Heft 18
Wilfried Hosemann & Dietrich Roloff (1990): Vorwort der Schriftleitung. In: Kontext (18), S. 4-5
Victoria Mareeti (1990): Tod in der Therapie. Epitaph für S. In: Kontext (18), S. 6–39
abstract: Mancher, manchem von uns dürfte es auch schon widerfahren sein, daß ein Klient, eine Klientin während der Therapie Selbstmord begangen hat. Und ich denke mir, daß ich mit den Gefühlen des Versagens und der Schuld nicht allein dastehe, die mich angesichts der unerbittlichen Tatsache überfallen haben, daß eine junge Klientin sich selbst getötet hat, während sie sich bei mir in therapeutischer Betreuung befand. Habe ich zuwenig getan? Habe ich etwas falsch gemacht? Derlei Fragen haben mich über Tage hinweg nicht losgelassen. Sicherlich hätte ich mehr tun können. Ich hätte zum Beispiel auf einer größeren Häufigkeit der Gespräche bestehen können. Besteht also meine Schuld lediglich in Unterlassung? Habe ich, ohne es zu merken, einen so groben Schnitzer begangen, daß ich die junge Frau, ohnehin am Ende ihrer Kraft, damit in den Tod getrieben habe? Oder hätte ich, wenn ich mir denn einen solchen Kunstfehler nicht vorzuwerfen habe, ihre Selbsttötung dadurch verhindern können, daß ich mich anders verhalten, daß ich zu anderen Interventionen gegriffen hätte? Liegt meine Schuld also darin, Fehler begangen zu haben, einen oder gleich mehrere? Andererseits, trage ich überhaupt Schuld? Bin ich tatsächlich schuldig? Sicherlich: Wenn ich einen so groben Kunstfehler begangen habe, daß der Freitod meiner Klientin als dadurch verursacht oder auch nur als daraufhin unvermeidlich gelten muß, dann bin ich schuldig; denn ich hätte ja auch anders gekonnt, zumindest anders können müssen. Wenn es hingegen darum geht, ob ich durch ein Mehr an Einsatz oder durch ein geschickteres Vorgehen ihren Selbstmord hätte verhindern können, dann drängt sich ja auch die Frage auf, ob nicht schon darin, daß ich überhaupt von mir fordere, ein Ereignis wie den Freitod grundsätzlich verhindern zu könnnen, sich therapeutische Größenphantasien zu erkennen geben, die zu entlarven gerade im Zusammenhang des „Todes in der Therapie“ unerläßlich ist, weil sie es sind, die uns unser Schuldgefühlunter Umständen überhaupt erst eingeben.
Dietrich Roloff (1990): Vielfalt der Perspektiven – Anmmerkungen zweiter-, dritter-, und meinerseits (Kommentar zu: »Tod in der Therapie. Epitaph für S.«)*. In: Kontext (18), S. 40–48
abstract: Der Beitrag von Victoria Mareeti hat in der Redaktion eine lebhafte Kontroverse ausgelöst. Ich habe die unterschiedlichen Urteile und kritischen Anmerkungen gesammelt und der Autorin zugänglich gemacht. Statt ihrerseits öffentlich dazu Stellung zu nehmen und sich auf diese Weise im KONTEXT an einem Diskurs von Rede und Gegenrede, von Einrede und Gegen-Einrede zu beteiligen, hat sie mich gebeten, ihren Standpunkt miteinzubringen in einen Kommentar, der die Sichtweisen ihrer kritischen Vorab-Leser mit ihrer eigenen Darstellung, ihren nachträglich-zusätzlichen Erläuterungen und ihrem Versuch einer Rechtfertigung abwägend zu verbinden versucht. Dieses Vorgehen hat auch die Zustimmung der Redaktionsmitglieder gefunden, die mit dem Artikel Victoria Mareetis befaßt gewesen sind. Es ist nicht das Thema, „Freitod in der Therapie“, das zur Kontroverse Anlaß gibt. Im Gegenteil, das ist ein wichtiges und zugleich vernachlässigtes Thema, vielleicht sogar eines, das gerade deshalb so vernachlässigt wird, weil es so wichtig, und das deshalb so wichtig ist, weil so schmerzlich ist. Was zur Kontroverse herausfordert, ist das eingefügte Gesprächs-Protokoll, das den größten Teil des Beitrags ausmacht. Und weil das die Leserin, den Leser vor soviel Befremdlichkeiten stellt, glauben wir uns, glaube ich mich verpflichtet, es mit einem Kommentar zu versehen, und zwar diesem.
Thomas Fleischer (1990): Schule als System: Probleme systeminterner Veränderung. Konflikte zwischen Beratungslehrern und Kollegien. In: Kontext (18), S. 49–69
abstract: Mit dem Auslaufen der Bildungsreform scheint die Zeit der großangelegten Programme und Modellversuche abgelaufen zu sein. Daraus kann aber nicht auf eine Aufhebung der Innovationsbedürftigkeit des Bildungswesens geschlossen werden. Auf der Ebene der einzelnen Schule wird von allen Beteiligten ein beträchtlicher Problemdruck ausgemacht, der in gleicher Weise Lehrer, Schüler und Eltern trifft. Angesichts des gegenwärtig bestehenden reformfeindlichen Klimas im Bildungsbereich mehren sich seit einiger Zeit die Bemühungen, unterhalb des Niveaus staatlich organisierter Reformen und außerhalb von Modellversuchen auf der Ebene der einzelnen Schule die bestehenden Handlungsräume für praxisverändernde Strategien zu nutzen. Damit rücken diejenigen Aspekte von Schule in den Vordergrund der Betrachtung, die ihren Charakter als soziales System betreffen; das sind vor allem die Aspekte der Kooperation und Kommunikation sowie des pädagogischen und innovativen Klimas der einzelnen Schule. Die angestrebten innerschulischen Veränderungen bezeichnet Wintgens (1976, S. 384) als „kleine innere Reform“. Denn die Organisations- und Kooperationsformen der Lehrerarbeit bestimmen nicht nur die konkrete berufliche Situation des einzelnen Lehrers, sondern auch die Auswirkungen von Unterricht und Schule auf die Schüler in ihrem Lernen, Befinden und ihrem Schulerfog und unterscheiden so erfolgreiche Schulen von weniger erfolgreichen (Fend 1986, Rutter et al. 1979). Im folgenden werde ich einige wesentliche Aspekte dieses Bereichs beschreiben und auf Vorgehensweisen und Probleme der systeminternen Innovation eingehen.
Hans-Peter Heekerens (1990): Der Aufstieg der Familientherapie – Kontextuelle Überlegungen. Eine Polemik. In: Kontext (18), S. 71–86
abstract: Die mittlerweile schon klassischen Richtungen der Familientherapie (experientiell, strukturell, strategisch und systemisch) haben sich seit 1975 in der Bundesrepublik stark ausgebreitet. Und das, obschon die Familientherapie keineswegs gegenüber anderen Therapieformen als die effektivere anzusprechen ist; sie ist allenfalls zeit- und kostensparender und hat positivere Nebeneffekte (Heekerens, 1989). Die dafür sprechenden Untersuchungsbefunde dürften der Mehrzahl der Familientherapeuten/innen aber unbekannt sein. Man muß also nach anderen Gründen suchen, will man verständlich machen, weshalb die Familientherapie ihren Aufstieg erlebt hat. Dabei darf man nicht schon bei allen angesprochenen Aspekten klare und eindeutige Antworten erhoffen. Eine Geschichte der Familientherapie in der Bundesrepublik ist erst noch zu schreiben (Reiter, 1988).
Dietrich Roloff (1990): Rezension – Gunthard Weber & Helm StierIin (1989): In Liebe entzweit. Die Heidelberger Familientherapie der Magersucht. Reinbek (Rowohlt). In: Kontext (18), S. 87-96
Dietrich Roloff (1990): Rezension – Thelma Jean Goodrich, Cheryl Rampage, Barbara Ellman & Kris Halstead (1988): Feminist Family Therapy. A Casebook. New York / London (W. W. Norton). In: Kontext (18), S. 96-104
Dietrich Roloff (1990): Rezension – Paul Davies (1988): Prinzip Chaos. Die neue Ordnung des Kosmos. München (Bertelsmann); James Gleick (1988): Chaos. die Ordnung des Universums. München (Droemer Knaur). In: Kontext (18), S. 105-114
Regina Könnecke (1990): Rezension – Walter Hollstein (1989): Nicht Herrscher, aber kräftig. Die Zukunft der Männer (Hoffmann und Campe). In: Kontext (18), S. 115-119
DAF e.V. (1990): Kontext-Statut. In: Kontext (18), S. 123-125
Heft 19
Wilfried Hosemann (1990): Vorwort der Schriftleitung. In: Kontext (19), S. 2-2
Claudia Köhle & Peter Köhle (1990): Ehe und Familie im Wandel – Tendenzen in der DDR. In: Kontext (19), S. 3–5
abstract: Werden sich bei Partnerschafts- und Familienphänomenen im Vergleich BRD und DDR, den ja der Leser aus der Bundesrepublik unwillkürlich vollziehen wird, große Unterschiede zeigen? Abgrenzungstöne vergangener Jahre könnten das vielleicht erwarten lassen. Andererseits wird der Möglichkeitshorizont für Partnerschaften und Familien nicht zuletzt auch durch kulturelle Konventionen aufgespannt. Eine starke gemeinsame Wurzel ist da das Individuum in seinem Eigenwert und seiner Einmaligkeit als Ideal bzw. Wert in der europäischen Kultur. Daran haben industrielle Revolution und auch das in der Praxis zum Stalinismus verkommene Projekt Sozialismus nichts geändert. So postulierten schon Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ als Gesellschaftsideal eine Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller sei! Und Ulrich Beck (1986) hat erst kürzlich noch die Dimensionen von Individualität in unserer europäischen Kultur breit aufgefächert. Kontrastierend dazu etwa der kulturelle Hintergrund in Japan, wo der Arbeiter in eheähnlicher Schicksalsgemeinschaft mit seinem Unternehmen lebt. – In einer rasenden Zeit wie der jetzigen soll noch vermerkt werden, daß dieser Beitrag Ende 1989 zusammengestellt worden ist.
Hans R.R. Böttcher (1990): Partnerschafts-und Familientherapie in der DDR. In: Kontext (19), S. 6–10
abstract: Die Psychologen und Ärzte, die in der DDR heute als Partnerschafts- und Familientherapeuten arbeiten, fühlten sich in der Regel zuvor einem der anderen Prinzipien verpflichtet. Manche kamen von der Gruppenpsychotherapie her, d.h. von der klinisch zusammengestellten, nicht der biosozial gewachsenen Gruppe, andere von der Verhaltenstherapie, was vor allem dann gilt, wenn man darin auch das fachgeschichtlich ältere Autogene Training mit einbezieht. Viele Psychologen besaßen zuvor eine Grundausbildung in der auf Rogers, Tausch und (bei uns) Helms basierenden Gesprächstherapie, was ein kürzerer Weg als von der Gruppen- oder Verhaltenstherapie her war, da Rogers ihn noch selbst gebahnt hatte. Anhand meines eigenen Weges kann sogar die Psychoanalyse einbezogen werden. Ich hatte das Glück, 1946-49 bei Alexander Beerholdt Vorlesungen zu hören und Seminare zu besuchen. Beerholdt war der einzige Leipziger Analytiker (und fast der einzige in der DDR), der die Nazi-Zeit überstanden hatte. Ab 1956 nahm er mich und zwei, drei andere in die Lehranalyse. Nach dem Rausschmiß aus der Leipziger Universität wurde ich 1958 sein Mitarbeiter. Daher wandelte sich unser Verhältnis in eines der Supervision. Allerdings schickten wir keinen zu Recht überwiesenen Patienten weg; das zwang uns, das Überangebot an Patienten mit Gruppen für Autogenes Training abzufangen und zusätzlich Gruppen für ambulante Gesprächstherapie zu bilden. Gleichsam im Rücken dieser Massenversorgung, die wir übrigens in unserer staatlichen Poliklinik auch als Lieferant von Konsultationsziffern, d.h. zu unserer Duldung brauchten, fanden unsere Einzelfall-Analysen statt. So erwarb ich mir sozusagen mehrgleisig Erfahrung, hatte Erfolge und Mißerfolge mit jeder dieser Verfahrensweisen bzw. Organisationsformen. Daß ich nach einigen Jahren unzufrieden wurde und mehr und mehr zur Arbeit mit Paaren und Familien überging, brauche ich Ihnen nicht ausführlich zu begründen. Selbstverständlich hatte auch ich erlebt, daß die Ehe- und Familienschwierigkeiten einiger Patienten, bei mir meist Patientinnen, größer wurden, je gehaltreicher die therapeutische Beziehung gedieh, ja sogar, je mehr Gewinn, sogar Symptom- reduzierung diese Patienten/innen erreichten. Aber erst in den 70er Jahren begann ich, diese Einsicht behandlungsorganisatorisch umzusetzen, was sowohl gegenüber der üblichen poliklinischen Organisation als auch gegenüber den individuumszentrierten Erwartungen vieler Patienten/innen ziemlich schwierig war.
Nadine Hauer (1990): Politische Identität – Kommunikation in der Familie. In: Kontext (19), S. 11–18
abstract: Die Erkenntnis, daß Familienkonflikte sehr oft oder sogar in den allermeisten Fällen nicht nur mit der einzelnen Familie zu tun haben, also nicht nur individuelle Konflikte sind, sondern meistens sowohl mit dem sozialen Umteld wie mit der Gesellschaft im allgemeinen zusammenhängen, ist eigentlich anerkannt. Trotzdem scheint mir, daß das Wissen um diese Zusammenhänge nicht wirklich in die therapeutische Auseinandersetzung mit den Störungen in den Familien eingedrungen ist. Ich meine, daß die üblichen Familienkonflikte, die meistens durch eine einzelne Person in der Familie – und in der Regel sind das die Kinder oder Jugendlichen – zum Ausbruch, oder sagen wir, zum Vorschein kommen, von den Familientherapeuten zwar vor dem gesellschattlichen Hintergrund und innerhalb des sozialen Umfeldes gesehen und diese Faktoren auch mehr oder weniger mit bedacht werden; aber sie werden nicht oder nur selten eigens thematisiert. Das heißt, meistens wird zwar das Problem oder das, was vordergründig als Problem vorliegt, zum Gegenstand erhoben, nicht aber die Gesellschaft selbst thematisiert. Anhand eines Projekts, an dem ich zwei Jahre gearbeitet und das ich jetzt abgeschlossen habe, möchte ich zeigen, was ich damit meine.
Wolf Ritscher (1990): Kontexte der Sozialisation: Gesellschaft, Familie, Kindheit. In: Kontext (19), S. 19–31
abstract: Noch bis in die fünfziger Jahre konnte man von der Bundesrepublik als einer in sich festgefügten Klassengesellschaft im Marx’schen Sinne sprechen, wo innerhalb der einzelnen Klassen ein relativ homogenes Weltbild, ein relativ einheitliches Wert-, Normen- und Sprachsystem herrschte. Verschiedene gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, z.B. – der ökonomische Produktivitätsfortschritt sowie die damit verbundene Expan- sion von Massenkaufkraft und Massenkonsum, – die Differenzierung des Warenangebots, – die Differenzierung der beruflichen Antorderungen, – die Abkoppelung der Familie von ihrer traditionellen Funktion der Existenzsicherung für alle ihre Mitglieder durch die globalen sozialstaatlichen Absicherungssysteme, haben als miteinander vernetzte Rückkopplungskreise das bürgerlich-liberale Postulat vom treien, autonomen Individuum scheinbar verwirklicht. Diese Scheinrealität wird immer bestimmender und umfasssender durch die Vermarktung von immer mehr Lebensbereichen des vergesellschafteten Menschen. Ihm wird die Verantwortlichkeit und Eigenproduktivität für diese Bereiche tendenziell entzogen (man denke z.B. an Nahrungsproduktion, Kinderspiele, Heilmittel), aber die Verfügung über die einschlägigen Produkte in Form von käuflich erwerbbaren Waren (z.B. Gewächshaus-Tomaten, industriell gefertigtem Spielzeug, Medikamenten aus den Retorten der Chemischen Industrie) wieder angeboten. Durch die schier unermeßliche Ausweitung des Warenangebots entsteht dann der Schein von Freiheit: Freiheit auf der Ebene des Konsums.
Günter Reich (1990): Familiendynamische Prozesse in Zweitfamilien. Zur Entwicklung familiärer Strukturen nach der Scheidung und nach dem Tod eines Elternteils. In: Kontext (19), S. 32–46
abstract: Nachscheidungs- bzw. Zweitfamilien sind eine im Zunehmen begriffene Familienform und damit eine familien- und gesundheitspolitisch immer relevanter werdende Gruppe. Nach Schätzung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Eheberatung gibt es in der Bundesrepublik ca.2,6 Millionen Familien, in denen ein Ehepartner bereits einmal verheiratet war, wobei in dieser Zahl auch unverheiratet Zusammenlebende eingeschlossen sind. Zwischen 40% und 50% der gegenwärtig geborenen Kinder werden nicht in ihrer Ursprungsfamilie aufwachsen (nach Krähenbühl et al. 1987). Selbst wenn diese Zahlen übertrieben sein sollten, geben sie angesichts der nach wie vor hohen Scheidungsraten, deren Absinken nicht abzusehen ist, doch einen Trend an. 1986 heirateten ca. 70.000 geschiedene Frauen und ebensoviele Männer, sowie ca. 5.000 verwitwete Frauen und 10.000 verwitwete Männer wieder. Geschiedene scheinen eher Geschiedene als Ledige zu heiraten. Ca. 34.500 geschiedene Frauen heirateten 1986 einen geschiedenen Mann, ca. 29.000 einen Ledigen. Verwitwete heirateten in ihrer Mehrzahl ebenfalls Geschiedene wieder (ca. 6.600), seltener Ledige (ca.4.000) oder selbst Verwitwete (ca. 2.000). Am stärksten ist also bei Wiederverheiratungen die Gruppe derer vertreten, in der beide Partner über Scheidungserfahrungen verfügen (alle Angaben nach: Statistisches Jahrbuch 1988). Dabei heiraten nur 40% der Geschiedenen mit Kindern wieder, während es bei den kinderlos Geschiedenen 90% sind. Von 1972 bis 1982 stieg die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik um ca. das Viefache (Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, 1985). Diese Lebensformen werden auch für Geschiedene zunehmend eine Alternative zu einer zweiten Ehe. Hier spielen sowohl materielle wie Ein- stellungsgründe eine Rolle. Nicht jeder Geschiedene kann sich eine zweite Ehe leisten, und nicht jeder, der es kann, will es.
Marie-Luise Conen (1990): Systemische Aspekte der Kooperation in der sozialpädagogischen Familienhilfe. In: Kontext (19), S. 47–53
abstract: In meiner langjährigen Tätigkeit als Supervisorin für Familienhelfer gewann ich oft den Eindruck, daß weniger die Familie das Problem darstellt als das Helfersystem, in das der Familienhelfer eingebunden ist. Hierzu ein typisches Beispiel: Die Kindertagesstätten- und Hortmitarbeiter beschweren sich beim Jugendamt über Familie „Lehmann“. Es kommt vor, daß Frau Lehman die Kinder nicht abholt. Dies geschieht häufig dann, wenn sie sehr betrunken ist. Ihr Mann holt die Kinder aus Verärgerung darüber gleichfalls nicht ab. Frau Lehmann wird von allen Beteiligten als „schlechte“ Mutter bezeichnet, auch von ihrem Mann. Später stellt sich heraus, daß Frau Lehmann meist dann trinkt, wenn ihr Mann sie mit Schlägen schlimm zugerichtet hat und sie sich u.a. wegen ihrer „Verunstaltungen“ nicht aus der Wohnung begeben will. Die Sozialarbeiterin des Jugendamtes wird wiederholt von den Kita- und Horterziehern bedrängt, die für eine sofortige Herausnahme der Kinder aus der Familie plädieren, da sie nach deren Ansicht zu verwahrlosen drohen. Das Jugendamt geht auf dieses Drängen nicht ein und verhandelt statt dessen mit der Familie, die schließlich als Kompromiß den Einsatz einer Familienhelferin „akzeptiert“.
Doris Voss-Coxhead (1990): In einer anderen Wirklichkeit. Familientherapie mit dem katathymen Bilderleben. In: Kontext (19), S. 54–61
abstract: Es gibt viele Wirklichkeiten: die Wirklichkeit der schwarzen Menschen, der weißen, die kindliche Wirklichkeit, die männliche, die weibliche oder die rauhe Wirklichkeit; letztlich mindestens so viele, wie es Menschen gibt. Mir geht es um noch eine Art von Wirklichkeit, um die „andere“, die Wirklichkeit sozusagen jenseits des körperlich abgrenzbaren Individuums, nämlich die Wirklichkeit des individuellen Traumbildes. Solche Traumbilder werden im katathymen Bilderleben vom Therapeuten bzw. von der Therapeutin initiiert. Das katathyme Bilderleben wurde von Hans Carl Leuner entwickelt, ursprünglich als Einzeltherapie konzipiert auf dem Boden des psychoanalytischen Theoriesystems. 1955 hat Leuner es in die psychotherapeutische Praxis eingeführt. Im Laufe der Zeit hat sich dann gezeigt, daß es sich besonders gut als Kurztherapie sowie für Gruppen eignet.
Volker Frey (1990): Befürchtungen und Erwartungen von Klienten einer Erziehungsberatungsstelle vor und nach dem Erstgespräch. Bericht über eine empirische Studie. In: Kontext (19), S. 62–82
abstract: Als Mitarbeiter einer Beratungsstelle für Familie und Jugendliche im süddeutschen Raum mit kleinstädtisch/ländlichem Einzugsgebiet stellte ich mir im Laufe meiner nun sechsjährigen Beratungstätigkeit immer wieder die Frage, wie die Klienten die Zeit im Vorfeld der Beratung erleben. Das heißt, mich interessierte, was Menschen in der Zeit bewegt, in der sie sich überlegen, ob sie sich an unsere Beratungsstelle wenden sollen. Mir lag daran, etwas mehr über die Situation, die Gefühle und Gedanken, die Erwartungen und Befürchtungen unserer Klienten in der Zeit bis zum ersten Gespräch bei uns zu erfahren, sowie darüber, wie sie dann vor diesem Hintergrund das Erstgespräch erlebt haben. Nach dem Motto „Der soziale Praktiker im Feld muß zum Forscher werden“ (Held 1985) habe ich deshalb versucht, mit einem empirischen Ansatz (anonyme schriftliche Befragung) etwas mehr Einblick in Leben und Erleben von Menschen, die sich bei uns anmelden, zu gewinnen. Neben den Vorstellungen der Klienten über Beratung, Beratungsstelle und die Person des Beraters interessierte mich aber auch das „Bild“, das die Berater sich über die Klienten machen, d.h. ihre Vermutungen zum klientalen Erleben in dem betreffenden Zeit- und Ereignisraum. Dazu wurde vor Bekanntgabe der Ergebnisse der Klientenbefragung eine Befragung der Berater durchgeführt. Besondere Beachtung sollte dabei in beiden Erhebungen den Befürchtungen und Erwartungen der Klienten und ihren damit verbundenen Phantasien gegenüber professionellen Helfern gewidmet werden. Nach einem Überblick über die Gesamtuntersuchung soll im folgenden gerade auf diesen Ausschnitt das Gewicht gelegt werden.
Jürg Willi (1990): Gemeinsamkeiten und Unterschiede familientherapeutischer Schulen. In: Kontext (19), S. 83–88
abstract: Ein Vergleich tamilientherapeutischer Schulen ist aus verschiedenen Gründen kaum durchführbar: – Zum einen nimmt wohl fast jede Schule für sich in Anspruch, alle wesentlichen Gesichtspunkte in ihrem Ansatz zu integrieren, neigt zugleich jedoch dazu, anderen Schulen Reduktionismus vorzuwerfen. – Jede Schule ist selbst in einem dauernden Wandel begriffen – oder sollte dies zumindest sein, wenn sie nicht stagnieren will. Es ist also insofern unzuverlässig, eine Schule mit einem bestimmten Konzept identifizieren zu wollen, das von ihren Anhängern möglicherweise in kurzer Zeit schon wieder abgeändert wird. – Die Unterschiede der familientherapeutischen Ansätze haben sich in den letzten Jahren verringert. Eine systemische Perspektive hat sich allgemein durchgesetzt. Von daher gesehen sind Abgrenzungen eher willkürlich. Ich verzichte also darauf, Schulen oder Institute miteinander vergleichen zu wollen, sondern möchte mich beschränken auf gewisse Gesichtspunkte, bezüglich weIcher es zwischen Familientherapeuten und zwischen Instituten erhebliche Unterschiede gibt. Ich überiassse es dem Leser, die ihm bekannten Institutionen in dieses Raster einzuordnen.
Hildegard Schäfer (1990): Zur Auflösung der Abteilung Psycho- und Soziotherapie an der Georg~August- Universität Göttingen. In: Kontext (19), S. 89-94
abstract: Nach Vollendung seines 65. Lebensjahres ist Prof. Dr. med. Eckhard Sperling, seit 20 Jahren Leiter der Abteilung tür Psycho- und Soziotherapie an der Universität Göttingen sowie der Ärztlich-Psychologischen Beratungsstelle für Studierende, die er sogar schon 1966 gründete, aus dem universitären Arbeitsleben ausgeschieden. Er und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben mit der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie immer in enger Verbindung gestanden. Eckhard Sperling selbst hat 1971 die Internationale Arbeitsgemeinschaft für Familienforschung und Familientherapie (AGF) und 1979 die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie (DAF) mit gegründet. Zwei Jahrestagungen, 1981 und 1988, fanden in Göttingen statt. In zahlreichen Veröffentlichungen, in Fort- und Weiterbildungen, in Vorträgen und Video-Demonstrationen haben er und die Mitarbeiter/ innen der Abteilung für Psycho- und Soziotherapie die Mehrgenerationen-Familientherapie mit großer Überzeugungskraft den interessierten Kolleginnen und Kollegen nahegebracht.