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Dominik M. Rosenauer: Leseerlebnisse

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Ich lese gerne, seit ich lesen kann. Schon auf dem Schulweg bin ich oft mit Buch in der Hand lesend nach Hause gegangen. Im Studium dann weniger gerne, weil die Lehrbücher in deutscher Sprache den Nachteil haben, dass sie meist ziemlich unlesbar geschrieben sind – vor allem, wenn man sie z.B. mit englischen vergleicht. Fachliteratur hat oft den Nachteil, dass in vielen Worten wenige Neuheiten versteckt sind.
Wenn es dann löbliche Ausnahmen gibt, fallen die besonders auf. Eine dieser auffallenden Ausnahmen fiel mir zufällig in den Schoß und wurde sogar zur Basis meiner Diplomarbeit: George Alexander Kellys„Psychology of Personal Constructs“. Ein Buch, das in den Fünfziger Jahren in Amerika verlegt wurde und dort so wenig Nachhall fand, dass es zu Beginn des dritten Jahrtausends kaum aufzutreiben war. Es war ein wenig seiner Zeit voraus: mitten in der Hochblüte der dunklen Zeit des Behaviorismus kam da einer mit konstruktivistischen Ideen.
Ein zweites Leseerlebnis dieser Art hatte ich dann Jahre später bei Marshall McLuhans Werk „Understanding Media“. Nur ein Jahrzehnt nach Shannon und Weaver sprach da einer über Medien und Kommunikation auf eine ganz andere Art. Eine Art, die heute beim Lesen noch modern und kreativ erscheint. 40 Jahre vor dem Internet und mindestens 60 Jahre vor den sozialen Netzwerken wurde das „global village“ vorweg genommen und damit die Einfachheit der Kommunikation über den ganzen Planeten und deren Auswirkungen auf uns Menschen als Gesellschaft. Auch die Unterschiede der Medien und deren unterschiedliche Auswirkungen auf die Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung („hot and cold media“) war ein Denkansatz, der seiner Zeit weit voraus war – und heute über weite Strecken in Vergessenheit geraten ist. Denn auch das moderne Internet und dessen diverse Spielarten (Chat, Video-Übertragung, statische Webseiten versus soziale Netzwerke) lassen sich mit dem Gerüst dieser Überlegungen viel besser verstehen und in ihrer Bedeutung ermessen.
Die Leistung solcher Wissenschafter ist meines Erachtens gar nicht hoch genug einzuschätzen. Immerhin war das Terrain damals denkbar ungünstig für theoretische Überlegungen, die völlig konträr zum damaligen mainstream liefen. Heute ist es mit Sicherheit einfacher, Konstruktivist zu sein. Man ist einer unter vielen. Es ist auch bezeichnend, dass beiden Wissenschaftern zu Lebzeiten nie die Bedeutung zukam, die sie eigentlich verdient hätten. Und diese „Ächtung“ der Scientific Community zieht sich bis heute fort. Denn wer weiß schon, was hinter den Schlagworten „the medium is the message“ tatsächlich steht?

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