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edition ferkel: Der Kodex der Chronizität

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Frank Farrelly ist als Begründer der„Provokativen Therapie“ bekannt geworden. Bereits 1966, im Alter von 35 Jahren, veröffentlichte er gemeinsam mit Arnold Ludwig einen Artikel über den„Kodex der Chronizität“ in den Archives of General Psychiatry, der von seiner Provokativität nichts eingebüsst hat. Bemerkenswert vor allem ist die kriegerische Sprache, mit der den Konstrukten chronischer Erkrankung zuleibe gerückt wird. Berichtet wird u.a. von einem Projekt, in dem auf einer speziellen Station„chronisch Schizophrene“„normal behandelt“ wurden:„Der LoyalitätsKodex unter Straftätern, Gefängnisinsassen, Kriminellen und gewissen Gruppen unterdrückter Minderheiten ist ein bekanntes Phänomen. Dieser Verhaltenskodex steht nicht nur für die Anerkennung der Werte einer sozial abweichenden Gruppe, er hindert deren Mitglieder vor allem daran, mit Angehörigen anderer Gruppen zu verkehren, insbesondere mit denen, die Macht repräsentieren. Eine Verletzung des Kodex, der zur Ergreifung oder Bestrafung anderer Gruppenmitglieder führt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit soziale Ächtung, Spott, physische Bestrafung oder gar den Tod des Verräters zur Folge haben. Mit „Spitzel“, „Drecksau“, „Streber“, „Arschkriecher“, „Schnüffler“ werden solche Personen gebrandmarkt, die mit Vertretern der Macht kooperieren, die für die Kontrolle oder Verhaltensänderung ihrer Gruppe verantwortlich sind. Interessant dabei ist die ambivalente Haltung der Autoritäten solchen Informanten gegenüber. Einerseits sind sie auf diese Leute angewiesen, um an wichtige Informationen zu kommen, andererseits betrachten sie Informanten als verachtungswürdige Verräter. Irgendwie haben also beide Gruppen die abweichende Subkultur wie die Obrigkeit einen ungeschriebenen, informellen Pakt geschlossen, um Leuten, die den Gruppenkodex brechen, Schutz und Trost vorzuenthalten. Obwohl solche Regeln ausführlich kommentiert worden sind, so ist doch wenig über das Vorhandensein ähnlicher Normen bei hospitalisierten chronischschizophrenen Patienten geschrieben worden. In geschlossenen Anstalten sind nicht nur solche Normen wirksam, auch das Verhalten des Personals gegenüber Patienten, die den Kodex brechen, gleicht oft dem Verhalten, das Autoritätsfiguren gegenüber Informanten an den Tag legen. So entsteht eine Situation, in der es Patienten schwer fällt, ihre Identität als chronischer Patient aufzugeben und sozial besser anerkannte Werte und Verhaltensweisen anzunehmen“ Der Artikel erschien in der Edition Ferkel 2001 auf Deutsch und ist nun auch in der Systemischen Bibliothek zu lesen.
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