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Das Versagen der Diplomatie

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Jeden Tag führen neue bedrückende Nachrichten aus der Ukraine und von den weltpolitischen Akteuren vor Augen, wie – und in welch atemraubenden Tempo – die gegenwärtigen geopolitischen Auseinandersetzungen eskalieren. Von allen Seiten wird Öl ins Feuer gegossen, und es ist schon bemerkenswert, dass in diesen Tagen ein Wort wie„Russlandversteher“ zum Schimpfwort werden kann, als sei es eine Schande, etwas verstehen zu wollen – ganz unabhängig davon, wie man schließlich die russische Politik zu bewerten hat. Um die Dynamik solcher geopolitischen Auseinandersetzungen verstehen zu können, bedarf es es doch etwas größerer Anstrengung hinsichtlich der Erfassung der historischen, sozialen, geografischen, ökonomischen, ethnischen und politischen Zusammenhänge als viele unserer Politiker an den Tag zu legen scheinen. In diesem Zusammenhang gewinnt ein Buch aus dem Jahre 1999 dramatisch an Aktualität, nämlich Vamik D. Volkans Buch über„Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte“, das im Psychosozial-Verlag erschienen ist. Volkan ist in Zypern geborener Türke, der früh in die USA ausgewandert ist, wo er als Psychiater und Psychoanalytiker das  »Center for the Study of Mind and Human Interaction« an der University Virginia gründete. Der Verlag schreibt: „Das neue Buch Vamik D. Volkans schlägt die fehlende Brücke zwischen psychoanalytischen Konzepten und der traditionellen Vorstellungswelt von Diplomaten, Historikern, Politologen und Sozialwissenschaftlern. Diese Brücke schafft einen neuen Zugang zum brisanten Thema ethnischer, religiöser und kultureller Unterschiede, die mit der Identität von Großgruppen eng verknüpft sind. (…) Volkan nutzt sein klinisches Wissen und seine Erfahrung aus 25-jähriger Arbeit mit Großgruppen in konfliktgeschüttelten und traumatisierten Gesellschaften, um eine pragmatisch orientierte Studie der Dynamik von Großgruppen vorzulegen. Er stellt neue theoretische Konzepte und ihre praktische Anwendung vor. Sie ermöglichen uns ein besseres Verständnis für die Interaktion von Großgruppen im Frieden wie in Krisenzeiten.“ Caroline Neubaur stellte in einer Rezension für die F.A.Z. im Jahre 2000 fest: „Viele der Diagnosen, die er stellt, sind ohne psychoanalytisches Vokabular formuliert, und sympathischerweise gehen politologische und psychoanalytische Urteile bei ihm oft durcheinander. Das heißt nicht, dass Volkan nichts von der Psychoanalyse verstünde. Im Gegenteil. Er schreibt jedoch nicht als Dogmatiker oder Theoretiker, sondern wie Buddha als Lebenspraktiker: Vor allem will er sich den Politikern und ihren Ratgebern verständlich machen, die täglich mit den Dynamiken von Großgruppen zu tun haben, und setzt deshalb auseinander, ‚auf welchen politischen und gesellschaftlichen Wegen Großgruppen konkret ihre Identität wahren und schützen““. Ronald Milewski hat das Buch für systemagazin gelesen und empfiehlt es nachdrücklich zur Lektüre. Sein Resümé: „Mit der von Volkan zur Verfügung gestellten psychoanalytischen „Linse“ lassen sich der von Putin beklagte „Zusammenbruch der Sowjetunion“, die darauffolgenden Prozesse bis hin zu den aktuellen Ereignissen aus einer vertieften Perspektive lesen. Dazu bieten sich u. a. sein Modell des „gewählten Traumas“, sein Konzept der Großgruppentrauer und das traumatisierter Gesellschaften an. Gleichermaßen hilfreich ist seine Darlegung des Zusammenhang zwischen der „inneren Welt des Führers“ und der Großgruppenidentität. Hinsichtlich einer Analyse des Verhaltens der Diplomatie nützlich ist die Unterscheidung zwischen Vigilanz, Hypervigilanz und defensiver Vermeidung sowie die Überprüfung der Bereitschaft und Fähigkeit, auf politischer bzw. diplomatischer Ebene unbewusst motivierte Widerstände und Abwehrmechanismen ins Kalkül zu ziehen.Sein Buch ist gut lesbar, seine Modellbildung ist stets der praktischen Umsetzbarkeit verpflichtet. (…) Aus den zahlreichen, von Volkan angeführten historischen Beispiele vergleichbarer Ereignisse, der Darstellung sich anschließender Formierungen sowie der exemplarischer Diskussion konstruktiver Wendungen ergeben sich andererseits Anregungen zu einem Umgang mit Konfliktsituationen. So liefert Volkan mit dem „Baum-Modell“ des CMHI, wie es in Estland angewendet wurde, ein tiefenpsychologisch fundiertes systemisches Modell zur gemeinschaftlichen Bearbeitung konfliktbesetzter Veränderungen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen. Er diskutiert darüber hinaus die im Prozessablauf auftauchenden und aus seiner Sicht weitgehend unbewusst motivierten Stolpersteine sowie Möglichkeiten zu deren Überwindung.“
Zur vollständigen Rezension…

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