schweitzer, Wilhelm Rotthaus & Björn Enno Hermans (2020): Das Ganze Systemische Feld. Verbandsentwicklung am Fallbeispiel der DGSF. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht). In: Familiendynamik, 47 (2), S. 164-165. 

Ochs, Matthias (2022): Rezension – Reinhard Stelter & Uwe Böning (2019): Coaching als mitmenschliche Begegnung – Die Kunst zu verweilen. Wiesbaden (Springer). In: Familiendynamik, 47 (2), S. 165-166. 

Lüscher, Kurt (2022): Mentoring. In: Familiendynamik, 47 (2), S. 167-167. 


Heft 3

Borke, Jörn (2022): Editorial: Innere Bilderwelten leiten und verleiten …. In: Familiendynamik, 47 (3), S. 169-169. 

Oelkers-Ax, Rieke (2022): Vorstellung der neuen Herausgeberin: Rieke Oelkers-Ax. In: Familiendynamik, 47 (3), S. 172-172. 

Borke, Jörn (2022): Vorstellung des neuen Herausgebers: Jörn Borke. In: Familiendynamik, 47 (3), S. 173-173. 

Blanc, Ina & Brian Cardini (2022): Was passiert, wenn der Drache statt Feuer plötzlich Seifenblasen spuckt? Kinderzeichnungen im Familien­setting. In: Familiendynamik, 47 (3), S. 174-183. 

Abstract: Im Einzel- wie im Familiensetting kann das Potenzial von Kinderzeichnungen in allen Phasen des Beratungsprozesses sinnvoll genutzt werden. Beratende können mit ihrer Hilfe nicht nur Informationen gewinnen, sondern auch erste Hypothesen generieren. Darüber hinaus ist das Zeichnen insbesondere für Kinder geeignet, denen es aus unterschiedlichen Gründen schwerfällt, sich sprachlich zu äußern. Gefühle und bestimmte Problemsituationen wie auch Lösungsideen können sie stattdessen kreativ-bildnerisch darstellen. Kinderzeichnungen können so beziehungsfördernd, strukturierend und inspirierend wirken, zudem können sie festgefahrene Dynamiken sowie Ansätze für Veränderungen sichtbar machen. Nach einer kurzen historischen Einführung zeigen die Autor:innen anhand konkreter Fallbeispiele, wie die Arbeit mit Kinderzeichnungen den Beratungsprozess bereichern und vertiefen kann.

Dreßler, Diana (2022): »Dann sollen sie nicht so viele Kinder bekommen«. Die Wirkmächtigkeit von Familien- und Mutterbildern am Beispiel transstaatlicher Mutterschaft. In: Familiendynamik, 47 (3), S. 184-191. 

Abstract: Die Anforderungen, die an Mütter gestellt werden, sind auch und vor allem im 21. Jahrhundert unverändert hoch und widersprechen sich zum Teil, besonders im Kontext schwieriger sozio-ökonomischer Umstände. Wenn Mütter versuchen, diesem hohen Standard gerecht zu werden, bedeutet dies ein hohes Maß an Entbehrungen für ihr eigenes Leben und führt zudem zu einer Tradierung geschlechtsspezifischer Rollenmuster und Familienbilder. Am empirischen Beispiel mütterlicher Migration werden die Widersprüche zwischen dem Ideal, welches sich in der öffentlichen Debatte widerspiegelt, und der praktischen Realisierbarkeit besonders deutlich. Der Beitrag zeigt Implikationen dieser Widersprüche für das mütterliche Selbstverständnis und die Bedeutung der Ergebnisse für die (sozial-)pädagogische Arbeit mit betroffenen Müttern.

Seidel, Fränze (2022): Zurückgelassene Kinder in der Republik Moldau. Gesellschaftliche Bilder und ­Perspektiven der Betroffenen. In: Familiendynamik, 47 (3), S. 192-199. 

Abstract: Kinder, die von ihren migrierten Eltern im Herkunftsland zurückgelassen wurden, sind häufig mit einem gesellschaftlichen Diskurs konfrontiert, der transnationales Familienleben verurteilt und die Kinder zu Opfern der elterlichen Migration erklärt. Anhand des Beispiels der Republik Moldau werden in diesem Beitrag gesellschaftliche Bilder transnationaler Familien den Erfahrungen ehemals zurückgelassener Kinder gegenübergestellt. Mit Blick auf das Trennungserleben der Kinder werden der Einfluss struktureller Bedingungen und die Wirkungsmacht gesellschaftlich dominanter Diskurse aufgezeigt. Die der Analyse zugrundeliegende Grounded-Theory-Studie stellt dabei bewusst die bisher wenig beachtete Perspektive der Kinder in den Mittelpunkt der Betrachtungen, sodass diese auch in der praktischen Arbeit mit betroffenen Familien Gehör finden kann.

Jooß, Stefan (2022): Die Not mit den Noten. Leistungsdruck und Erziehungs­unsicherheit in Familien beraterisch begegnen. In: Familiendynamik, 47 (3), S. 200-209. 

Abstract: Der empfundene Druck, hohe Bildungsabschlüsse erreichen zu müssen, hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht. Können Kinder diesen Anforderungen nicht entsprechen, kommt es teilweise zu schweren Konflikten in den Familien. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Eltern ohnehin erziehungsunsicher sind. In der Folge etabliert sich oft eine einseitige Beschäftigung mit dem Thema Schule und ein hohes und entwicklungshemmendes Engagement der Eltern. Hieraus resultiert wiederum häufig eine Belastung der Eltern-Kind-Beziehung, in der Regel aber keine schulische Verbesserung der Kinder. Der vorliegende Beitrag beschreibt einen möglichen Ansatz, um Familien in dieser Situation zu unterstützen. Durch die intensive Arbeit mit der elterlichen Ambivalenz sollen Anreize geschaffen werden, neue Lösungsansätze zu finden. Diese können mit den Eltern im Anschluss an eine ausführliche Informationsphase gemeinsam entwickelt werden.

Schiepek, Günter, Helmut Schöller, Wolfgang Aichhorn, Leonhard Kratzer, Hannes Goditsch & Kathrin Viol (2022): Prozessmonitoring in der Psychotherapie. Der Therapie-Prozessbogen und seine psychometrischen Eigenschaften. In: Familiendynamik, 47 (3), S. 210-224. 

Abstract: Prozessfeedback gehört inzwischen zur Routinepraxis in der Psychotherapie, wobei internet- und app-basierte Technologien hochfrequente (z. B. tägliche) Messungen und deren Analyse in Echtzeit ermöglichen. Zu diesem Zweck wurde der Therapie-Prozessbogen (TPB) entwickelt, der für Anwendungen in der stationären und ambulanten Therapie vorliegt. Der Beitrag stellt die Ergebnisse einer explorativen und konfirmatorischen Faktorenanalyse sowie die psychometrischen Eigenschaften des TPB vor. Die Analysen beruhen auf den Zeitreihendaten von 150 stationär und teilstationär behandelten Patienten unterschiedlicher Diagnosen (tägliche Messungen, mittlere Zeitreihenlänge: 69,1 Messpunkte). Gefunden wurde eine 7-Faktor-Lösung, die 68,7 % der Varianz aufklärt und 43 Items den Faktoren »Wohlbefinden und positive Emotionen«, »Beziehung zu Mitpatienten«, »Therapeutische Beziehung und klinisches Setting«, »Emotionale und Problembelastung«, »Verständnis / Zuversicht / therapeutische Fortschritte«, »Veränderungsmotivation« und »Achtsamkeit / Körpererleben / Bedürfnisse« zuordnet. Die interne Konsistenz (Cronbachs α), die Inter-Item-Korrelationen der Faktoren und die Trennschärfe der Items entsprechen hohen psychometrischen Standards. In der klinischen Praxis ist es wichtig, Vorläufer von Phasenübergängen, wechselnde Synchronisationsmuster und kritische Perioden eines Prozesses zu identifizieren, um das therapeutische Vorgehen darauf abstimmen zu können. Dies wird an einem Fallbeispiel illustriert.

Girolstein, Petra (2022): Drei Körbe in Peking. »Neue Autorität« in China – geht das überhaupt, und wenn ja, wie? In: Familiendynamik, 47 (3), S. 226-236. 

Abstract: Im diesem Artikel berichte ich über Erfahrungen, die ich gemeinsam mit Rainer Schwing bei der Einführung der »Neuen Autorität« in einer Gruppe von chinesischen Psychotherapeuten, Psychologinnen, Ärztinnen und Psychiatern gesammelt habe. Diese Erfahrungen basieren auf der Zusammenarbeit mit insgesamt etwa 400 chinesischen Kollegen, die in Peking ab 2016 an verschiedenen Seminaren zum Thema »Krisen und Konflikte mit Kindern und Jugendlichen in Familien« teilgenommen haben. Zunächst möchte ich den Hintergrund des Projekts erläutern und, daran anschließend, berichten, wie die vier »klassischen« Strategien der Neuen Autorität nach Haim Omer und Arist v. Schlippe (Drei-Körbe-Arbeit, Ankündigung, Unterstützersysteme, Sit-in) von den chinesischen Seminarteilnehmerinnen rezipiert wurden (vgl. Omer & v. Schlippe, 2003, 2004, 2010; Körner et al., 2019). Ein Fallbeispiel soll die Arbeit veranschaulichen. Die Frage, ob »Neue Autorität« im heutigen China anschlussfähig ist, wird am Schluss des Beitrags wieder aufgegriffen.

Pohl, Sarah (2022): Der besondere Fall: Wenn Verschwörungsglaube Familien spaltet. Umgang mit Meinungsverschiedenheiten in Paarbeziehungen. In: Familiendynamik, 47 (3), S. 238-242. 

Abstract: Unsere Gesellschaft ist gespalten. Gerade in der Haltung zu Glaubwürdigkeit von Wissenschaft, Presse und Staat haben sich nicht erst seit der Pandemie unvereinbare Positionen gebildet, Konflikte sich verhärtet. Diesen zugrunde liegen häufig bestimmte Vorstellungen von Zugehörigkeit und Gefühle von Bedrohung. Back et al. (2021) sprechen in diesem Zusammenhang von »Entdeckern« und »Verteidigern«, also zwei Gruppen, die weit auseinanderliegende Positionen repräsentieren. Während die Verteidiger ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität haben, sind die Entdecker eher offen für Veränderungen. Was geschieht, wenn solche Spaltungslinien sich nicht nur durch die Gesellschaft, sondern auch durch Familien und selbst Paarbeziehungen ziehen, zeigt der hier geschilderte Fall auf exemplarische Weise. In unserer vom Landeskultusministerium geförderten Beratungsstelle ZEBRA / BW (Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg) sprechen wir seit Beginn der Corona-Pandemie täglich mit Menschen, die uns von familiären Fehden, Meinungsstellungskämpfen und teils stark eskalierten Konflikten aufgrund von sog. Verschwörungstheorien bzw. konträren Meinungen berichten. In diesem Beitrag sollen Möglichkeiten der (systemischen) Intervention bei Konflikten aufgrund von Verschwörungsglauben vorgestellt werden.

Bräutigam, Barbara (2022): Rezension – Christian Stadler & Andrea Meents (2021): Verstörende Beziehungen. Psychische Erkrankungen in Familien. Stuttgart (Klett-Cotta). In: Familiendynamik, 47 (3), S. 244-244. 

Kläussler-Senn, Charlotte (2022): Rezension – Richard C. Schwartz & Martha Sweezy (2021): Systemische Therapie mit der inneren Familie. Überarb. u. erw. Neuauflage. Stuttgart (Klett-Cotta). In: Familiendynamik, 47 (3), S. 245-246. 

Lüscher, Kurt (2022): Liebe(n) im Alter(n). In: Familiendynamik, 47 (3), S. 247-247. 


Heft 4

Oelkers-Ax, Rieke & Günter Schiepek (2022): Editorial: Evaluation 2.0 – was soll das sein? In: Familiendynamik, 47 (4), S. 249-249. 

Huy, Christoph & Günter Schiepek (2022): Prozessfeedback in der Pädagogik. Seine Bedeutung für die Förderung von Lernprozessen und die Professionalisierung von Lehrkräften. In: Familiendynamik, 47 (4), S. 252-263. 

Abstract: Inspiriert von den Pionierarbeiten in der Psychotherapie werden auch in anderen Arbeitsfeldern Feedback-Verfahren erprobt, um Veränderungsprozesse in einem ko-kreativen Prozess zu gestalten. In diesem Beitrag berichten wir über die Anwendung von Prozessfeedback im Kontext einer Gesamtschule. Sechs Schüler wurden in eine Pilot- und Machbarkeitsstudie mit dem Synergetischen Navigationssystem (SNS) einbezogen. Die Selbsteinschätzungen erfolgten auf einem eigens entwickelten Lernprozessbogen einmal pro Woche über ein Schuljahr hinweg. Feedbackgespräche zwischen Schüler und Lehrer:innen, die mit Bezug auf die Verlaufsdaten und deren Analyse u. a. die Entwicklung persönlicher Lehr-Lern-Strategien zum Thema hatten, erfolgten im Durchschnitt alle vier Wochen. Die Ergebnisse sind ermutigend: (a) Machbarkeit und Nutzerfreundlichkeit der digitalen Technologie wurden sehr hoch eingeschätzt (Compliance-Rate: 100 %), (b) die Informationen über den Verlauf konnten für die Entwicklung von Lehr-Lern-Strategien gut genutzt werden, (c) nicht nur die kognitive, auch die sozial-emotionale Entwicklung der Schüler wurde unterstützt und (d) stiegen auch die Leistungen in Mathematik (erfasst mit dem Deutschen Mathematiktest) bei vier von sechs Schülern an. Das Vorgehen eignet sich für eine breitere Nutzung in der Pädagogik.

Mielenz, Tilo & Markus Keller (2022): Digitale Prozess­begleitung in der ­Jugendhilfe. In: Familiendynamik, 47 (4), S. 264-274. 

Abstract: Jugendhilfe ist permanent herausgefordert, neue rechtliche und gesellschaftliche Entwicklungen zu integrieren. Die Einbindung von Ansätzen anderer Fachdisziplinen öffnet dabei Gestaltungsräume. Dieser Artikel beschreibt, wie ein Instrument zum Prozessmonitoring (Synergetisches Navigationsystem, SNS) im ambulanten bzw. teilstationären Jugendhilfebereich angewendet wird. Anhand von vier Fallbeispielen werden Kontextbedingungen, spezifische Vorgehensweisen, technische Voraussetzungen, angestrebte Ziele, Erfahrungen und mögliche Erkenntnisgewinne reflektiert. Die Rolle der Fachkräfte ändert sich, die Beteiligung und Mitwirkung der Klient:innen werden durch die Anwendung des SNS gefördert und sind zugleich Bedingung für eine sinnvolle Anwendung. Wechselwirkungen externer und interner Variablen der Klient:innen können gemeinsam exploriert und über die Anwendung beobachtet werden. Die Selbstbeobachtung und Selbstreflexion der Klient:innen wird gezielt angeregt.

Siebert-Blaesing, Bettina (2022): Geduld als Ressource für junge Erwachsene. Gesundheitsförderung in Zeiten von Krise und Selbstoptimierung. In: Familiendynamik, 47 (4), S. 276-283. 

Abstract: Die Corona-Krise erschwert die Lebensplanung vieler junger Menschen. Sie fühlen sich abgehängt und machen sich Sorgen, den Anforderungen nicht zu genügen. Auch vor der Pandemie reagierten viele junge Erwachsene durch die von ihnen empfundene Schnelllebigkeit gestresst. Die Burnout-Forscherin Ina Rösing (2014) fordert deshalb mehr Geduld, um neue Ansatzpunkte zum Umgang mit psychosozialen Belastungen zu entwickeln. Für das (sozial-)pädagogische Einzelcoaching stellt sich die Frage, wie Geduld durch Beratung vermittelt oder gefördert werden kann: kurzfristig übend in einem Training oder eher mit Ruhe durch Erfahrung im Alltag? Dieser Beitrag fasst die Ergebnisse meiner Dissertation (Siebert-Blaesing, 2021) zusammen, in der 176 Freiwillige im Sozialen Jahr qualitativ zu Geduld als Hilfe in Zeiten von Veränderung befragt wurden. Ihre Wünsche sind: ›Erlernen von Geduld im Alltag‹, ›dialogische Beziehung mit Vorbildern für Geduld auf Augenhöhe‹, ›Eltern als Vorbild für Geduld‹ sowie mehr ›Zeit für Ruhe und Gelassenheit‹. Ansatzpunkte für das Üben von Geduld durch ein zeitlich begrenztes Training, die Erfahrung von Geduld mit mehr Zeit und Ruhe im Alltag und das Modell des ›geduldigen Handelns‹ als verbindende Ressource werden vorgestellt. Empfehlungen für das Coaching sowie für die Förderung einer »geduldigen« Bildung runden den Beitrag ab.

Ochs, Matthias & Bernhild Pfautsch (2022): Kommen Systemiker:in­nen (auch) aus Lake Wobegon? Teil 1: Risiken und Nebenwirkungen systemischer Therapie und ­Beratung. In: Familiendynamik, 47 (4), S. 284-293. 

Abstract: In diesem ersten Teil werden Ansätze zur Definition, Theoriebildung und Häufigkeit von Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie dargestellt. Daran anschließend wird das Thema im Kontext systemischer Therapie und Beratung beleuchtet, was bislang noch wenig erfolgt ist. Zudem werden antagonistische Spannungsfelder zum Gegenstand diskutiert und Überlegungen angestellt, wie mit diesen auf gelingende Weise umgegangen werden kann. In einem zweiten Teil des Artikels (Pfautsch & Ochs, i. Vorb.) wird von einer qualitativ-explorativen Online-Studie berichtet, in der systemische Berater:innen / Therapeut:innen zu Risiken und Nebenwirkungen befragt wurden. Dazu zählen Symptomverschlechterung, Destabilisierung des Umfeldes, inadäquate Ressourcenorientierung mit fehlender Wertschätzung von Problemen und Leid, verwirrende Fragetechniken oder auch mangelnde Kompetenz für intrapsychische Phänomene.

Schiepek, Günter & Rieke Oelkers-Ax (2022): Evaluation 2.0. Evaluation und Wirksamkeit von Psychotherapie neu denken. In: Familiendynamik, 47 (4), S. 294-307. 

Abstract: Die Frage, woran man die Wirksamkeit von Psychotherapie und Beratung erkennt, ist fundamental und betrifft das praktische Vorgehen in entscheidender Weise. Wenn wir davon ausgehen, dass sich Veränderungsprozesse aus den Wechselwirkungen der in jedem einzelnen Fall vorliegenden Wirkfaktoren ergeben, so sind die Prozesse und Effekte auch in jedem einzelnen Fall zu erfassen. Diese sollten auf der Höhe des Geschehens erfasst werden, um in einem kooperativen Prozess zwischen Therapeut:in und Klient:in das Vorgehen in der Therapie gemeinsam gestalten zu können. Damit sind wir für die systemische Therapie im Zentrum ihres Selbstverständnisses als eines kooperativen und dynamischen Schaffens von Bedingungen für bio-psycho-soziale Selbstorganisation. Ausgehend von Kritik an der üblichen Prä-Post-Evaluation mit Punkt-Messungen wird in diesem Beitrag eine Internet- und App-basierte Methodik – das Synergetische Navigationssystem (SNS) – vorgestellt, mit der Veränderungen dynamischer Muster erfasst, visualisiert und analysiert werden können. Die Daten werden durch hochfrequente (z. B. tägliche) Selbsteinschätzungen der Klient:innen mithilfe standardisierter oder individualisierter Prozessfragebögen in ihrem Lebensumfeld generiert, womit die Kriterien einer prozessorientierten, ökosystemischen und personalisierten Evaluation erfüllt sind. Das Fallbeispiel einer Mutter-Kind-Therapie am Familientherapeutischen Zentrum Neckargemünd illustriert das Vorgehen einer systemischen Evaluation 2.0.

Nischk, Daniel & Ann-Kristin Hörsting (2022): Der besondere Fall: Supported Employment als hilfreicher Ansatz zur beruflichen Teilhabe. Ein Jobcoaching nimmt Einfluss auf das ganze Familiensystem. In: Familiendynamik, 47 (4), S. 308-310. 

Abstract: Obwohl die Teilhabe am Arbeitsleben bei vielen Klient:innen in der systemtherapeutischen Arbeit ein zentrales Ziel darstellt, spielen psychotherapeutische Ansätze bei der beruflichen Rehabilitation bislang nur eine untergeordnete Rolle. Wir möchten in diesem Beitrag anhand einer Fallgeschichte aus unserem Modellprojekt Supported Employment and Education (SEE) aufzeigen, wie sich Individual Placement and Support (IPS), ein moderner Ansatz zur beruflichen Rehabilitation, und sys- temtherapeutische Arbeit synergistisch ergänzen und die Effektivität der beruflichen Rehabilitation verbessern können.

Tilden, Terje & Matthias Ochs (2022): Wie durch systematisches Feedback seitens Klient:innen Therapeut:innen profitieren – und Therapien besser werden. Matthias Ochs im Gespräch mit Terje Tilden über Routine Outcome Monitoring. In: Familiendynamik, 47 (4), S. 312-317. 

Abstract: Das folgende Interview bildet den Auftakt einer Reihe von Interviews mit Praktiker:innen, die Erfahrung mit unterschiedlichen Varianten des Prozessfeedbacks inverschiedenen klinischen und nichtklinischen Settings haben. Unterschiede können sich darauf beziehen, ob eher mit standardisierten oder mit individualisierten Prozessfragebögen gearbeitet wird, ob das Routinefeedback in (teil-)stationären oder ambulanten Settings oder außerklinisch (Coaching, Aus- und Weiterbildung, Teamentwicklung, Sport) implementiert ist, in welcher Erhebungsfrequenz (einmal pro Sitzung, wöchentlich, täglich) die Datenerfassung erfolgt, ob Fragebögen störungsbezogen oder transdiagnostisch eingesetzt werden usw. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, ob das Routinefeedback a-theoretisch oder theoriebasiert erfolgt (in systemischen Kontexten meist theoriebasiert mit Bezug auf Selbstorganisation und nichtlineare Dynamik) und – in Konsequenz – mit welchen Auswertealgorithmen die jeweilige Technologie arbeitet. Übereinstimmung besteht darin, dass Klient:innen aktiv und interaktiv in das Feedback eingebunden werden, dass es auf Höhe des Geschehens und auf Augenhöhe Informationen als Grundlage der gemeinsamen Prozessgestaltung liefern soll und dass mit digitalisierter Technologie und mathematischen Algorithmen in Zukunft auch die reale Begegnung von Klient:innen und Therapeut:innen keineswegs obsolet wird – im Gegenteil. (Günter Schiepek)

Baumann, Sebastian (2022): »Wann sind wir denn endlich da?« Kassenzulassung Systemische Therapie – bald auch für Kinder und Jugendliche? In: Familiendynamik, 47 (4), S. 318-319. 

Schweitzer, Jochen (2022): Rezension – Susanne Altmeyer (2021): Der Guhl, das ganz Kleine und die tentakeligen Monster. Systemisches Protokoll einer EMDR-Intensivtherapie. Düren (Shaker-Verlag). In: Familiendynamik, 47 (4), S. 320-321. 

Hermans, Björn Enno (2022): Rezension – Christoph Klein & Ben Furman (Hrsg.)(2021): Die Kraft des Miteinander. Innovative Methoden der Netzwerk- und Gemeinschaftsarbeit in Familien, Therapie, Schule und Beratung. Heidelberg (Carl-Auer). In: Familiendynamik, 47 (4), S. 322-323. 

Lüscher, Kurt (2022): Kurz vor Schluss: Dazwischen. In: Familiendynamik, 47 (4), S. 327-327.