Dirk Baecker geht seit einiger Zeit neue theoretische Pfade, auf denen er sich mit möglichen Limitationen der Theorie sozialer Systeme Luhmanns auseinandersetzt, u.a. auch mit der Frage, inwiefern Luhmanns Theorie tatsächlich in der Lage ist, Probleme zu lösen, mit denen sich die Soziologie beschäftigt (und beschäftigen muss). Immerhin beginnt das Vorwort zu seinem epochalen Werk „Soziale Systeme“ mit einem Hinweis auf die zu lösende Krise der Soziologie.Auf dem 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie hat er einen Vortrag zu diesem Thema gehalten, in seinem weblog hat er seine Thesen hierzu zusammengefasst. Unter anderem stellt er sich die Frage, was geschieht, wenn man Luhmanns Diktum und Ausgangspunkt „Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt“ (ebd.) nicht mehr einfach übernimmt, sondern diese Überlegung als die Betrachtung eines Beobachters und Autors untersucht, der als Autor damit selbst nicht mehr hinter seinem Text verschwindet. Auf diese Weise käme die Systemtheorie wieder in eine andere Beziehung zu Theorien, die sich mit psychologischen und körperlichen Prozessen befassen.
Baecker schreibt auf seiner website: „Luhmann ging in seinen Überlegungen davon aus, “dass es soziale Systeme gibt”. Er startete nicht mit einem “erkenntnistheoretischen Zweifel”. Er rechnete vielmehr damit, dass ihn dieser Ausgangspunkt im Fortschritt der Untersuchung und im Gegenstand der Untersuchung auch auf Systeme stoßen lassen würde, die mit Erkenntnisoperationen beschäftigt sind, etwa die Wissenschaft oder die Soziologie als eine Teildisziplin der Wissenschaft, und dass man dann untersuchen könne, wie diese Systeme tun, was sie tun (1984, S. 30). Man würde damit das Erkenntnisproblem als ein Gegenstandsproblem angehen und eventuell lösen können. Allerdings unterstellte er im Vorgriff auf diese Entdeckung der eigenen Beschäftigung im Gegenstand dieser Beschäftigung, dass Systeme nicht nur existieren, sondern als selbstreferentiell verfasste Systeme existieren (ebd., S. 31). Dieser Vorgriff ist mutig und entfaltet im Theorieaufbau eine enorme produktive Kraft. Aber ist er auch gerechtfertigt? Wie könnte man diese Frage beantworten? Was wäre, wenn die Untersuchung im Fortschritt der Untersuchung nicht auf ein System, sondern auf einen Autor an seinem Schreibtisch in der Auseinandersetzung mit seinem Zettelkasten stößt? Was wäre, wenn diesem Autor nicht von seiner Disziplin die Feder geführt wird, sondern er (oder sie) für diese Disziplin laufend Entscheidungen trifft, die situativ, biographisch, historisch und normativ bedingt sind? Wäre man dann nicht geneigt, von einer konstruktivistischen Ontologie der Rede von der Existenz selbstreferentieller sozialer Systeme umzustellen auf die autologische Differenz der Beschreibung eines Beobachters in seinem (oder ihren) Umfeld? Diese autologische Differenz, damit müsste man rechnen, ist nicht nur für das Verhältnis eines Autors zu seiner Disziplin, sondern auch für sein (und ihr) Verhältnis zum Schreibtisch und Zettelkasten, zu Organismus und Gehirn, zu Bewusstsein und Gesellschaft paradigmatisch aufschlussreich. Die Systemtheorie wird medizinisch (etwa im Sinne von Ramachandran 2012).“
[…] man Baeckers neue Thesen zum Sein oder Nichtsein sozialer Systeme, die kürzlich im systemagazin einiges an Kommentaren nach sich zogen, auch anders lesen kann? Nicht nur als systemtheoretische Selbstreflexion, sondern […]
Ich kann der Relativierung des Systembegriffs auf die Tätigkeit eines Beobachters nur zustimmen. Die Eingangsthese Luhmanns in seinem 1984’er Opus „Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt“ weisen von Vornherein auf denjenigen, der diese Überlegungen anstellt und setzt somit den Systembegriff als eine nützliche Konstruktion fest. Weniger irreführend wäre es gewesen, das System im Einklang etwa mit Maturana wie folgt zu bestimmen: „Systeme sind Einheiten, die ein Beobachter durch Unterscheidung als zusammengesetzt und abgegrenzt konstituiert“ (vgl. „Systemische Therapie“ Ludewig 1992, S. 90; aktualisierte Neufassung in Carl-Auer-Verlag 2015). Damit wäre dem von Baecker geforderten „epistemologischen Zweifel“ bzw. die Rückbeziehung auf den Beobachter eindeutiger Rechnung getragen. Das schien aber Luhmann nicht zu gefallen, denn er warnte mich am 22.01.1991 davor, „… Der Text zur Beobachterperspektive verführt einen nicht sehr sorgfältigen Leser dazu, in das alte Denken der nur analytischen Systemtheorie zurückzufallen. Ich weiß und leider selber darunter: Es ist schwierig, dies zu vermeiden“.
“Systeme sind Einheiten, die ein Beobachter durch Unterscheidung als zusammengesetzt und abgegrenzt konstituiert.”
Ich weiß nicht, ob Sie das auch so sehen, Herr Ludewig. Aus meiner Sicht liegt der (leicht zu übersehende) Witz dieser Bestimmung von Systemen in dem UND. Denn es verweist auf die letztlich immer IMAGINÄR bleibende, nicht beobachtbare, vom Beobachter dennoch mittels Erkennen und Handeln zu VER-WIRKLICHENDE Einheit des Unterschieds von System und Umwelt – und damit letztlich auf den Beobachter als ein lebendes System. So gesehen wäre es nicht verwunderlich, dass Luhmann das nicht mochte.
Als lebende Systeme stehen Beobachter (menschliche Wesen) aus Sicht der Systemtheorie vor dem paradoxen Problem, dass sie, wenn sie erkennen und handeln wollen, Geistiges (reine Relationen) und Körperliches bereits a priori auf einen tragfähigen Nenner gebracht haben müssen. Ich sehe die Systemtheorie dabei nur als eine der vielen von Menschen entwickelten Methoden, Antworten auf die Frage zu finden, die uns menschliche Wesen spätestens seit Einführung der Sprache – notwendig – umtreibt: „Wer sind wir?“ oder „Was heißt es Mensch zu sein?“
Maturana und Luhmann sind diese Frage von zwei gleicherweise möglichen und notwendigen, dennoch scheinbar diametralen Standpunkten aus angegangen; sie haben sich (noch) nicht in der Mitte getroffen. Bis heute ist dies eine offene Baustelle der (oder einer künftigen) Systemtheorie.
ICH finde interessant, wie Medizin und leb-haft mit Organismus und Körperlichkeit zusammen hier in den Text hineinkommen. ICH habe bei D. Baecker nur den Beobachter „gelesen“, der mit „Luhmann“ gelabbelt/adressiert ist, aber deswegen noch lange keinen Körper hat.
Autologie würde dann einen ich-Bezug (des Beobachters) bedeuten wie er in der Kybernetik 2. Ordnung vorgesehen ist: der Kybernetiker als kybernetisches System. Dieser ich-Bezug müsste sich sprachlich – etwa in ich-Formulierungen zeigen, die klar machen, dass ein Beobachter – im Sinne von Maturana – spricht, was N. Luhmann immer verworfen hat.
Die Thesen von D. Baecker lese ich als eine Wiederaufnahme des Streites zwischen Maturana und Luhmann, vielleicht ist die Zeit jetzt reif?
ja. Die Systemtheorie „bekäme es mit dem Leben zu tun“. Es ginge letztlich vielleicht um die – alles andere als triviale – Frage, wie beobachtende lebende Systeme denkbar und möglich sind. Um die Beobachtung des Musters, das die Beobachtungsweise Maturanas und die Luhmanns miteinander verbindet. Eine vernachlässigte Baustelle der Systemtheorie.
hmmm .. ich kann diese „Vernachlässigung“ nicht DER Systemtheorie anlasten. Mir scheint, dass verschiedene Systemtheorien (Maturana versus Luhmann) verschiedene Gründe haben, diese Differenz nicht als Baustelle zu sehen.
Und D. Baecker macht jetzt offenbar eine weitere Systemtheorie, in welcher ich aber auch „kein Leben, keine menschlichen Körper mit einer Psyche“ sehen kann.
Mit „der“ Systemtheorie meinte ich die ST Luhmanns, die ja im deutschen Sprachraum gewöhnlich (leider) als „die Systemtheorie“ bezeichnet wird.
Natürlich hatten beide Autoren gute Gründe, die Differenz nicht als Baustelle zu sehen. Meiner Auffassung nach haben Beide sich im blinden Fleck des jeweils Anderen verortet.
Ich behaupte, dass Gregory Bateson bereits auf der richtigen Spur war, was allerdings auch leichter war, weil er noch nicht mit den Begriffen „Autopoiesis“ und „Beobachter“ arbeitete. Maturana und später Luhmann haben dann – mit eben diesen Begriffen – sozusagen erst einmal eine Ebene tiefer angesetzt und das übergreifende Muster wieder aus den Augen verloren.
Ich denke auch, dass die Zeit reif ist.
Ich möchte es allerdings nicht als „Streit“ sehen, sondern als Suche nach dem Muster, das Beide verbindet. Dass dieses Muster durch fest-stellendes Beobachten nicht beobachtbar ist, macht die Schwierigkeit aus.
ja, „Streit“ – wie manifest und intensiv er auch war – ist Selbstsicht, was in einer Fremdsicht als (misslungene?) Suche gesehen werden kann.
Ich beziehe mich auch gerne auf G. Bateson, ich finde diese Referenz bei H. Maturana nicht und bei N. Luhmann sogar konkrete Belege, dass er G. Bateson NICHT gelesen hat.
Mein These: Beiden waren im Unterschied zu G. Bateson Wissenschaftler (sic)
Stimme zu, sehr spannender Artikel. Er erinnert mich an dieses Zitat von Reese-Schäfer aus dem Artikel von Tom Levold: Die Perspektive der „ganzen Person“. Zur gesellschaftlichen Verantwortung von Psychotherapie (1) „Gesellschaftsvergessenheit der Psychotherapieszene“?:
„Luhmanns Beobachten hat seinen eigenen, charakteristischen blinden Fleck. Es kann Handlungen beobachten und anderes Beobachten beobachten. Es versagt aber in allen Situationen, in denen selber gehandelt oder entschieden werden muss…….“
Was, um alles in der Welt, hat Autologie mit Medizin zu tun?
(Oder „lebhafter“ gesagt: Wer den Autor – Luhmann, z.B. – hinter der Theorie bevorzugt gegenüber dem Bezugsproblem der Theorie – Selbstreferenz, z.B. -, der begräbt die Theorie mit dem Autor, gerne auch schon zu Lebzeiten.)
Nicht medizinisch wird solcherart Systemtheorie (Abs. 2 unten), sondern leb-haft.
Sie bekäme es mit dem Leben zu tun.
Spannender Text!
„Leb-haft“ ist in der Tat ein sehr viel besserer Begriff!
Naja, Luhmann war js sowohl Systemtheoretiker als auch Konstruktivist, von daher sicherlich kein naiver Realist…