systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

Eine gelungene Begegnung von Bindungs- und Beziehungspsychotherapie

| 3 Kommentare

Heute würde Daniel N. Stern (16.8.1934 – 12.11.2012) 90 Jahre alt. Er war einer der führenden Säuglingsforscher des vergangenen Jahrhunderts, der die Ergebnisse seiner empirischen Untersuchungen in vielen Veröffentlichungen auf beeindruckende Weise in therapietheoretische und -praktische Modelle überführte. Auf der Website des John Bowlby-Centre ist eine Fallgeschichte von ihm zu finden, in der er beispielhaft zeigt, was er unter einem „Gegenwartsmoment“ versteht, und die erstmals im Band „Attachment: New Directions in Psychotherapy and Relational Psychoanalysis – Vol. 1 No.1” (Karnac) erschienen ist.

Darin heißt es: „This kind of moment is what the Boston Change Process Study Group calls a ‘now moment’. (…). It is a moment of Kairos when, all at once, many things come together and come to crisis in the therapeutic relationship. In that short time window if you act, you can change the destiny of what will happen. And if you don’t act, the destiny will be changed anyway because you didn’t act. Kairos is the ‘moment of opportunity’, like a ‘moment of truth’ or a ‘decisive moment’. Such ‘now moments’ cause much anxiety in the therapist, who is not sure what to do, and there is not an appropriate technical fall back position that is acceptable, clinically and perhaps morally. Therapist and patient both sense that something momentous is happening, that the ongoing therapeutic relationship has been threatened and put at risk. Also hanging in the air is the therapeutic framework or at least the traditional, personal way the patient and therapist have been working together, up until now. Such moments demand an alteration in the intersubjective field between the two. It is not important whether one wants to put this in terms of the transference–countertransference momentary stance. It is a two-person event involving a potentially perturbing change in the intersubjective field of the total relationship, transferential and real.“

Den vollständigen Text finden Sie hier …

3 Kommentare

  1. Daniel Stern, der Nachfolger Jean Piaget auf dem Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie in Genf, ist für mich einer der wichtigsten Forscher und Autoren der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts im Bereich Psychologie. Sein Hauptwerk trägt auf Englisch den Titel: „The Interpersonal World of the Infant“, (Die interpersonale Welt des Säuglings). Der Titel der deutschen Übersetzung lautet dann leider : „Die Selbsterfahrung des Säuglings“. Der Irrtum könnte nicht größer sein, denn der Inhalt des Buches wird Seite für Seite bestimmt durch Forschungsergebnisse- designs, die die Welt des Säuglings als interpersonale Welt beschreiben, in der sich das subjektive Selbstempfinden von Säuglingen und Kleinkindern und das Bezogensein von Kindern und Bezugspersonen in einem „untersubjektiven Raum“ wechselseitig beeinflussen und auseinander hervorgehen.

    Vielleicht liegt es an diesem Titel, dass Stern in der systemischen Szene (theoretisch und praktisch) viel zu wenig wahrgenommen und rezipiert wurde. Dabei geht es um extrem spannende entwicklungstheoretische Grundlagenthemen, wie u.a.: supramodale (amodale) Wahrnehmung, Prozesserleben, Spiegelfähigkeit, Vitalitätsaffekte und Aktivierungskonturen (vgl. Bleckwedel, 2008, S. 258-263), die in allen modernen Therapieformen, die sich mit Affektregulation und der Regulation von Beziehungen beschäftigen, eine enorm wichtige Rolle spielen. Leicht zugänglich werden die komplexen Ideen Sterns in dem poetisch geschriebenen Sachbuch: „Tagebuch eines Babys“.

    Ich verdanke Daniel Stern so viel. Die entwicklungsorientierte systemische Theorie des Zwischenmenschlichen, die ich 2022 vorgelegt habe (Bleckwedel 2022, Menschliche Beziehungsgestaltung. Ein systemische Theorie des Zwischenmenschlichen) ist ganz wesentlich von den bahnbrechenden Forschungsergebnisse und Ideen Daniel Sterns beeinflusst und inspiriert.

    Jan Bleckwedel, Bremen

  2. Barbara Kuchler sagt:

    Da ergänze ich doch gleich mein Lieblingszitat aus einem Text von Tom Levold über Daniel Stern. 🙂 Es fasst super kompakt die Unterschiede in der prä-Stern’schen (psychoanalytischen) vs. post-Stern’schen Auffassung der kognitiven Kompetenzen von Säuglingen zusammen:

    Es gilt, dass die psychoanalytische Theorie „den Säugling einerseits für dümmer hält, als er ist, weil sie die Entwicklung zu einem einheitlichen Selbst für das Ergebnis eines langen Integrationsprozesses fragmentierter Erfahrungen hält, während die Befunde der Säuglingsforschung darauf verweisen, daß ein Baby schon kurz nach der Geburt seine Umwelt kreuzmodal wahrnimmt, d.h. in der Lage ist, unterschiedliche sensorische Wahrnehmungsdimensionen als einheitliche Gestalten zu erfassen. Andererseits hält sie den Säugling für schlauer, als er ist, indem sie ihm ein reiches, teils bizarr-destruktives Phantasieleben unterstellt, während die Forschung einhellig dahin tendiert, an symbolische oder sprachliche Prozesse gebundene psychische Tätigkeiten beim Kinde nicht vor dem Beginn des Spracherwerbes anzunehmen“.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.