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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Familiendynamik 1978

Heft 1

Duss-von Werdt, Josef (1978): Editorial. Paardynamik und Paartherapie. In: Familiendynamik, 3 (1), S. 1-2. 

Abstract: Am Anfang des 3. Jahrganges möchten wir unserer Freude darüber Ausdruck geben, daß der Leserkreis von „Familiendynamik“ wieder stark gewachsen ist. Gleichzeitig bitten wir die Leser um Anregungen, Wünsche und Kritik. Autoren, Mitherausgebern und Mitarbeitern in Redaktion und Verlag danken wir für die gute Zusammenarbeit. Ent­ gegen einer früheren Ankündigung werden in diesem Jahr nochmals vier Hefte mit dem gleichen Umfang wie bisher erscheinen, obwohl die Fülle an Material immer wieder zu Platzproblemen führt. Dieses erste Heft beschäftigt sich mit Paardynamik und Paartherapie. Die einzelnen Beiträge behandeln das Thema relativ unabhängig von der Familiendynamik bzw. -therapie, stellen es dafür zum Teil in den größeren Zusammenhang einer aktuellen Problematik der Geschlechter (Willi). Unter therapeutischen Gesichtspunkten werden zwei verschie­ dene Modelle dargestellt: Die analytische Zwei-W ochen-Paartherapie (Richter/Wirth) und die Paargruppentherapie (Moeller/Moeller, Hoff- mann/Künzel, Duss-von Werdt/Welter-Enderlin) mit ihren ziemlich un­ terschiedlichen Konzepten, Zielsetzungen und Methoden.

Willi, Jürg (1978): Der Kampf der Geschlechter als Kollusion. In: Familiendynamik, 3 (1), S. 3–19. 

Abstract: Ausgangspunkt ist die unterschiedliche Art, wie Frau und Mann sich in der Paartherapie darstellen. Es wird versucht, den heuti­gen Ist-Zustand, in der Therapie zu beschreiben, ohne sagen zu wollen, dieser sei von Natur aus gegeben oder für alle Zukunft festgelegt. Der Verfasser ist sich als männlicher Therapeut der Tatsache bewusst, dass seine therapeutischen Interpretationen eines Paarkonfliktes geschlechts­gebunden sind. Deshalb beschränken sich seine Ausführungen darauf, wie Mann und Frau in seinen eigenen Therapien erscheinen, und wie er dies mit den Erfahrungen von Kolleginnen vergleichen kann. Trotz in­dividueller Abweichungen glaubt er, ein typisches Verhalten von Mann und Frau in der Therapie feststellen zu können.

Richter, Horst Eberhard & H.J. Wirth (1978): Sieben Jahre Erfahrung in der analytischen Zwei-Wochen- Paartherapie. In: Familiendynamik, 3 (1), S. 20–46. 

Abstract: Die am Gießener Zentrum für Psychosomatische Medizin vor sieben Jahren eingeführte Zwei-Wochen-Paartherapie dient zur analyti­ schen Bearbeitung von Beziehungskonflikten. Erstrebt wird nicht nur, daß die Aufhellung gemeinsamer Probleme überhaupt erreicht wird, son­ dern, daß die Partner diesen Klärungsprozeß selbst durch aktives Erkundungs- und Experimentierverhalten zu fördern lernen. Die Erfahrung ihrer Selbsthilfemöglichkeiten soll ihnen — als nachdauernder Effekt — bessere Chancen zur Bewältigung künftiger Konflikte in der Zweierbeziehung und in der Familie eröffnen. Indikation, Verlauf und Resultate der Therapie werden außer anhand klinischer Beobachtungen zusätzlich anhand empirischer Erhebungen mit dem Gießen-Test, einem Beschwerde- und einem Katamnesebogen diskutiert. Insbesondere die hochsignifikanten Annäherungen zwischen den Selbstbildern sowie zwischen den Selbst- und Fremdbildern im Gießen-Test werden als Beleg für eine therapeutisch bewirkte Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten interpretiert.

Moeller, M.L. & M. Moeller-Gambaroff (1978): Veränderung von Paarbeziehungen durch Gruppenanalyse. In: Familiendynamik, 3 (1), S. 47–66. 

Abstract: Es wird über eine empirische Untersuchung einer psychoanalytisch-orientierten Paargruppentherapie mit vier Paaren berichtet, die von einem Therapeutenehepaar durchgeführt wurde. Die Veränderungen der Paarbeziehungen stellten die entscheidenden Kriterien des The­rapieerfolges dar. Sie wurden empirisch zu Beginn und am Ende der Behandlung mittels Selbstbild und Partnerbild im Gießen-Test erfaßt. Theoretische Grundlage war die Ansicht, daß die wechselseitigen Ab­hängigkeiten und damit auch unbewußten Abstimmungen, wie z. B. die Interaktionsabwehr, für die Paardynamik entscheidend sind und damit auch das therapeutische Objekt darstellen. Jede individuelle Veränderung ist also nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Paarsystem als der übergreifenden Struktur zu verstehen. Betrachtet man individuelle oder generelle (d. h. quer durch die Paare gehende) Veränderungen für sich, wird diese maßgebende Relation außer acht gelassen. Wir gehen davon aus, daß in einem Paarsystem die Veränderung des einen Partners integraler Bestandteil der Veränderung des anderen ist. Daher wurden während der Therapie die Veränderungen als Veränderung der Rolle innerhalb des Paarsystems aufgefaßt. Rolle wurde operational bestimmt als das Gesamt der eigenen Auffassung (Selbstbild) und der Erwartungen, die der Partner an einen richtet (Partnerbild). Das Paar A. wehrte vor allem aggressive Impulse gemeinsam ab. Die Interaktionsabwehr bestand aus einer Verschränkung idealisierenden (Mann) und masochistischen (Frau) Abwehrverhaltens. Das Paar B. hatte sich in zwei gegensätzlichen Rollen — Gefühlsintensität versus Sachlichkeit — polarisiert. Das Paar C. wehrte durch eine Geschlechtsrollenumkehr insbesondere in der Dimension Aktivität — Durchsetzungsvermögen versus Passivität — Gefügigkeit sexuell-inzestuöse Im­pulse ab. Das Paar D. bot ein dramatisches Beispiel für eine narzißtische Kollusion, die gegen latente Vernichtungsangst errichtet und von Ich-Schwäche bedroht war. Wir fassen nicht die gesamte Beziehung eines Paares als pathologi­sches Phänomen auf. Analog etwa dem Konzept des Ichs gibt es unserer Ansicht nach neben den konflikthaften auch konfliktfreie oder gar kurative Interaktionsbereiche. Der gemeinsame Nenner der Veränderungen in den Paarbeziehungen läßt sich in der Minderung bzw. Umwand­lung der Abwehrdimension der Interaktionen sehen.

Künzel, E. & C. Hoffmann-Zur Verth (1978): Analytisch orientierte Co-Therapie bei Partnergruppen in einer Privatpraxis. In: Familiendynamik, 3 (1), S. 67–85. 

Abstract: Methodisch verbinden wir psychoanalytische und familienthereapeutische Ansätze und bearbeiten auch gesellschaftlich institutionalisierte Formen psychosozialer Abwehr. Um die konfliktverschränkungen zu erfassen, unterscheiden wir theoretisch eine intrapsychische Ebene, eine Ebene der Paarbeziehungen und eine Ebene der Gruppenbeziehungen. Wir haben die Zielvorstellung, daß sich zwischen Paarpartnern ein dialektischer Prozeß entwickeln sollte von Selbstverwirkli­chung und Verwirklichung in der Beziehung. Das psychologische Potential der Patientenpaare wie auch des Therapeutenpaares läßt sich wechselseitig nutzen. Die therapeutische Wirksamkeit ergibt sich aus der Bewußtmachung und Bearbeitung unbewußter szenischer Darstellungen und ihrer Hintergründe. Partner wiederholen ihre Paarkonflikte auch mit anderen Gruppenmitgliedern. Lösungen haben Modellcharakter auch für die gestörte Beziehung. — Die Co-Therapeuten sind nicht nur Ubertragungsobjekte, sondern auch „interagierende Modelle“. Es ist notwendig, daß sie die in ihre Beziehung induzierten Konflikte erkennen und verarbeiten. Die Beziehungsklärung der Co-Therapeuten entspricht der Klärung der Gegenübertragungsreaktionen des Analytikers. Nach Angaben über das Setting folgen zwei klinische Illustrationen.

Duss-von Werdt, Josef & Rosmarie Welter-Enderlin (1978): Kurztherapie mit einer Paargruppe. In: Familiendynamik, 3 (1), S. 86-90. 

Abstract: Die Autoren berichten über ihre Erfahrungen mit einer Gruppe von vier Paaren, mit denen sie zehn Sitzungen und ein Wochenende verbrachten. Beschrieben werden die Auswahlkriterien für die Gruppenzusammensetzung, der Verlauf der Sitzungen und deren paar- bzw. pro­blemzentrierte Methode. Einige Folgerungen über Möglichkeiten und Grenzen dieser Art von Kurztherapie beschließen den Aufsatz.

Manika, Constantina (1978): Sind Frauen »fraulicher« und Männer »männlicher« in der Paarsituation? Untersuchung mit dem Individuellen und Gemeinsamen Rorschach-Versuch. In: Familiendynamik, 3 (1), S. 91–100. 

Abstract: Seit 1921, als Hermann Rorschach seine „Psychodiagnostik“ veröffentlichte, ist bekanntlich vieles zur Weiterentwicklung und Würdigung der Rorschach’schen Idee geschehen. Fast alle Beiträge bis zu den 60er Jahren streben hauptsächlich die Verbesserung und Differenzierung des Signierungs- und Interpretationssystems an. Erstmals in den 60er Jahren wurde von einigen Forschem (vorwiegend in USA) der Versuch unternommen, dieses Verfahren, welches bisher nur der Aufdeckung und Diagnostizierung der individuellen unbewußten Psychodynamik und Differentialdiagnostik diente, auch als Instrument der Erfassung von Beziehungsformen (der Beziehungsdynamik) zu verwenden. Die ersten Experimente sind sehr unterschiedlich konzipiert worden, d.h. sie dienen der Abklärung verschiedener Beziehungsaspekte zwischen Paaren, Familien oder anderen Gruppen. Im deutschsprachigen Raum ist die Konzeption J.Willis von einem „Gemeinsamen Rorschach-Versuch“ (genannt GRV) eine wichtige Weiterentwicklung des Rorschach-Tests. Sie hat zusehends an Popularität gewonnen, haupt­ sächlich im Bereich der Ehe- und Familienberatung bzw. -behandlung. Die vorliegende Arbeit basiert auf diesem GRV-Verfahren und ist aus enger Zusammenarbeit mit Willi entstanden.


Heft 2

Stierlin, Helm (1978): Editorial: Psychoanalyse und Familiendynamik. In: Familiendynamik, 3 (2), S. 101-101. 

Abstract: Der Plan zu diesem Heft reifte schon lange, da uns das Thema „Psychoanalyse und Familiendynamik“ besonders wichtig erscheint. Wir gehen davon aus, daß Freud mit der Psychoanalyse ein neues Paradigma (in dem vom Wissenschaftshistoriker Th. Kuhn gemeinten Sinne) geschaffen hat. Da wir glauben, daß die moderne Familientheorie und -therapie nochmals ein neues Paradigma darstellt, erhebt sich die Frage: Wie ver­ halten sich die beiden Paradigmata zueinander?

Krüll, Marianne (1978): Freuds Absage an die Verführungstheorie im Lichte seiner eigenen Familiendynamik. In: Familiendynamik, 3 (2), S. 102–129. 

Abstract: Die von Freud zwischen 1893 und 1897 vertretene Verführungstheorie weist große Ähnlichkeit mit neueren familiendynamischen Ansätzen auf. M. Krüll stellt dar, daß Freuds Aufgabe dieser Theorie als Folge seiner Auseinandersetzung mit dem gerade verstorbenen Vater Jakob betrachtet werden kann. Die Verführungstheorie hätte Freud gezwungen, seine eigene Neurose auf Vorkommnisse in seiner Kindheit zurückzuführen, in denen sich Jakob schuldig gemacht hatte. Die Erset­zung der Verführungstheorie durch die Ödipustheorie ermöglichte es Freud, das vom Vater gesetzte Tabu, das ihm verbot, in der Vergangenheit zu forschen, zu umgehen, denn nach ihr sind Eltern nur Objekte der Phantasien ihrer Kinder. M. Krüll versucht, Jakob Freuds Leben zu rekonstruieren, um die Gründe für die Einsetzung des Tabus zu verstehen. Zur Zeit von Sigmunds Geburt stand Jakob in einer Lebenskrise, die durch den Tod seines Vaters ausgelöst worden war. Es ist anzunehmen, daß Jakob seinen Sohn zum gebundenen Delegierten erkor, der die eigene Schuld dem Vater und der Religion der Väter gegenüber sühnen sollte. Die Psychoanalyse erscheint so als das Produkt einer Loyalitätsverpflichtung Freuds gegenüber seinem Vater.

Slipp, Samuel (1978): Interpersonelle Faktoren der Hysterie: Freuds Verführungstheorie und der Fall Dora. In: Familiendynamik, 3 (2), S. 130–147. 

Abstract: Seit Freuds frühester Theorie der Verführung hat sich in der psychoanalytischen Theorie vieles geändert. Freud sah die Ätiologie der Hysterie als Resultat einer einzigen physischen und traumatisch wirkenden Verführung an, die dann verdrängt wurde. Trotz ihrer Begrenztheit lieferte die Theorie der Verführung erstmals Einsicht so­wohl in zwischenmenschliche wie in innerpsychische Faktoren bei der Entwicklung von Geisteskrankheit. Als Freud diese Theorie fallen ließ, wurden in der Psychoanalyse innerpsychische Fantasien, die aus der infantilen Sexualität des Patienten stammten, als vorherrschend angesehen. Seit der Einführung der Ich-Psychologie, und seit neueren Theorien der Objektbeziehung, wird größerer Nachdruck auf angepaßtes Handeln in der Realität und in menschlichen Beziehungen gelegt. Diese Arbeit versucht, eine Typologie von Geisteskrankheiten aufzustellen, die zwischenpersönliche und seelische Faktoren mit einschließt. (Da diese Faktoren wechselseitig, verändernd und einander gegenseitig bestimmend gesehen werden, gehören sie zusammen.) Eine Typologie wird vorgeschlagen, die Hysterie, Depression und Schizophrenie mit einbezieht. Wenn wir Verführung als zwischenmenschliches Macht-Manöver begreifen und als einen Beziehungsstil erkennen, andere zu manipulieren und zu kontrollieren, anstatt darin einen einmaligen physischen Sexualakt zu sehen, so werden Freuds ursprüngliche Einsichten wieder gewichtig und bedeutungsvoll.

Sander, Fred M. (1978): Ehe und Familie in Sigmund Freuds Schriften. In: Familiendynamik, 3 (2), S. 148–163. 

Abstract: In einem vorwiegend historischen Ansatz, zurückgreifend auf Aussagen Freuds über Ehe und Familie, soll aufgezeigt werden, daß sich Psychoanalyse und die neueren Konzepte der Familientherapie nicht ausschließen müssen. Das ergibt sich aus der Tatsache, daß die Psychoana­lyse eine Theorie der individuellen Entwicklung des Menschen darstellt, diese sich aber primär innerhalb der Familie vollzieht. Näher betrachtet werden Schriften aus der Frühphase Freuds (bis 1905) und die späteren unter folgenden Gesichtspunkten: a) Freud zur Ehe und zur Rolle der Frau, b) die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, c) Neurose und unglückliche Ehe. Folgerungen befassen sich mit der Integration von Analyse und Familiendimension in der Praxis.

Wetzel, Norbert (1978): Rezension – Salvador Minuchin (1974): Families and Family Therapy. Cambridge, Mass. (Harvard University Press). Deutsch: 1977, Familie und Familientherapie, Freiburg/Brsg. (Lambertus). In: Familiendynamik, 3 (2), S. 164-165. 

Duss-von Werdt, Josef (1978): Rezension – Helm Stierlin, Ingeborg Rücker-Embden, Norbert Wetzel u. Michael Wirsching, unter Mitarbeit von Barbara Brink und Susanna Hassan (1977): Das erste Familiengespräch. Theorie — Praxis — Beispiele. Stuttgart (Klett-Cotta). In: Familiendynamik, 3 (2), S. 165-166. 

Zeitschriftenspiegel.  (1978): In: Familiendynamik, 3 (2), S. 167-168. 


Heft 3

Stierlin, Helm (1978): Editorial: Politik und Familie. In: Familiendynamik, 3 (3), S. 169-169. 

Abstract: Alle Beiträge dieser Ausgabe handeln von Politik und Familie, drei davon von einem beinahe alltäglich gewordenen Aspekt des Themas, vom politischen Terrorismus. Auf den Zusammenhang von Politik und Familie haben Soziologie sowie Theorien der familiären Sozialisation verschiedentlich schon hingewiesen. Auch konnten Studien über Familie und Aggression zeigen, daß gewalttätige Erziehungs- und Familienstile die Bereitschaft erhöhen, außerhalb der Familie Gewalt anzuwenden oder freiwillig in offene Kriege zu gehen. Welche innerfamiliären Voraussetzungen jedoch einem bestimmten politischen Verhalten zugrunde liegen, ist bis jetzt noch nicht in größe­rem Umfang erforscht worden. So wurde z. B. auch im Terrorismus vorwiegend eine Reaktion auf gesellschaftliche Machtverhältnisse gesehen und Terroristen selber rechtfertigen ihre Tätigkeiten in diesem Sinne. Von welchen Wurzeln in seiner Biographie jedoch der Terrorist Antriebskräfte erhält, blieb im Dunkel.

Stierlin, Helm (1978): Familienterrorismus und öffentlicher Terrorismus. Hintergründe terroristischen Verhaltens in der Bundesrepublik Deutschland. In: Familiendynamik, 3 (3), S. 170–198. 

Abstract: Stierlin erhellt Elemente des Terrorismus in der Bundesrepu­blik Deutschland im Lichte des Heidelberger familiendynamischen Konzeptes unter den Hauptgesichtspunkten der bezogenen Individuation, der Transaktionsweisen von Bindung und Ausstoßung, der Delegation sowie der Mehrgenerationenperspektive von Vermächtnis und Verdienst. Die durch dieses Konzept erfaßten Beziehungskräfte kommen in vier unterschiedlichen, jedoch interdependenten Systemen zum Zuge — dem Individuum, der Familie, der „Peer-Group“ und der Gesellschaft. Je nach dem System, auf das wir unser Augenmerk richten, stehen andere Phänomene und Konstellationen im Vordergrund. Der Werdegang und die Familiensituation von Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Andreas Baader (soweit bekannt) werden zur Illustration der theoretischen Überlegungen heran­gezogen. Die letzten Abschnitte gehen auf Gruppen- und geschichtliche Prozesse ein, die den Terrorismus gerade in der Bundesrepublik Deutschland verständlicher zu machen versprechen.

Boszormenyi-Nagy, Ivan & B.R. Krasner (1978): Gruppenloyalität als Motiv für politischen Terrorismus. Beitrag einer alternativen Betrachtung eines komplexen Problems. In: Familiendynamik, 3 (3), S. 199–208. 

Abstract: Verbrechertum und politischer Terrorismus sind die heutigen Hauptbedrohungen der Gesellschaft in westlich-demokratischen wie anderen Ländern. Trotz äußeren Ähnlichkeiten unterscheiden sich ihre Motive: Verbrecher handeln meist aus persönlicher Gewinnsucht, Terroristen aus persönlichem Engagement für die Sache einer echt oder vermeintlich unterdrückten Minderheit, der sie loyal ergeben sind. Um dem politischen Terrorismus beizukommen, ist 1. eine differenziertere Unterscheidung der beiden Motive nötig; mit rein polizeilichen und militärischen Maß­ nahmen kann nichts erreicht werden; 2. sollten in Demokratien wie in der Völkergemeinschaft die Gruppenloyalitäten von nicht-autonomen Minderheiten von den regierenden Mehrheiten mehr berücksichtigt werden; mehr multilaterale Fairneß zwischen den Gruppen ist erforderlich, ähnlich wie dies im Falle von delinquenten Jugendlichen durch die Familientherapie demonstriert wird. Ein Forum für Fragen zwischen Gruppen (Forum for Intergroup Process — F.I.P.) könnte die im internationalen System in bezug auf die Anerkennung verdienter Loyalitäten von nicht autonomen ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen bestehende Lücke schließen. Aufgabe eines solchen Forums wäre es u. a., allgemeingültige Kriterien für multilaterale Fairneß aufzustellen.

Grossarth-Maticek, Ronald (1978): Der linke und der rechte Radikalismus. Einige Untersuchungsergebnisse und theoretische Aspekte. In: Familiendynamik, 3 (3), S. 209–228. 

Abstract: Um psychosoziale Mitursachen für den linken und rechten Radikalismus bei Heidelberger Studenten zu erforschen, wurden 1971 84 linksradikale Studenten, die den bewaffneten Kampf befürworteten, 84 rechtsradikale Studenten, die sich für die gewaltsame Machtübernahme und ein Einparteien-System von rechts einsetzten, 84 bürgerlich-demokratische Studenten und 84 apolitische Studenten mit einem Ja-Nein-Fragebogen befragt. Außerdem wurden freie Interviews durchgeführt und Träume aufgeschrieben. In einigen Fällen wurden die Familienmitglieder beobachtet. Die bei dieser Untersuchung wichtigsten Daten und Hypothesen betreffen die Familienbeziehungen, das Verhältnis zum Partner, die Schichtzugehörigkeit und sozialpsychologische Faktoren. In allen Bereichen unterscheiden sich rechtsradikale, linksradikale, de­mokratische und apolitische Studenten. Die Studie zeigt, daß sich ein Typ des radikalen Studenten nicht definieren läßt und daß jeweils familiendynamische, sozialpsychologische und sozio-ökonomische Deter­minanten aufeinander einwirken. Die linksradikalen Studenten entstam­men der Bildungsmittelschicht, werden von einem Eltemteil zuerst sehr angezogen, dann ausgestoßen und vertreten zunächst liberale Positionen. Erst nach dem Scheitern ihres sozialen Engagements versteifen sie sich auf linksradikale Positionen. Die rechtsradikalen Studenten idealisieren ihre Mutter und geben an, diese über alles auf der Welt zu lieben. Sie entstammen ausschließlich der unteren Mittelschicht.

De Mause, Lloyd (1978): Jimmy Carter und die amerikanische Phantasie. In: Familiendynamik, 3 (3), S. 229–252. 

Abstract: 1976 begannen verschiedene Mitarbeiter des Institute for Psychohistory in New York (Leitung: L. de Mause) mit Arbeiten über Jimmy Carters Kindheit und Person. Sie stellen einen ersten Versuch dar, die emotionale Reife des amtierenden Präsidenten abzuschätzen, seine Persönlichkeit mit den emotionalen Bedürfnissen des amerikanischen Volkes in Beziehung zu bringen und vorauszusagen, was die unmittelbare Zukunft aus der Wechselwirkung dieser beiden Faktoren ergeben wird. Diese Arbeit hier befaßt sich mit immer wiederkehrenden Phasen unbewußter Gruppenphantasien in der amerikanischen Politik der letzten 25 Jahre. Es wird gezeigt, wie diese Phasen mittels der psychohistorischen Methode herausgearbeitet werden können und was diese Methode ist. Die einzelnen Phasen der amerikanischen Politik werden mit den jeweiligen Präsidenten in Beziehung gesetzt. Ihrer Kindheit, vor allem ihrem Verhältnis zur Mutter, wird dabei besonders Ge­wicht beigemessen. Auffallend ist, wie ähnlich sich diese Mutter-Kind-Beziehungen bei den einzelnen Persönlichkeiten bis hin zu Jimmy Carter sind. (Eine Ausnahme ist D. Eisenhower.) Die „Psychohistorie ihrer Kindheit“ ist ein Schlüssel zum Verständnis ihrer Politik.


Heft 4

Duss-von Werdt, Josef (1978): Editorial: Tod und Trauer in der Familie. In: Familiendynamik, 3 (4), S. 253-253. 

Abstract: „Tod und Trauer in der Familie“ bezeichnet ein für die Familien­dynamik wie für die Familientherapie gleicherweise zentrales Thema. Neben der Geburt ist der Tod für den Menschen das einschneidendste existentielle Ereignis. In unserer westlichen Welt finden Geburt und Tod jedoch nur noch ausnahmsweise in der Familie statt. Zwar gibt es mancherorts eine Rückkehr zur „Hausgeburt“, aber keine zum „Haustod“, und das Sterben vollzieht sich mehr denn je außerhalb, ja unter Ausschluß der Familie im — hygienisch wie menschlich — sterilen Umfeld einer Klinik. So bleibt die Endlichkeit unserer Existenz für die meisten Familien unanschaulich, fremd, un-heimlich. Das trägt dazu bei, daß Trauer und das Erleben von Sterben und Tod nur dürftig miteinander verbunden und nicht ins Familienleben integriert werden. 

Paul, Norman L. (1978): Die Notwendigkeit zu trauern. In: Familiendynamik, 3 (4), S. 254–259. 

Berkowitz, David A. (1978): Zur Behandlung verleugneter Gefühle in der Familientherapie. In: Familiendynamik, 3 (4), S. 260–268. 

Abstract: Eine fundamentale Aufgabe der Familientherapie besteht darin, den Angehörigen zu helfen, mit dem Schmerz, der aus Trennung oder Verlust erwächst, fertig zu werden. Dabei ist es unerläßlich, daß der Betroffene solche Affekte als gegenwärtig und zu ihm selbst gehörig erlebt und akzeptiert. Je nach der intrapsychischen Struktur und auch je nach dem Ausmaß an vorhandener Trennungsangst wird aber die Wahrnehmung jener Gefühle oft streng vermieden. Indes — die verleugneten und nicht zugelassenen Emotionen bleiben dennoch mächtige unbewußte Steuerungskräfte für das Verhalten. Einige Auszüge aus gemeinsamen Familiensitzungen sollen beleuchten, wie die therapeutische Intervention Familien dazu verhelfen konnte, sowohl verdrängten Trennungsschmerz als auch Gefühle der Zuneigung zuzulassen und auszudrücken. Der Aufsatz postuliert den Wert und den Nutzen eines psychodynamischen, interpretierenden Verfahrens in der Familientherapie, beson­ders im Fall von verleugneten Affekten.

Pincus, Lily (1978): Verdrängte Trauer. In: Familiendynamik, 3 (4), S. 269–276. 

Abstract: In den hier dargestellten Lebensberichten führte die Reaktivierung unterdrückter Trauergefühle zu einer inneren Freiheit, die dem Leben der Betreffenden neue Kräfte gab und sowohl ihnen, wie den Helfern die Erfahrung vermittelte, wie wertvoll therapeutische Interven­tion in Fällen von verdrängter Trauer sein kann. Es wäre jedoch völlig falsch, den Eindruck zu erwecken, daß schon der Verlust durch den Tod als solcher, mit allen seinen Qualen und Konfusionen, eine therapeutische Intervention erforderlich mache. Erforderlich und notwendig ist vielmehr die Erkenntnis, daß Leid und Schmerz die normale Reaktion auf den Tod eines wichtigen Menschen sind und es von grundlegender Bedeutung ist, den Trauervorgang durchzuleben und zu vollenden.

Steffen, Hartmut (1978): Reaktionen der Familie auf den Tod eines Kindes. In: Familiendynamik, 3 (4), S. 277–283. 

Abstract: Der Tod eines Kindes konfrontiert alle Beteiligten, vor allem aber die Eltern, mit ihrer Hilflosigkeit, aktiviert Trennungs- und Verlustängste und erzwingt Trauerarbeit. Wir unterscheiden vorbereitende Trauer von Trauer nach dem Tode. Unverarbeitete Trennungs- und Verlusterlebnisse oder nicht vollzogene Lösungen der Eltern von ihren Eltern erschweren diesen die Trauerarbeit vor und nach dem Tode ihres Kindes.

Kiepenheuer, Kaspar (1978): Die innere Welt des sterbenden Kindes. Spontanzeichnungen als Wegweiser für die Begleitung todkranker Kinder und ihrer Familien. In: Familiendynamik, 3 (4), S. 283–298. 

Abstract: Eine Serie von Spontanzeichnungen eines leukämiekranken Kindes sowie seiner Geschwister geben einen Einblick in das innere Erleben dieser Kinder. Hieraus ergeben sich Wege für eine offene Zwiesprache mit dem Todkranken und seiner Familie. Exemplarisch zeigt diese gemalte Krankheitsgeschichte auf, wie die Begleitung und Betreuung der Betroffenen vertieft und ausgeweitet werden könnte.

Stober, Bernt (1978): Familien von suizidalen Kindern und Jugendlichen. Ein Überblick. In: Familiendynamik, 3 (4), S. 299–316. 

Abstract: Dieses Übersichtsreferat weist auf zunehmende Suizidtenden­zen im Kindes- und Jugendalter hin, stellt Begleitumstände dar und macht auf die besondere Bedeutung des Ausreißens vor Suizidversuchen aufmerksam. Anhand einer umfangreichen Darstellung der verfügbaren Literatur werden Zusammenhänge zwischen familiärer Kommunikation und Interaktion und suizidalem Verhalten aufgezeigt. Bezüge zum familientherapeutischen Konzept von Stierlin werden dargestellt und anhand einer Falldarstellung verdeutlicht. Hierbei zeigt sich, daß die Theo­rien von Stierlin bezüglich Individuation. Bindungs- und Ausstoßungs­modus sowie Delegation als Erklärungsmodell für suizidale Haltungen im Kindes- und Jugendalter angewendet und therapeutisch genutzt wer­den können. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis dient der weiteren Information.

Neeral, Terje, Jörn W. Scheer & Wolfgang Dierking (1978): Krankheitskonzepte von Eltern mit einem psychisch gestörten Kind. In: Familiendynamik, 3 (4), S. 317–332. 

Abstract: Wenn Eltern mit einem seelisch gestörten Kind eine Beratungsinstitution aufsuchen, sind ihre Angaben bzw. Vermutungen zur Symptomatik, den Ursachen der Störung sowie ihre Behandlungserwartungen nicht „objektive“, sondern durch eigene Konfliktabwehr ver­zerrte Vorstellungen. Bei 40 vollständigen Familien, die unsere Familienambulanz wegen der seelischen Störung ihres Kindes aufsuchten, wurden die elterlichen Krankheitsvorstellungen anhand von Fragebögen erfaßt. Die Ergebnisse einer Häufigkeitsauszählung und einer Faktorenanalyse wurden mit Hilfe von psychoanalytisch-familiendynamischen Theorien interpretiert, um die psychosozialen Abwehrprozesse in der Familie exemplarisch an dieser Untersuchungsgruppe darzustellen.