„Das Karussell der Empörung” von Arist von Schlippe beschäftigt sich mit der Dynamik der Konflikteskalation und beschreibt, wie Empörung als Eintrittskarte und Motor eines Konfliktkarussells fungiert, das sich immer schneller dreht. Es behandelt die psychologischen Mechanismen, die zu eskalierenden Konflikten führen, darunter verletztes Gerechtigkeitsempfinden, negative Erwartungsstrukturen und Wahrnehmungsverzerrungen. Dabei wird erläutert, wie Konflikte zunehmend personifiziert werden, mit Schuldzuweisungen und Unterstellungen, was eine Spirale der Empörung befeuert.
Günter Reich, Psychoanalytiker und Familientherapeut aus Göttingen, hat das Buch gelesen und für systemagazin einen Rezensionsessay geschrieben:
Günter Reich, Göttingen:
Massive polarisierende gesellschaftliche Auseinandersetzungen scheinen im Zeitalter der sogenannten Sozialen Medien neue Eskalationsstufen erreicht zu haben. In den öffentlichen, z. B. medialen Auseinandersetzungen fehlt häufig der nüchterne Blick auf historische Entwicklungen, Fakten und eine selbstkritische Haltung zu eigenen Positionen. Hypermoralismus und Verteufelung jeweils Andersdenkender forcieren und vertiefen regressive gesellschaftliche Spaltungsprozesse. Die „leise Stimme der Vernunft“ (Freud im Briefwechsel Einstein/ Freud „Warum Krieg?“, 1933) scheint wenig hörbar zu sein.
Wie wohltuend ist in diesem Kontext die Arbeit von Arist von Schlippe, der die Entwicklung destruktiver Konflikteskalation in zwischenmenschlichen Beziehungen aus unterschiedlichen Perspektiven verstehbarer und somit potenziell handhabbarer macht. Seit 25 Jahren widmet sich der Autor der Frage, oft in Co-Autorenschaft mit Haim Omer, wie die Spirale von Ohnmacht und Gewalt und interpersonellen Kontexten (Familie, Schule, Gemeinde) durch neue Formen der Autorität, z. B „Elterliche Präsenz“, durchbrochen werden kann (z.B. Omer & v. Schlippe 2010, 2016).
Nun zeigt er in gut nachvollziehbaren Kapiteln auf, welche Einflüsse – unter anderen – das Karussell der Empörung in Gang bringen und so antreiben, dass es nicht aufzuhalten zu sein scheint. Hierzu führt er kommunikations- und systemtheoretische Konzepte mit solchen zur Bedeutung von Affekten und kognitiven Prozessen sowie narrativen und transgenerationalen Perspektiven zusammen. Diese reichhaltigen Überlegungen fließen in Vorschläge zur Deeskalation von interpersonellen Konflikten ein.
Konflikte werden unterschiedlich bewertet. Oft hat das Wort Konflikt einen negativen Beigeschmack. Einige Denksysteme, z. B. die Psychoanalyse, die ich auch vertrete, begreifen den Menschen als „Konfliktwesen“, das immer mit Ambivalenzen und Ambiguitäten sowie unterschiedlichen Wünschen und Forderungen zu kämpfen hat. Östliche philosophische Systeme sehen Gegensätze als sich bedingende Einheiten an, ebenso das dialektische Denken. Konflikte können die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Standpunkten und Interessen, Motivlagen und Bedürfnissen fördern, zu neuen, oft sprunghaften Entwicklungen führen. Konflikte werden so zum Motor von „Fortschritt“, wie auch immer man ihn definieren mag. Sie können aber auch massiv destruktiv entgleisen, wobei die hier beteiligten Akteurinnen und Akteure die von ihnen in Gang gesetzten Eskalationsspiralen nicht mehr beherrschen, sondern deren „Logik“ folgen: wie in Goethes „Zauberlehrling“. Die Geister, die man gerufen hat, kann man nun nicht mehr beherrschen. Sie scheinen die Herrschaft vollständig übernommen zu haben. Hierbei relevante Prozesse leuchtet Arist von Schlippe aus.
Ein Konflikt ist zunächst einmal definiert als ein Gegensatz von Interessen, Meinungen, Wünschen oder Anschauungen, die aufeinanderstoßen, eben „konfligieren“. Ein Konflikt entsteht aus systemischer Perspektive, wenn eine Verneinung verneint wird. Wenn eine Verneinung bejaht wird, gibt es keinen Konflikt. Derjenige, dessen Kommunikationsbeitrag verneint wird, schließt sich in diesem Fall dem Verneiner an und damit ist der Konflikt beendet. Eskalierende Konflikte folgen dem von Gregory Bateson (1981) beschriebenen Muster der Schismogenese. Dieses beschreibt Spaltungsprozesse durch symmetrische Eskalation. Eine Seite versucht mit der anderen Konfliktpartei immer wieder gleichzuziehen („Wettrüsten“). Eine andere Form ist die komplementäre Eskalation. Die Ungleichheit zwischen Interaktionspartnern vertieft sich. Eine Interaktionspartnerin wird hier z. B. immer aktiver, der andere immer passiver. Die Verselbstständigung von Konflikten wird angetrieben durch die Hoffnung, dass eine der beteiligten Parteien die anderen doch noch irgendwann „besiegen“ könne.
Dabei spielen Erwartungen und die Kommunikation von Erwartungen eine zentrale Rolle. Um sich verständigen zu können, sind Menschen auf die kommunikativen Mitteilungen des jeweils anderen angewiesen. Sie können sich nicht gegenseitig „hinter die Stirn“ schauen. Sie können aber die möglichen Reaktionen des jeweils anderen erwarten und bilden sich hierüber wiederum eine Vorstellung, erwarten also Erwartungen. Die hierbei relevanten Prozesse können mit dem Konzept des Mentalisierens erfasst werden. Inwieweit sind Menschen in der Lage, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie das jeweilige Gegenüber „tickt“? Diese Metaperspektive ist offensichtlich entscheidend dafür, dass sich Menschen verständigen können. Die Erwartungen von Erwartungen können aber auch zu den oben skizzierten Spaltungsprozessen führen, z. B. die Erwartung, dass das Gegenüber von einem Aktivität erwartet, zu immer größerer Aktivität, die enttäuschender Weise in immer größere Passivität des Gegenübers mündet. Hier wird anscheinend davon ausgegangen, dass das Gegenüber so tickt wie man selbst. Bei solchen Interaktionen ist, zumindest temporär, eine Vorstufe des Mentalisierens aktiviert, der Modus der „Äquivalenz“. Das Äußere wird mit der eigenen inneren Befindlichkeit oder den eigenen inneren Konstrukten gleichgesetzt. Die Vorstufen des Mentalisierens werden aktiviert, wenn ein bestimmtes Ausmaß an affektiver Erregung überschritten wird (ein sog. „switch point“). Das Individuum regrediert auf eine einfache Stufe des kognitiv-emotionalen Funktionierens (wenn es sich nicht sowieso habituell darauf befindet). Bei all diesen Prozessen spielen also Affekte eine Rolle, wenn man die Varianz hierbei aufteilen will, vermutlich die bedeutendste. Ein wesentlicher Affekt bzw. eine wesentliche affektiv-kognitive „Mischung“ bei eskalierenden Konflikten ist eben die Empörung, um die es in diesem Buch geht. Diese wiederum resultiert oft aus dem Gefühl bzw. dem Eindruck oder der Tatsache verletzter Gerechtigkeit, wie es familiendynamisch zum Beispiel Ivan Boszormenyi-Nagy und Mitarbeiterinnen (1981, 1986) und später Helm Stierlin (2005) beschrieben haben. Auf verletzte Gerechtigkeitserwartungen folgt Empörung, die immer auch Bewertungen („gut“-“schlecht“, „gerecht“- „ungerecht“ etc.) und damit moralische Urteile in sich trägt, wenn Letztere nicht sogar der Grund für Empörung sind. Dabei können Gefühle durch Denken und Gedankengebäude noch einmal deutlich verschärft werden.
Empörung und das, was ihr vorausgeht, wird kommuniziert. Kommunikation wiederum ist eine „Realität sui generis“, eine eigene Welt, mit eigenen Bedeutungen und Regeln, die ein „Eigenleben“ zu führen beginnen. Bereits Watzlawick et al. (1969) unterschieden bei Kommunikationen den Inhalts- vom Beziehungsaspekt. Letzterer wurde als Metakommunikation angesehen, der der Inhaltsaspekt bestimmt.
Wie Kommunikation geführt und wie sie verstanden wird, ist unter anderem durch das Bedürfnis nach Kausalität bedingt. Menschen neigen dazu, Phänomene, die ihnen begegnen, auf mögliche Ursachen zurückzuführen. Die Untersuchung von Ursache-Wirkungs-Ketten war für die Gattung Mensch sicher ein evolutionärer Vorteil, ist es vermutlich auch noch immer. Dieses Denken kann aber auch in Fallen führen, z. B. wenn komplexes Geschehen auf einfache „Ursachen“ zurückgeführt wird, oft vermischt mit moralischen Schuldzuweisungen.
Arist von Schlippe führt aus, dass menschliches Verhalten nicht von Ursachen bestimmt wird, sondern von Erwartungen über die Zukunft. Hier kann ich ihm so nicht folgen. Auch Erwartungen können zu „Ursachen“ werden. Das Bedürfnis nach Kausalität führt dazu, dass nach einem Anfangspunkt für Entwicklungen gesucht wird. Bei eskalierenden zwischenmenschlichen Konflikten werden die vermuteten „wahren“ Absichten des Gegenübers, dessen „Motive“ zur Ursache des Geschehens gemacht. Diese Vereinfachungen erhöhen oft die Komplexität der Zusammenhänge, nicht zuletzt, weil sie den Blick auf die verschiedenen Aspekte des Puzzles vernebeln und mögliche Lösungen blockieren. Konflikteskalationen werden oft durch enttäuschte Erwartungen ausgelöst. Dies sind, wie bereits erwähnt, oft Gerechtigkeitserwartungen – auch Belohnungserwartungen sind im Kern oft Gerechtigkeitserwartungen („das habe ich verdient“; „das habe ich nicht verdient“. Gegebene, angedeutete oder vermeintliche Versprechungen werden nicht erfüllt. Hierbei spielen unbewusste Prozesse eine Rolle. Arist von Schlippe verweist auf das von Arlie Russel Hochschild (2016) beschriebene Konzept der „Tiefengeschichten“, d. h. Narrative, die einer Überprüfung in der äußeren Realität oft nicht standhalten, aber wie Mythen von Völkern und Familien affektiv und somit effektiv wirksam sind. Sie enthalten oft die eben genannten Versprechungen. Derartige Versprechungen geben sich z. B. oft unausgesprochen oder unbewusst auch Partner in Liebesbeziehungen oder Ehepartner, häufig bereits in den Szenen des ersten Kennenlernens. Eine genaue Analyse von Beschreibungen dieser Szenen gibt oft Aufschluss über die Motive und Erwartungen, die mit der Paarbeziehung verbunden und in Krisensituationen oft enttäuscht werden Diese unbewussten „Verträge“ werden dann nicht mehr eingehalten. Dies greift das Selbstwertgefühl an. Das angegriffene Selbstwertgefühl ist ein wesentlicher Motor für weitere Konflikteskalation. Wie bereits oben skizziert zeigt das Konzept des Mentalisierens, dass es in menschlichen Interaktionen, zum Beispiel bei Paarkonflikten, einen „Switch-Point“ gibt, in dem die Fähigkeit zu Mentalisieren nicht mehr gegeben ist, stattdessen primitivere Wahrnehmungs- und Abwehrprozesse und entsprechende einfachere Beziehungsmuster aktiviert werden, wobei Projektionen und projektive Identifizierungen eine erhebliche Rolle spielen. Der Andere kann dann so provoziert werden, dass er in das jeweilige „Feindbild“ passt. Diese Bestätigungslogik findet sich in vielen festgefahrenen Beziehungen, auf welcher Ebene auch immer. Die Beteiligten sind nicht mehr in der Lage, sich selbst von außen zu betrachten, geschweige denn, sich versuchsweise in die Schuhe des Anderen zu stellen. Einer der wesentlichen Affekte hierbei ist Scham. Scham schützt die Grenze des Selbst. Wird jemand beschämt, wird sein Selbstgefühl massiv angegriffen. Die Reaktion ist dann oft Angriff als „beste Verteidigung“. Scham wird in der Regel maskiert, da bereits das Eingestehen von Beschämung beschämend ist (Wurmser, 1986/ 2024).
Ist die Eskalationsspirale erst einmal in Gang gesetzt, verstärkt sich zudem kognitiv der „einäugige Blick“. Auf den anderen werden Motivunterstellungen projiziert. Es kommt zur Attribuierung feindseliger Wahrnehmungsfehler und konfirmatorischer Informationssuche. Hier entwickeln sich überstarke „Sinnattraktoren“. Es wird nach dem gesucht, was man sowieso schon „weiß“. Freud (1921) sah die hierbei wirksamen regressiven Massenphänomene, die sich heute im Internet bisweilen lawinenartig entwickeln, als hypnoide Prozesse an. Eine Trance, in der die Wahrnehmung automatisch auf den Hypnotiseur bzw. das von diesem als wahrzunehmen Benannte richtet. Die Kommunikation wird gleichgeschaltet, das jeweilige Gegenüber in verschiedener Weise dämonisiert. Diese Prozesse schränken das kognitiv-affektive Erleben weiter ein. Bestimmte „Erklärungen“ werden immer wieder aktiviert, bestimmte Handlungen erscheinen dann als „alternativlos“. Der Wunsch nach Macht, auch als Befreiung aus gefühlter oder tatsächlicher Ohnmacht, beziehungsweise das Gefühl der Macht führen zur Illusion der „unilateralen Kontrolle“ bei eigener Überlegenheit. Hierbei können transgenerationale Prozesse des kollektiven Gedächtnisses auf familiärer oder größerer sozialer Ebene eine Rolle spielen. Man kann sich auch für Beschämungen rächen, die der Vorgeneration widerfahren sind.
Hat die destruktive Konfliktdynamik erstmal ein bestimmtes Stadium erreicht, so ist der Konflikt wie ein selbstständiges Wesen, ein „parasitäres Sozialsystem“ (Luhman 1984). Die aus der Paardynamik bekannten „vier apokalyptischen Reiter“ (Gottman 1995) beherrschen das Feld. Die heute mögliche Hochgeschwindigkeitskommunikation in den sogenannten Sozialen Medien beschleunigen die regressiven Prozesse.
Arist von Schlippe bleibt bei der Analyse nicht stehen. Er beschreibt auch Gegenstrategien, die jeder in seinem sozialen Kontext anwenden kann, z.B. die Verlangsamung der Reaktionen, ein reflexives Zurücktreten aus der Situation. Die Frage „wofür ist Ihnen das wichtig?“ kann weitere reflexive Prozesse anregen. Die Reflexion führt u. U. zur „Entgiftung“ der Situation, zur Entemotionalisierung der Prozesse.
Arist von Schlippe weist mehrfach auf die Verwechslung von Verstehen einerseits und Billigen beziehungsweise Gutheißen andererseits hin. Die Motive, Befindlichkeiten und Konstrukte des Gegenübers zu verstehen, heißt nicht, dessen Handlungen zu billigen oder gutzuheißen. Was soll daran falsch sein, Erdogan oder Putin zu verstehen? Wie sollen Wege aus Krisen gefunden werden, wenn man die Motive des Gegenübers nicht versteht? Jeder Schachspieler oder Fußballtrainer versucht, die Absichten und möglichen „Züge“ des Gegenübers zu verstehen. Diese schädliche Gleichsetzung ist leider ebenso verbreitet wie die Verwechslung von Vergleichen und Gleichsetzen. Vergleichen kann man zunächst einmal alles. Wissenschaft ist im Wesentlichen Vergleichen, systematisiert hoffentlich. Aber man kann nicht alles gleichsetzen. Durch die Verwechslung von Gleichsetzen und Vergleichen werden reflexive Prozesse oft eingeschränkt oder ganz unterbunden.
Zentral gegen destruktive Eskalation wirkt zudem die Entwicklung von Vertrauen. Arist von Schlippe beschreibt die Entwicklung vertrauensbildender Maßnahmen u.a. am Beispiel der Camp-David-Verhandlungen zwischen Israel und Ägypten in den 80er Jahren, die schließlich zu einem Friedensschluss führten. Ein weiteres Beispiel ist die sogenannte Kuba-Krise Anfang der 60er Jahre. Hier konnte die zunehmende Eskalation zwischen den Atommächten USA und Sowjetunion durchbrochen werden. Vertrauen ist gerade nicht Naivität. Vertrauen muss entwickelt werden. Vertrauen zu geben ist oft die einzige Möglichkeit, aus der negativen Spirale auszusteigen. Dieser Kredit kann „eingelöst“ oder auch „verspielt“ werden. Interpersonelles Vertrauen entsteht, wie bereits Ivan Boszormenyi-Nagy und Krasner (1986) und Stierlin (2021) ausführten, durch interpersonale Gerechtigkeit, durch „Fairness“. „Fairness beruht u.a. auf Multi-Perspektivität.
An weiteren Beispielen zeigt der Autor, wie man aus destruktiven Eskalationen aussteigen kann. Ein wesentlicher Bestandteil hierbei ist zudem die „dritte Perspektive“, wobei auf internationaler Ebene Organisationen, die dies könnten, z. B. UNO oder Rotes Kreuz, bei Konflikten leider zunehmend ausgeschaltet werden. Die dritte Perspektive hilft, für sich selbst einen reflexiven Standpunkt einzunehmen. Dies ermöglicht den „Ausstieg“ oder kann ihn zumindest erleichtern. Hier können die Akteurinnen und Akteure die Kontrolle über die Dynamik, die sich verselbstständigt hat, partiell oder weitgehend zurückgewinnen.
Dies widerspricht meines Erachtens z. T. den Ausführungen am Anfang des Buches, in denen der Autor, hier wohl sehr stark Luhmann folgend, ausführt, dass es nicht in der Macht der Personen stehe, Konflikte zu beenden. Natürlich kann ein Einzelner einen Konflikt nicht beenden, der von anderen mit aufrechterhalten wird. Aber verändern kann sich letzten Endes nur jeder Akteur selbst. Und über die eigene Veränderung können eventuell Veränderungen in Konfliktsystemen bewirkt werden. Geschichte wird immer noch von Menschen gemacht und Menschen setzen die Entwicklungen in Gang, die sie im weiteren Verlauf „versklaven“ können. Die dialektische Betrachtung zeigt allerdings auch, dass es ohne Sklaven keinen Herren gibt und dass Herrschaft (Illusion der Macht) auf Beherrschte bzw. sich beherrschen lassende angewiesen ist.
Können diese hauptsächlich auf das Verstehen direkter zwischenmenschlicher Interaktionen gerichteten Konzepte (Paare, Familien, Nachbarn, Schule, Kollegium, Team…) auch zum Verständnis größerer Konflikte beitragen, wenn es z. B. um Machtinteressen von Staaten, Zugang zu Rohstoffen und Nahrung, Profitinteressen geht? Leben wir in einer Zeit zunehmend eskalierender Konflikte zwischen und in Staaten oder haben wir in Mitteleuropa diese lange Zeit nicht wahrnehmen wollen, weil sie uns „weit weg“ oder „unwahrscheinlich“ erschienen? Vermutlich ist beides richtig. Weltweit gab und gibt es in den 80 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder auf unterschiedlichen Kontinenten heftigste gewalttätige Auseinandersetzungen und Kriege, bis hin zum Völkermord vor den Augen der Welt (Ruanda), völkerrechtswidrigen Angriffen (Irakkrieg, Ukraine, Iran) oder vorsätzlicher Zerstörung von Lebensgrundlagen (Vietnam, jetzt z. B. Gaza und „Westbank“). Auch massive polarisierende gesellschaftliche Auseinandersetzungen fanden in Deutschland immer wieder statt, ebenfalls mit Todesopfern („68er Proteste“, RAF).
In vielen dieser Konflikte gibt es einen „harten Kern“ von materiellen Interessen, ökonomischen oder ökologischen Zwängen, der sich nicht in Interaktion, Affekt und Kognition auflösen lässt. Lithium findet man eben nur in bestimmten Gegenden der Erde. In anderen Regionen wird Wasser knapp oder überschwemmt Lebensräume. Wie können wir hier zu fairen Lösungen kommen?
Auch wenn diese Konfliktdimensionen nicht Gegenstand des Buches sind, sondern, wie der Titel bereits sagt, „das Karussell der Empörung“, verbessern die vom Autor dargelegten und zusammengeführten Konzepte zum Teil auch das Verständnis hier stattfindender oder stattgehabter Prozesse.
Insgesamt handelt es sich um ein sehr spannendes, gut zu lesendes Werk, von dem ich mir wünsche, dass es in den vielen Empörungsdiskussionen unserer Zeit stärker beherzigt wird, so dass „die leise Stimme der Vernunft“ (Freud) wieder etwas kräftiger werden und Spaltungsprozesse, die bei Weiterführung nur in einer Loose-Loose-Situation für alle enden können, gestoppt und, „Prinzip Hoffnung“, eventuell sogar umgedreht werden können.
Literatur (nur die im Buch nicht zitierte)
Boszormenyi-Nagy I., Krasner B. R. (1986) Between give & take. A clinical guide to contextual therapy. Routledge, New York & London
Einstein A., Freud S. (1933) Warum Krieg? Ein Briefwechsel. Diogenes Verlag, Zürich, 2005
Freud S. (1921) Massenpsychologie und Ich-Analyse. Gesammelte Werke Bd. XIII, S. Fischer, Frankfurt a.M.
Omer H., v. Schlippe A. (2010) Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht
Omer H., v. Schlippe A. (2016) Autorität durch Beziuehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstandes in der Erziehung. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht
Wurmser L. (1986) Die innere Grenze. Das Schamgefühl – ein Beitrag zur Über-Ich-Analyse. In ders. (2024) Eifersucht, Rache und das Gift des Ressentiments. Psychoanalytische Studien zum tragischen Charakter. Herausgegeben von H.-J. Wirth u. G. Reich, Psychosozial-Verlag, Gießen

Arist von Schlippe (2022): Das Karussell der Empörung. Konflikteskalation verstehen und begrenzen. Mit einem Geleitwort von Anita von Hertel. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)
Illustriert von Björn von Schlippe. Mit einem Vorwort von Anita von Hertel
246 S., gebunden, 27 Abb.
ISBN 978-3-525-40810-0
Preis: 28,00 €
Englisch: The Carousel of indignation and outrage. Understanding the Nature of Conflict Escalation and how to Limit it. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2024. ISBN 978-3-666-40038-4
Verlagsinformationen:
Konflikte begleiten die Menschheit seit Urzeiten und wohl fast genauso lange versuchen Menschen, sie zu begrenzen und mit ihnen umzugehen – sei es als Betroffene oder als Helfer, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Denn wenn erst einmal ein Konfliktsystem entstanden ist, wenn sich negative Erwartungsstrukturen und mit ihnen negative Selbstverständlichkeiten und Eigengesetzlichkeiten entwickelt haben, wird es für die Beteiligten immer schwerer, diesen zu entrinnen: Die Komplexität unserer sozialen Lebenswelt, in der es für die Kommunikation ohnehin nicht leicht ist, sich zu orientieren, wird ausgeblendet. Verletztes Gerechtigkeitsempfinden, Missverständnisse und unglückliche Versuche, diese zu korrigieren, wechseln sich ab. Man beginnt, Konfliktursachen »personenbezogen« zuzurechnen (»Es liegt an dir! Deine Schuld!«), und dem Konfliktpartner negative Motive zu unterstellen (»Das machst du nur, weil …!«), der das wiederum ebenfalls tut. Eine Reihe gut untersuchter, aber wenig bekannte psychologischer Vorgänge laufen in uns ab, wenn wir in Konflikte geraten. Die Empörung über den anderen wächst, dummerweise meist auf beiden Seiten. Langsam beginnt das Karussell sich zu drehen – immer schneller, bis … Das Buch stellt die verschiedenen psychologischen Mechanismen in den Kontext eines systemischen Verständnisses von Konflikten und erläutert Möglichkeiten wie das Karussell gebremst und verlangsamt werden kann.
Über den Autor:
Prof. Dr. phil. Arist von Schlippe, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Familientherapeut und Familienpsychologe, hatte den Lehrstuhl »Führung und Dynamik von Familienunternehmen« am Wittener Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke inne. Er ist Lehrtherapeut für systemische Therapie, Coach und Supervisor (SG).
