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Die Bedeutung von Evidence Based Medicine und der neuen funktionalen Eliten in der Medizin aus system- und interaktionstheoretischer Perspektive

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In einem ausgezeichneten und unbedingt lesenswerten Beitrag für die„Zeitschrift für Soziologie“ hat Werner Vogd (derzeit Professor für Soziologie an der Universität Witten-Herdecke; Foto: Universität Witten) 2002 die Problematik der zunehmend als Praxisstandard geforderte Evidenzbasierung in der Medizin unter systemischtheoretischer Perspektive unter die Lupe genommen. Die Lektüre dieses Aufsatzes dürfte auch für alle Psychotherapeuten von Belang sein, die sich selbst ebenfalls mit der Übetragung dieses Konzeptes auf ihre Tätigkeit beschäftigen müssen. Im abstract heißt es:„Die unter dem Stichwort „Evidence Based Medicine“ (EBM) in Gang gebrachte Bewegung der „Verwissenschaftlichung“ der Medizin wird im Hinblick auf ihre Bedeutung für die ärztliche Professionalisierung diskutiert. Hierzu werden im ersten Schritt aus einer systemtheoretischen Perspektive heraus die Konsequenzen im Hinsicht auf Anschlussmöglichkeiten für Recht, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft betrachtet. EBM eröffnet den verschiedenen Funktionssystemen Perspektiven, die ihnen in ihrer jeweils eigenen Logik verschiedenartige Zugriffe auf das Medizinsystem gestatten. Die Medizin als System hätte in diesem Sinne mit intelligenteren Störungen seitens ihrer Umwelt zu rechnen und wäre ihrerseits gefordert, hierauf intelligent, das heißt mit Komplexitätszunahme zu reagieren. Als Konsequenz dieser Analyse wird vermutet, dass EBM das Verhältnis von medizinischer Wissenschaft und Praxis nicht wie angestrebt vereinfacht, sondern mit zusätzlicher Komplexität belastet. Im zweiten Schritt wird die Professionsdynamik aus einer interaktionstheoretischen Perspektive heraus beleuchtet. Die in ausformulierten Evidenz-basierten Leitlinien und damit juristisch einforderbaren Ansprüche führen für den einzelnen Arzt zu einer verschärften Bewährungsdynamik, die entweder in Richtung vermehrter Autonomie oder um den Preis einer technokratischen Regression gelöst werden kann. Wie im dritten Analyseschritt gezeigt wird, kann die Bewegung der EBM auch als eine Form der Wissensinszenierung verstanden werden. Aus dieser Perspektive gesehen würden die zuvor geschilderten Konflikte entschärft, freilich um den langfristigen Preis der Dekonstruktion der eigenen wissenschaftlichen Basis. Wenn die EBM-Bewegung den Bogen der Rationalität in Richtung einer Ideologie des Rationalismus überspannt, wären in diesem Sinne durchaus paradoxe Effekte zu erwarten, die bis hin zur Deprofessionalisierung und funktionellen Entdifferenzierung ärztlicher Professionen reichen könnten“
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