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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Der Platz auf der Tribüne oder: Whose side are you on?

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Die Frage, welche Personen mir einen ersten Eindruck von systemischem Denken und Handeln vermittelt haben bringt mir die Erinnerung an eine meiner frühen Therapien ins Bewusstsein. Das war Mitte der 80er Jahre und ich war Gruppentherapeut in einer Klinik für Suchterkrankungen, in der v.a. Alkoholiker mit Langzeittherapien behandelt wurden. Natürlich war das keine intentionale „Vermittlung“ systemischer Prinzipien, es war mehr eine Sensibilisierung für systemische, genauer: für familien- oder paardynamische Zusammenhänge, zudem für Überweisungs- und Auftragskontexte, die sich für mich aus dieser, ich muss es wohl so sagen, zumindest vordergründig gescheiterten Therapie ergab.
Zu jener Zeit gab es ein Lied, das oft im Radio gespielt wurde, das hieß Whose side are you on?, und dieser Titel ist gewissermaßen programmatisch für diesen Fall. Ich betreute eine halboffene Gruppe von ca. einem Dutzend männlicher Patienten, mit denen ich im wesentlichen gruppen-, z.T. auch einzeltherapeutisch arbeitete. Eines Tages wurde mir ein neuer Patient zugewiesen. Im Eingangsgespräch berichtete er mir von einer chaotischen Beziehungsgeschichte; die Frau habe ihn mit den Kindern verlassen, er stehe jetzt ganz alleine da, das sei der Grund für sein Trinken. Der Mann wirkte geknickt, niedergeschlagen, seiner Hoffnungen beraubt. Nach einiger Zeit bekam ich einen Anruf von einer Therapeutin, welche mit der Ehefrau des Mannes arbeitete und sie kontaktierte mich, um mir gewissermaßen reinen Wein darüber einzuschenken, mit wem ich da arbeite. Zudem wollte sie mir ihre Wünsche nahebringen, an welchen Zielen mit dem Mann zu arbeiten sei und sie wollte mit mir ein gemeinsames Vorgehen abstimmen. Was sie mir berichtete, schockierte mich. Mein Patient wurde als gewalttätig der Ehefrau und den Kindern gegenüber geschildert, sie sei mit diesen inzwischen ins Frauenhaus gezogen, der Patient aber versuche immer wieder, trotz eines Kontaktverbotes seitens der Frau, in Verbindung mit ihr zu kommen. Ich solle nun mit ihm an seiner Problemeinsicht arbeiten und sicherstellen, dass es zu keinen weiteren Kontaktversuchen käme, damit die Frau nun endlich zur Ruhe kommen könne. 
Mein Problem war, dass ich mit einem Mal einen anderen Patienten vor mir hatte. War er bis eben ein trauriger Trinker gewesen, hatte ich nun ein gewalttätiges Monster vor mir, das seine Ehefrau trotz gegenteiliger Absprachen nicht in Ruhe ließ. Ich dachte zum einen, dass ich nun therapeutisch dringend etwas tun müsse, um den Patienten zur Einsicht zu bringen, zum anderen fühlte ich mich einigermaßen hilflos. In einem Einzelgespräch konfrontierte ich den Pat. mit der Information, er gestand die Probleme ein und ich vereinbarte mit ihm, dass er seine Frau bis auf weiteres nicht mehr kontaktierte. Erstaunlicherweise schien er sich daran zu halten.
Was nun folgte, war gewissermaßen eine eindrückliche Belehrung über Systemdynamiken, die sich einfach nicht an noch so gut gemeinte therapeutische Zielsetzungen halten, welche nur den einen Pol einer bestehenden Ambivalenz abbilden. Denn eine Weile danach kam der Patient zu mir mit einigen aktuellen Briefen seiner Frau, geschrieben aus dem Frauenhaus, in denen sie ihm deutlich zu verstehen gab, wie sehr sie ihn vermisse. Der Patient berichtete mir nun von einer sich seit Jahren wiederholenden Dynamik von Annäherungen und Trennungen, symbiotischen Phasen, emotionalen Verstrickungen, Vorwürfen, emotionaler und physischer Gewalt, einhergehend mit Alkoholkonsum. Im Laufe der Jahre hatte das Paar es „geschafft“, diverse professionelle Helfer einzuladen, „für“ sie aktiv zu werden. Alle waren gescheitert, etwas im Sinne der von ihnen selbst gesetzten Ziele zu erreichen, sie zogen sich dann, enttäuscht von ihren so wenig veränderungswilligen oder –fähigen Klienten, allesamt zurück, um von den nächsten abgelöst zu werden. Ich telefonierte mit der Therapeutin der Ehefrau meines Patienten und informierte sie – die Dame war entsetzt und fürchterlich enttäuscht von ihrer Klientin. Da habe sie doch scheinbar  so große Fortschritte mit ihr in Richtung der eigenen Autonomie gemacht. Und jetzt das! 
Ich selbst war damals verwirrt. Einmal mehr. Wusste nicht, was ich tun sollte. Hatte aber so ein Gefühl, dass da etwas wirkt, das irgendwie stärker ist als alle Therapeuten zusammen mit ihren so vernünftigen Zielen, die allesamt aus dem reflektiert-akademischen Wertekosmos herrühren. Und so kam mir der Impuls, dass der beste Platz, um mit diesem Patienten und seiner nichtanwesenden, aber kräftig mitmischenden Frau mitsamt der an ihr dranhängenden Therapeutin zu arbeiten, der auf der Tribüne sei.
Es stellte sich heraus, dass dies ein guter Platz war: gewissermaßen als Zuschauer, Zuhörer, An-Teil-Nehmender. Dieser Platz erwies sich als entspannter, zudem bewirkte er paradoxerweise ein Mehr an Empathie für den Patienten. Sich über die eigenen Wertsetzungen im Klaren zu sein, sie nicht unreflektiert dem Patienten aufzudrücken, dabei aber sich selbst, die Regeln der Klinik und letztlich auch die eigenen Werte zu vertreten, das war etwas Neues. Später lernte ich: das nennen Systemiker Neutralität. Und noch viel später lernte ich: das was Systemiker Neutralität nennen, ist im Kern bereits bei Freud angelegt, u.a. im Konzept der Abstinenz. So versuchte ich also, den Patienten, sein System, die mitbeteiligten gegenwärtigen und vergangenen Helfer, auch die Therapiesituation selbst, mitunter von außen zu betrachten. Mir half es. Ihm auch? Ich kann es nicht sagen. Womöglich war es hilfreich für ihn, dass sein Therapeut nun weniger pädagogisch mit ihm umging, für bzw. gegen ihn Ziele definierte und deren Erreichung gewissermaßen „überwachte“.
In der konkreten Arbeit mit den Patienten, finde ich, kann man mit am meisten über Therapie lernen. Und mit das meiste, finde ich (und denke dabei an Watzlawicks Parabel vom Schiff, das nachts auf hoher See ohne Navigation unterwegs ist), lernt man aus gescheiterten Therapien. Die Therapie, von der ich hier erzähle, ist nach meiner Erinnerung vordergründig gescheitert. Sie ging, wg. vorzeitigen Abbruchs seitens des Patienten oder wg. einer vorzeitigen Entlassung aufgrund eines Verstoßes gegen die Klinikregeln, ohne konkretes Ergebnis zu Ende. Ich vermute, dass ich nicht sein letzter Therapeut war. Ich vermute zudem, dass sich nichts Wesentliches geändert hat am Problemmuster (oder was ich und andere Therapeuten dafür hielten). Mein Wunsch aber ist ein anderer: möge es ihm und den ihm Nahen gut ergangen sein.

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