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ein systemisches Pils auf Jürgen Henningsen…

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… trinkt Edelgard Struss im heutigen Adventskalendertürchen und erinnert damit an einen ihrer Lehrer, den früh verstorbenen Erziehungswissenschaftler und Kabarettisten Jürgen Henningsen (1933-1983):

Als ich 1972 anfing zu studieren, waren die Dinge am Fachbereich Erziehungswissenschaften (Pädagogik, Soziologie und merkwürdigerweise Publizistik) an der Uni Münster gerade völlig aus dem Ruder gelaufen. Die Universität war bis auf wenige Fachbereiche völlig überlaufen, regelmäßig fielen Veranstaltungen aus, Desorganisation und/oder studentische Streiks am laufenden Meter. Eines meiner ersten Seminare fand mit 200 Teilnehmenden im leeren Schwimmbad eines nicht mehr bewohnten Studentenheims statt. Andere Veranstaltungen wurden in winzigen Räumen über der sagenhaften Kneipe Pinkus Müller durchgeführt, in der damals hauptsächlich Mitglieder studentischer Verbindungen Altbier tranken, für Damen auch gerne mit – ganz schlimm! – eingemachten süßen Erdbeeren als Altbierbowle angeboten. Obwohl ich in Köln aufs Gymnasium gegangen war, kam ich mir im ersten Semester an der Uni der viel kleineren Stadt Münster vor wie eine desorientierte Provinznudel. Rettungslos verloren im universitären Chaos der wilden 70er Jahre.
Neuer Anlauf zum 2. Semester: ich wollte ganz dringend richtig studieren, mich intensiv mit etwas pädagogisch Relevanten beschäftigen. Wühlte mich durch die Veranstaltungsangebote im Vorlesungsverzeichnis, einem dicken Buch von 250 Seiten aus schlechtem Papier, das zur einen Hälfte aus unverständlichen Satzungen sowie Namen und Sprechstundenzeiten von DozentInnen bestand, zur anderen Hälfte aus extrem knapp gehaltenen Angaben für Lehrveranstaltungen.
Die einzige Chance, dachte ich mir, den Massenveranstaltungen zu entgehen, bestand darin, mir Seminare mit abseitigen Themen zu noch abseitigeren Zeiten zu suchen. Das erste Seminar meiner Wahl lief unter dem Titel „Warenästhetik“. Es hatte nur 25 Teilnehmende und gipfelte in dem Auftritt eines Ingenieurs und Objektdesigners der Firma Braun, der den staunenden Studierenden seine komplette Sammlung von Rasierapparaten zeigte und erklärte, wie vom ersten bis zum aktuellsten Modell das immer ambitioniertere Design der Braun-Rasierer entwickelt wurde. Das zweite Seminar zum so genannten Soziologenstreit begann montagmorgens und 9 Uhr und setzte voraus, dass man sowohl Habermas als auch Luhmann gelesen hatte. Ich fing mit letzterem an und war glaube ich für den Rest meines Studiums an diesem Fachbereich die einzige Studentin, die Luhmann tatsächlich und fasziniert, dafür jedoch Habermas überhaupt nicht gelesen hatte.
Luhmanns Strukturfunktionalismus passte seltsamerweise zu meinem dritten Seminar: „Musische Erziehung 1“. Es fand samstagvormittags von 9 bis 13 Uhr in dem ehemaligen Studentenheim mit dem Schwimmbecken statt, jedoch in einem angenehmeren Raum und mit nur 10 Teilnehmenden, von denen einer seine Trompete mitgebracht hatte, so dass ich dachte, jetzt bin ich vielleicht doch etwas zu weit abseits gelandet in der Auswahl meiner Veranstaltungen. In diesem Seminar wurde innerhalb weniger Wochen eine Kabarettgruppe gegründet, deren Mitglied ich bis weit nach Ende meines Studiums gewesen bin. Und das nicht, weil ich jemals eine besonders talentierte Kabarettistin gewesen wäre, sondern weil ich beim Kabarett systemischen Denken und Arbeiten lernte – alles in allem ein großartiges und lehrreiches Vergnügen.
Das Seminar, d.h. die Kabarettgruppe wurde geleitet von Professor Jürgen Henningsen und seinem Assistenten Anton Austermann. Henningsen war ein hagerer Intellektueller mit zurückgekämmten glatten Haaren, fast immer in weißem Hemd und Anzug, sah eigentlich ein bisschen aus wie Paul Watzlawik in mittleren Jahren, hätte aber auch anstandslos in ein Gruppenfoto der Künstlerszene aus der Weimarer Zeit gepasst. Ihn sehe ich als Initiator meines systemischen Denkens an. In der geistigen Tradition einer phänomenologisch begründeten „hermeneutischen“ Pädagogik (Dilthey, Mollenhauer) und des symbolischen Interaktionismus (Goffman, Blumer) predigte er in seinen Seminaren und besonders bei der Erarbeitung der Kabarettprogramme unermüdlich systemisches Denken und systemische Praxis:

  • Die Erziehungswissenschaft hat in erster Linie und fast ausschließlich nicht mit Sachen zu tun, sondern mit Meinungen über Sachen.
  • Die Wahrheit steckt nicht als roter Faden in der Vergangenheit, sondern in der jeweiligen Gegenwart als Zukunftsermöglichung.
  • Es reicht nicht, daß ein Satz richtig ist. Er muß auch lesbar sein, etwas leisten für den Adressaten. Er muß sich „darstellen“, seinen Inhalt in Form übersetzen. Das ist riskant.
  • Lernen ist eine durch Aufnahme und Verarbeitung von Informationen bewirkte Änderung von Verhaltensweisen selbstorganisierender Systeme, Lehren der Versuch einer Steuerung solcher Aufnahme und Verarbeitung.
  • Der erworbene Wissenszusammenhang ist die sprachlich erschlossene Erfahrung. […] Das Wort „Zusammenhang“ soll dabei keineswegs ein wohlgeordnetes, sauber abgestimmtes System suggerieren: zu denken ist an ein Gefüge, dessen verschiedene Bereiche in verschiedener Weise und Intensität miteinander integriert sind, sei es durch assoziative Verknüpfungen von Vorstellungen miteinander, sei es durch additives Konglomerat oder durch Superzeichenbildung. Totale Integration finden wir nur bei Kindern und Heiligen – die Wohnung eines gewöhnlichen Zeitgenossen ist unaufgeräumt.

Das waren für mich faszinierende Aussagen – und Ansagen, die beim Kabarettmachen unmittelbar praktisch relevant wurden. O-Ton Henningsen als Regisseur vor der Bühne: Leute, über diese Pointe könnt nur ihr lachen! Im Publikum versteht das keiner! Ihr müsst vom Publikum ausgehen und von dem, was die denken! Darauf müsst ihr euch beziehen! Und nicht darauf, was ihr alles wisst und meint! Also, was denkt so ein Mensch im Publikum? Er spielt Lotto und denkt, dass er wahrscheinlich gewinnt, und gleichzeitig, dass ein Lottogewinn das Unwahrscheinlichste überhaupt ist! Eure akademischen Ansichten vom Glücksspiel sind für das Publikum überhaupt nicht wichtig!
Diese Sichtweise habe ich nahtlos auf meine damals beginnende Arbeit in der Psychiatrie übertragen können – und befand mich damit in bester systemischer Gesellschaft, wie sich später herausstellte.
Nach den abendlichen Kabarettproben sind wir oft (sehr oft) in die Alte Post gezogen, um zu fünfzehnt leidenschaftlich Karten zu spielen und ordentlich Pils zu trinken. Das Spiel kam von Jürgen Henningsen und hieß Peesebee oder so ähnlich. Man musste vor jeder Runde die Anzahl der Stiche voraussagen, die man selbst machen würde. Leider habe ich die Regeln vergessen. Ich würde es gerne mal wieder spielen und ein systemisches Pils auf Jürgen Henningsen trinken. Falls jemand die Regeln zum Spiel kennt: bitte melden!

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Jürgen Henningsen, 1933 – 1983
Zitate: Autobiographie und Erziehungswissenschaft. Essen: Neue Deutsche Schule, 1981; Kinder, Kommunikation und Vokabeln. Heidelberg: Quelle & Meyer, 1969

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