Heft 1
Hamacher, Cathrin & Christina Hunger-Schoppe (2024): Editorial: Rassismus. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 1-1.
Abstract: Wir schreiben dieses Editorial im Oktober 2023 und erleben aktuell wieder ganz bewusst: Kriege in Nahost und in anderen Teilen der Welt nutzen Diskriminierung zur brutalen Machtausübung. Vor allem Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus verschärfen sich auf erschreckende Weise. Wir, als Herausgebende der Familiendynamik, treten entschieden allen rassistischen, antisemitischen und weiteren, die Würde von Menschen verletzenden Aussagen und Handlungen entgegen, insbesondere wenn sie das Lebensrecht von Menschen in Frage stellen, und fordern sofortige Maßnahmen für Frieden und Gerechtigkeit! Rassismus, eine global in Strukturen komplex wirkende Ideologie, bedingt das Entstehen und Aufrechterhalten ungleicher Machtverhältnisse, die bestimmte Menschen privilegieren und andere benachteiligen. Damit gehen Konstruktionen von »Andersartigkeit und -wertigkeit« und im Extremfall Tötung einher. Obwohl auch hier viele Menschen Rassismus erleben, ist das Thema in Beratung und Therapie immer noch marginalisiert. Wie können wir Rassismen wahrnehmen und diese Beobachtungen und Reflexionen in die Systemische Arbeit handlungsbasiert integrieren? Wie können wir Verantwortung übernehmen und Stellung beziehen?
Gold, Ilja & Jessie Mmari (2024): Macht- und Rassismuskritik als Querschnittsaufgabe für die systemische Praxis. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 4-14.
Abstract: Rassismus strukturiert unsere Gesellschaft und ist in allen Biografien und Institutionen wirkmächtig. Eine Nicht-Auseinandersetzung begünstigt gesamtgesellschaftlich, und damit auch in der systemischen Praxis, dessen kontinuierliche Reproduktion. Der Artikel thematisiert die Wirkmechanismen gesellschaftlicher Macht- und Rassismusverhältnisse und zeigt auf, wie diese sich im Kontext systemischer Beratung entfalten. Der Fokus liegt auf der Frage, wo uns diese in der systemischen Praxis begegnen, welche Bedeutung die eigene Positioniertheit im Machtverhältnis Rassismus für die Beratung hat und welche systemischen Perspektiven hilfreich für die kritische Reflexion sind. Systemische Ansätze bieten wichtige Anschlussmöglichkeiten für eine diskriminierungskritische Praxis – welche für die konkrete Auseinandersetzung anhand von jeweils zwei Methoden und Haltungen aufgeführt werden. Abschließend befasst sich der Artikel mit relevanten Aspekten zur Etablierung von Macht- und Rassismuskritik als systemischer Querschnittsaufgabe.
Hamacher, Cathrin (2024): Widerstand gegen Weißen Widerstand. Behandlung von Weißer Fragilität und Abwehrmechanismen. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 16-24.
Abstract: Rassistische Wirkmechanismen sind auf diversen Ebenen sowie in verschiedenen Lebenskontexten präsent und betreffen alle Menschen. Keine Benachteiligungen durch Rassismus zu erleben, ist eines von vielen Privilegien, welche Weiß positionierte Menschen innehalten. Diese stellen in der Gesellschaft, therapeutischen Bildung und Praxis in Deutschland eine Mehrheit dar. Das erfordert vor allem von diesen eine Auseinandersetzung mit Rassismus, der eigenen Person und ihrer privilegierten Position sowie Verantwortungsübernahme im Dekonstruktionsprozess. Ein wichtiger Bestandteil dabei ist das Erkennen der Wirkung und Behandeln eines psychologischen Zustands, der als Weiße Fragilität bezeichnet wird sowie einhergehender rassismusspezifischer Abwehrmechanismen. In diesem Artikel werden Reaktionen in therapeutischen Kontexten beschrieben, eingeordnet und mit Beispielen unterlegt, die Rassismen reproduzieren und Auseinandersetzungen erschweren oder verhindern. Abschließend werden Ideen präsentiert, die den Einsatz und die Entwicklung von konstruktiven Umgangs- und Lösungsmöglichkeiten unterstützen sollen. Damit wird intendiert, Rassismussensibilität, Rassismuskritik und letztlich Möglichkeiten zur Dekonstruktion von Rassismus innerhalb und außerhalb therapiebezogener Kontexte zu fördern.
Hunger-Schoppe, Christina (2024): Rassismusinformierte Familientherapie im Kinder- und Jugendbereich: Systematisches Review. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 26-37.
Abstract: Rassismus ist ein Thema, das viele Gesellschaftsschichten betrifft, jedoch in der klinischen Versorgung nur eine marginale Rolle zu spielen scheint. Eine systematische Literaturrecherche im Kinder- und Jugendbereich dient daher einer ersten Begegnung mit diesem Thema. Aus den Ergebnissen werden vier Programme rassismusinformierter Familientherapie (SAAF, EM- BRace, FBT-Medicaid, TI-SAFT) in diesem Beitrag genauer beschrieben. Dabei erscheint eine rassismusinformierte Sozialisation als besonders resilienzfördernd. Es werden die Programmstruktur und -inhalte, die Erfassung von Rassismen sowie rassismusinformierter Sozialisation und ein Fallbeispiel dargestellt. Die Diskussion widmet sich der Evidenzbasierung, Programmimplementierung, Publikationsverzerrungen und Besonderheiten der Systemischen Therapie.
Zentner, Michelle & Inés Brock-Harder (2024): Kinderreichtum als Ressource während der COVID-19-Pandemie und für das seelisch gesunde Aufwachsen in Familien. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 38-47.
Abstract: In mehr als jeder sechsten Familie in Deutschland leben drei und mehr Kinder. Diese Mehrkindfamilien sind oft mit dem Stigma konfrontiert, ein Risiko für das Aufwachsen von Kindern zu bedeuten. Auch wenn Armutsgefährdung und beengte Wohnverhältnisse kinderreiche Familien tatsächlich belasten, bedeutet dies nicht automatisch ein psychisches Risiko. Gerade in der Zeit der Pandemie mit Homeschooling, Homekindergardening, Home-Office und Lockdowns hätte man annehmen können, kinderreiche Eltern seien besonders belastet gewesen. Auf der Basis von Teilergebnissen einer Masterarbeit in klinischer Psychologie wird deutlich, dass diese Vorannahme trügt. Die Eltern fühlten sich umso weniger belastet, je mehr Kinder im Haushalt lebten. Dies kann als Aufforderung gelten, die Ressourcen in Mehrkindfamilien in den Blick zu nehmen und sowohl das subjektive Wohlbefinden als auch die familiale Resilienz von kinderreichen Familien in den Fokus zu stellen – auch nach der Pandemie.
Sauter, Aurora A. & Caspar- F. Lorenz (2024): »Das Schlimmste … man wäre die Einzige, die so empfindet«. Umgang mit Scham in autofiktionaler Literatur und ihre Chancen für Beratung. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 48-56.
Abstract: Scham ist, offen oder verdeckt, häufig Bestandteil kommunikativer Zusammenhänge. Der Artikel beleuchtet die vielschichtige Sozialität von Schamgefühlen aus einem soziologischen Blickwinkel. Anhand der autofiktionalen Texte von Annie Ernaux und Roxanne Gay werden einerseits strukturierende gesellschaftliche Bedingungen der Scham beleuchtet. Andererseits vermitteln die Texte, wie sich beschämende Erlebnisse in die Seinsweise von Personen einschreiben können. Diese autofiktionalen Texte bieten Betrachtungsmöglichkeiten, wie inkorporierte Schamerfahrungen medialisiert auf Distanz gebracht werden können, sodass andere Formen der Aneignung der eigenen Geschichte möglich werden. Sie führen vor, was Beratung für den Bearbeitungsprozess von Schamgefühlen bieten kann: einen Raum zu öffnen, Vertrauen in sich und die Welt neu zu justieren, festgefahrene Vergangenheiten verfügbar zu machen und sich neue Narrationen der eigenen Geschichte anzueignen.
Hamacher, Cathrin (2024): Eine afrozentrische Perspektive auf Psychotherapie und das Potenzial des Eklektizismus. Cathrin Hamacher im Gespräch mit Professor Sylvester Ntomchukwu Madu. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 58-60.
Abstract: Sylvester Ntomchukwu Madu ist Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie, Gründer und Vorstandsvorsitzender der School of Psychotherapy and Health Sciences, Okija in Anambra State, Nigeria. Er hält das Amt des Präsidenten für den afrikanischen Kontinent im Weltverband für Psychotherapie inne. Zudem veröffentlichte er etwa 170 Artikel im Bereich der psychischen Gesundheit und Psychotherapie in Afrika und ist Chefredakteur des Inter- national Journal for Psychotherapy in Africa.
Hamacher, Cathrin (2024): Rassismuserfahren(d)e Menschen sensibilisiert begleiten in Beratung und Therapie. Cathrin Hamacher im Gespräch mit Dipl. Psych. Stephanie Cuff-Schöttle. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 62-64.
Abstract: Stephanie Cuff-Schöttle, (sie) ist Diplom-Psychologin, Systemische Therapeutin, Integrative Paartherapeutin sowie Expertin für rassismussensible und rassismuskritische Therapie. Sie ist Mitbegründerin von De_Construct (https://elopage.com/s/de-construct), der Online-Plattform für Rassismussensibilität und -kritik für Fachkräfte im medizinischen, psychologischen, sozialen und pädagogischen Bereich. Außerdem hält sie Vorträge und gibt Interviews zu diesem Thema. Weiterhin ist sie Mitbegründerin von https://myurbanology.de, einer Plattform, die Schwarzes Leben in Deutschland sichtbar macht.
Jansen, Till (2024): Der besondere Fall: Eine Liebe des Herrn S. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 66-68.
Averbeck, Birgit, Filip Caby, Beate Ditzen, Rieke Oelkers-Ax & Sabine Walper (2024): Gemeinsam geht mehr: Kooperationsnetzwerk SGB-übergreifende Versorgung von Familien mit psychischen und Suchterkrankungen gewinnt Berliner Gesundheitspreis. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 70-73.
Ollefs, Barbara (2024): Rezension – Haim Omer & Arist von Schlippe (2023): Autorität durch Beziehung. Gewaltloser Widerstand in Beratung, Therapie, Erziehung und Gemeinde. 10. Aufl. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht). In: Familiendynamik, 49 (01), S. 74-75.
Rausch, Jürgen (2024): Rezension: Ulrike Schmauch (2023): Liebe, Sex und Regenbogen. Sexuelle Vielfalt in Gesellschaft und Sozialer Arbeit. Weinheim (Beltz Juventa). In: Familiendynamik, 49 (01), S. 75-76.
Stimpfle, Peter (2024): Rezension: Stefan Hammel (2022): Hypnosystemische Therapie. Das Handbuch für die Praxis. Stuttgart (Klett-Cotta). In: Familiendynamik, 49 (01), S. 76-77.
Sann-Caputo, Thea-Maria (2024): Rezension: Reinert Hanswille (2022): Basiswissen Systemische Therapie. Gut vorbereitet in die Prüfung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht). In: Familiendynamik, 49 (01), S. 77-79.
Jansen, Till (2024): Integration ist etwas anderes. Ein Kommentar zu Christian Roesler »Was genau ist eigentlich systemisch – und was nicht? Ein Plädoyer für Unterscheidungen, die einen Unterschied machen, und gegen theoriefreie Integration«, Familiendynamik (2023), Heft 3, 226 – 238. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 80-84.
Abstract: Christian Roesler kritisiert eine weit verbreitete Praxis der Aneignung nicht-systemischer Verfahren in die systemische Therapie. Ohne auf theoretische Unterschiede zu achten, so Roesler, werden Verfahren als systemisch behandelt, die dies nicht sind. Tatsächlich ist die benannte Subsumtionspraxis mittel- bis langfristig für die systemische Therapie ein Problem, das die Integrität des Ansatzes in Frage stellt und Weiterentwicklung behindert. Gleichzeitig erweist Roesler der Idee der theoretischen Integration jedoch einen Bärendienst. Nicht nur ist seine Rezeption von Systemtheorie und Konstruktivismus verkürzt und betont Unterschiede, wo keine sein müssten. Der Text vertritt auch eine Vorstellung von theoretischer Integration, die auf etwas wie eine Kompatibilitätsprüfung bestehender Theorien hinausläuft. Theoretische Integration ist jedoch ein Prozess, in dessen Rahmen sich Methoden und Theorien notwendig verändern und weiterentwickeln.
Valler-Lichtenberg, Anne, Friedebert Kröger, Klaus Osthoff & Wilhelm Rotthaus. (2024). Wander-Gedanken zu der Frage: Was genau ist eigentlich systemisch – und was nicht? Ein Kommentar zu Christian Roesler »Was genau ist eigentlich systemisch – und was nicht? Ein Plädoyer für Unterscheidungen, die einen Unterschied machen, und gegen theoriefreie Integration«, Familiendynamik (2023), Heft 3, 226 – 238,Familiendynamik (Vol. 49, pp. 84-85).
Kriz, Jürgen (2024): 2024 – ein Jubiläumsjahr. In: Familiendynamik, 49 (01), S. 87-87.
Abstract: Vor 25 Jahren, am 1. Januar 1999, trat das Psychotherapeutengesetz (Psych ThG) in Kraft. Seitdem sind für Psychotherapeuti:nnen ebenso wie für psychisch Kranke viele Fragen geregelt, die früher zu individuellen Verhandlungen mit ungewissen Ausgängen führten. Mit der Einrichtung von Psychotherapeutenkammern hat zudem die Profession erheblich an Ansehen im Gesundheitssystem gewonnen. Eine Erfolgsgeschichte also, deren Geburtstag wir nun feien dürfen? Es würde schwer fallen, dem zu widersprechen. Und doch war es gerade die Systemische Therapie, die vor rund zwei Jahrzehnen intensiv und kontrovers diskutiert hat, ob sie überhaupt den Leidensweg antreten soll, die bürokratischen und berufspolitischen Hürden zu überwinden, um »ins System der gesetzlichen Krankenversicherung und ihrer Subsysteme« zu kommen. Denn in diesem System herrschen die Regeln eines medikalisierten Verständnisses von »Krankheit« und »Heilung«, die für Pharmaprodukte, Apparatemedizin und viele ärztliche Leistungen angemessen sein mag. Aber ob und wie weit das davon abweichende Verständnis der Systemischen Therapie in diesem Kontext überlebensfähig sein würde, wurde sehr kritisch in Frage gestellt.
Heft 2
Averbeck, Birgit & Rieke Oelkers-Ax (2024): Editorial: Gast sein im Alltag der Klient:innen. In: Familiendynamik, 49 (02), S. 89-89.
Abstract: Wenn Menschen nicht aktiv Hilfesysteme aufsuchen können oder wollen, können Hilfesysteme versuchen, die Menschen dort zu erreichen, wo sie eben sind. Aufsuchend zu arbeiten bedeutet, mit Menschen dort in Kontakt zu kommen, wo sie sich im Alltag aufhalten. Aufsuchende und mobile Beratung als niedrigschwelliges Angebot wird schon lange gefordert (jüngst z. B. im Umsetzungsbericht der Nationalen Weiterbildungsstrategie und in Empfehlungen der OECD). Jugendhilfe arbeitet mit Hilfen zur Erziehung seit Jahrzehnten aufsuchend, Qualitätskriterien dazu gibt es allerdings kaum. Im Gesundheitswesen entwickeln sich aufsuchende Behandlungsformen erst allmählich, im Kontext Bildung gibt es aufsuchende Hilfen noch so gut wie gar nicht. Strukturelle Veränderungen in einer Postwachstumsgesellschaft und globale existenzielle Bedrohungen stellen für immer mehr Menschen massive Belastungen dar, die sich u. a. durch psychische und physische Erkrankungen und Suchterkrankungen, verbunden mit sozialer Deprivation, Rückzug und Scham, zeigen. Viele Menschen sind nicht mehr in der Lage, sich Hilfe zu holen, oder setzen kaum mehr Hoffnung in Hilfen. Betrifft dies Eltern, sind Kinder und Jugendliche mitbetroffen und von Hilfe abgeschnitten, auch wenn sie selbst anders entscheiden würden. Aufsuchend zu arbeiten bedeutet, Gast zu sein im Leben eines anderen Menschen. Aus Erfahrung wissen wir, dass Gäste nur dann willkommen sind, wenn sie dem (in diesen Fällen oft unfreiwilligen) Gastgeber mit Achtsamkeit, Respekt und einer Haltung des »klugen Nicht-Wissens« begegnen. Aufsuchend zu arbeiten bedeutet aber auch, in system- und SGB-übergreifender Kooperation ein professionelles Helfernetz aufzubauen, das familienorientiert die Loyalitäten und Bindungen der Betroffenen einbezieht.
Ziegler, Holger, Julia Hille & Matthias Ochs (2024): Wirkungen aufsuchender Familienhilfen. Wie sollen, dürfen, können sie (systemisch) beforscht werden? In: Familiendynamik, 49 (02), S. 92-100.
Abstract: Wirkungsstudien untersuchen häufig, ob und inwiefern ein spezifisches Programm tatsächlich die Ergebnisse erreicht, auf die das Programm abzielt. Der Beitrag argumentiert, dass dieser Zugang nur bedingt geeignet ist, um die Wirkungen aufsuchender Familienhilfen zu ermitteln, weil die aufsuchenden Familienhilfen eine Vielzahl unterschiedlicher Praktiken umfassen und als kein einheitliches Programm zu verstehen sind. Der Beitrag diskutiert vor diesem Hintergrund die Frage, auf welche Weise Wirkungen in den aufsuchenden Familienhilfen angemessen erfasst und erforscht werden können. Dabei stellt er die Möglichkeit einer solchen Wirkungsforschung am Beispiel der Studie zu »Aufsuchende-Familienhilfen-Evaluation« (ASUEVA) vor. In dieser Studie wird zunächst erforscht, was die jeweilige professionelle Fachkraft mit welchen Ausstattungen, unter welchen Bedingungen und mit welcher ›Haltung‹ macht. Darüber hinaus geht sie der Frage nach, welche Potenziale, Probleme und Belastungen welche Form der Familienhilfe unter welchen Bedingungen so bearbeiten kann, dass sie von der jeweiligen Familie als praktische Hilfe und als nützlich erlebt wird.
Scholz, Kira & Dvora Leguy (2024): »Ich bin 20 und im achten Monat schwanger und habe keine Wohnung«. Herausforderungen und Chancen wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit bedrohter junger Menschen. In: Familiendynamik, 49 (02), S. 102-110.
Abstract: Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte junge Menschen sind mit komplexen Problemlagen konfrontiert, die weit über das Thema Wohnraum hinausgehen. Häufig fehlt insbesondere der Zugang zu möglichen Unterstützungssystemen. Die Off Road Kids Stiftung begleitet Jugendliche und junge Erwachsene dabei, diese Hürde zu überwinden und tragfähige Zukunftsperspektiven zu entwickeln und umzusetzen. Die komplexen Problemlagen junger Wohnungsloser, v. a. das Phänomen verdeckter Wohnungslosigkeit in einer sich schnell verändernden Welt, stellen die Off Road Kids Stiftung mit ihren Angeboten vor immer neue Herausforderungen. Der aufsuchende Ansatz wird entsprechend fortlaufend angepasst und Zugangsmöglichkeiten werden erweitert, um die Niedrigschwelligkeit zu garantieren. Voraussetzung für die Zusammenarbeit ist eine auf Freiwilligkeit, Wertschätzung und Transparenz basierende professionelle Beziehung. Anhand zweier Fallbeispiele wird ein Einblick in die Lebenswelten junger Wohnungsloser sowie die praktische Umsetzung der aufsuchenden Angebote von Off Road Kids mit ihren Chancen und Herausforderungen gewährt. Hierbei soll die Mehrdimensionalität aufsuchenden Arbeitens im analogen wie digitalen Kontext verdeutlicht werden.
Heinsch, Anna & Hans Knoblauch (2024): Zu Besuch beim System. Systemisches Arbeiten in der Stationsäquivalenten Behandlung (StäB). In: Familiendynamik, 49 (02), S. 112-120.
Abstract: Die Stationsäquivalente Behandlung (StäB) und das systemisch-familientherapeutische Arbeiten haben viele gemeinsame Konzepte und können synergistisch eingesetzt werden. Verschiedene Methoden des systemischen Arbeitens können gerade im Kontext einer Stationsäquivalenten Behandlung besonders gut umgesetzt werden. Personen aus dem Umfeld können durch die aufsuchende Arbeit in StäB im Alltag als konkrete Ressource einbezogen werden. Umgekehrt können Faktoren, die die Symptomatik aufrechterhalten, »vor Ort« miterlebt werden. In der StäB wird versucht, die Behandlung im Kontext der realen Lebensumstände der Patient:innen so zu gestalten, dass nachhaltige Veränderungen möglich werden. Aufgrund der Alltagsnähe von StäB gelingt dies bei manchen Patient:innen besser als im »künstlichen« Umfeld einer psychiatrischen Klinik. Viele psychiatrisch erkrankte Personen wünschen sich StäB schon lange als ergänzendes Angebot der psychiatrischen Akutbehandlung. Jedoch ist dieses Setting nicht für jeden Betroffenen geeignet. Wir beschreiben die Erfahrungen mit StäB aus der Perspektive eines systemisch arbeitenden Teams, das seit ca. vier Jahren in Wangen im Allgäu tätig ist, und erörtern die Chancen und Grenzen sowie Möglichkeiten der Weiterentwicklung von StäB.
Jaschke, Stephanie, Katharina Piekorz & Joachim Wenzel (2024): Digital aufsuchende systemische Arbeit. Entwicklung passgenauer Hilfsangebote im digitalen Raum. In: Familiendynamik, 49 (02), S. 122-130.
Abstract: Aufsuchende Arbeit hat zum Ziel, Menschen dort zu begegnen, wo sie in ihrer Lebenswelt für unterstützende Angebote erreichbar sind. Das ist gerade dann bedeutsam, wenn andere Wege der Kontaktaufnahme nicht erfolgreich sind. So können Fachkräfte die Menschen dort ansprechen und mit ihnen arbeiten, wo sie sich in ihrem Alltag bewegen. Beispiele sind Streetwork oder aufsuchende Familientherapie. Alltagskommunikation findet heute häufig digital statt. Soziale Hilfsangebote, wie Beratungsstellen oder Jugendämter, sind oft noch primär analog ausgerichtet. Damit werden Chancen vertan, Menschen frühzeitig zu erreichen, bevor Probleme komplexer werden. Darüber hinaus fehlen an den Stellen, an denen digitale Kommunikationswege genutzt werden, häufig fachliche Konzepte und medienspezifische Kompetenzen. Digitale Kommunikation unterscheidet sich jedoch grundlegend von Face-to-Face-Angeboten. So sollten unbedingt Konzepte und Kompetenzen bei den Anbietern vorhanden sein. Dies gilt insbesondere angesichts der sich rasant entwickelnden Gefahren im Rahmen der Digitalisierung, wie etwa Cyber-Mobbing.
Zwack, Mirko, Julika Zwack & Joanne Dolhanty (2024): »Eigentlich will ich, aber …«. Ein erlebnisorientierter Zugang zur emotionalen Logik der (Nicht-)Veränderung. In: Familiendynamik, 49 (02), S. 132-140.
Abstract: Entlang eines Fallbeispiels stellt der Artikel eine Intervention aus dem Emotionsfokussierten Skilltraining (EFST) vor. Ziel ist es, die Blockaden zu erkunden, die Klient:innen davon abhalten, sich so zu verhalten, wie sie es sich für sich selbst und ihre relevanten Anderen wünschen. Die guten Gründe der Nicht-Veränderung werden dabei nicht als rationale, sondern emotionale Variablen (sog. »konkurrierende Motivationen«) gefasst und mit einem emotionsfokussierten Zugang erfahrbar. Zuvor oft unbewusst wirksame Motive können so zu einem bewussten und verantworteten Teil der persönlichen Entscheidung der Klient:innen werden. Mithilfe von Perspektivwechseln werden darüber hinaus emotionale Ressourcen für eine Verhaltensänderung aktualisiert.
Groẞ, Sandra (2024): FITKIDS – Ein starkes . Netze knüpfen für Kinder mit suchtkranken Müttern und Vätern. In: Familiendynamik, 49 (02), S. 142-150.
Abstract: FITKIDS ist ein einzigartiges Programm zur Organisationsentwicklung für Sucht- und Drogenberatungsstellen. Dieser Artikel beschreibt den »Change-Management-Prozess« FITKIDS und die Verbesserung der intersektorialen Zusammenarbeit im Hilfenetzwerk für Kinder und ihre suchtkranken Mütter und Väter. Der Artikel basiert auf Erfahrungswissen, »best practice« und den Empfehlungen und Ergebnissen der FITKIDS Evaluationen. Die qualitative Evaluationsstudie (EVAFIT I 2017) bestätigt die Wirksamkeit des Programms. So erkannten 40 % aller Mitarbeitenden in den teilnehmenden Einrichtungen nach einem Jahr, dass sich die Situation der Kinder verbessert hatte, nach vier bis fünf Jahren waren dies bereits 55,2 % der Mitarbeitenden. Bevor sich die Situation der Kinder verbessern kann, muss sich die Situation in den Drogen- und Suchtberatungsstellen verbessern. Die über den Prozess erlangte Handlungssicherheit in den Teams führt dazu, dass den Kindern größere Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Eine qualitative Interviewstudie (EVAFIT II 2019) mit Eltern und Jugendlichen aus FITKIDS-Standorten zeigt u. a., dass dem Programm eine hohe Relevanz für das eigene Leben zugeschrieben wird.
Caby, Filip (2024): Der besondere Fall: Die Unvollendete. In: Familiendynamik, 49 (02), S. 152-156.
Abstract: In dieser Fallbeschreibung geht es um eine verzweifelte Familie mit einer mindestens genauso verzweifelten Jugendlichen, die keine Ahnung davon hat, was sie eigentlich mit ihrem Leben anfangen will. Das Besondere ist, dass es sich um eine Geschichte handelt, die noch nicht abgeschlossen ist. Hier geht also nicht um eine »schöne«, »vollendete« Therapie, sondern um eine Verlaufsgeschichte, deren Ende noch offen ist: die Unvollendete. Zugleich illustriert die Geschichte eindrücklich, wie ein »Tanz um Diagnosen« um die Symptomatik des Mädchens herum entsteht. Dieser legt zugleich die Hilflosigkeit des Gesundheitssystems offen. Familien- wie Helfer:innensystem zeigen eine komplexe Dynamik. Immer mehr scheint die Frage in den Hintergrund zu treten: Was passiert hier eigentlich?
Steinbeis, Marie, Rieke Oelkers-Ax & Arist von Schlippe (2024): »Ich sehe das eigentlich als ein großes Wunder«. Rieke Oelkers-Ax und Arist v. Schlippe im Gespräch mit Marie Steinbeis von Live Music Now, München. In: Familiendynamik, 49 (02), S. 158-163.
Abstract: Marie Steinbeis ist Gründerin der Organisation Yehudi Menuhin Live Music Now in Deutschland. Live Music Now (LMN) ist eine Organisation, die kostenlose Konzerte für Menschen in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Waisenhäusern, Gefängnissen und anderen sozialen Einrichtungen organisiert. Diese Konzerte werden ausschließlich durch Spenden finanziert. Junge, exzellente Musiker werden durch Live Music Now gefördert. Die Idee hinter LMN ist, dass Musik heilt, tröstet, Freude bringt und Menschen miteinander verbindet. Die Organisation wurde nach dem berühmten Geiger Yehudi Menuhin benannt und setzt sich dafür ein, dass Menschen in schwierigen Lebenssituationen Zugang zur Musik haben.
Haun, Markus, Liz Nicolai, Rieke Oelkers-Ax, Rüdiger Retzlaff, Julika Zwack & Mirko Zwack (2024): Das Helm Stierlin Institut (hsi) Heidelberg. In: Familiendynamik, 49 (02), S. 164-167.
Schlippe, Arist von (2024): Rezension: Jürgen Kriz (2023): Humanistische Psychotherapie. Grundlagen, Richtungen, Evidenz. Stuttgart (Kohlhammer). In: Familiendynamik, 49 (02), S. 168-170.
Gemeinhardt, Brigitte (2024): Rezension: Unterholzer, Carmen C.; Gröger, Herbert (Hrsg.)(2022): Handbuch der systemischen Gruppentherapie. Ansätze, Methoden, Zielgruppen, Störungsbilder. Heidelberg (Carl-Auer). In: Familiendynamik, 49 (02), S. 170-171.
Lüscher, Kurt (2024): Kurz vor Schluss: Zimmerreisen. In: Familiendynamik, 49 (02), S. 174-175.
Abstract: 1790 wurde der französische Adelige Xavier de Maistre (1762 – 1852) wegen eines unerlaubten Duells zu 42 Tagen Hausarrest verurteilt. In dieser Zeit schrieb er ein Buch betitelt Voyage autour de ma chambre (»Reise um mein Zimmer«), das vier Jahre später anonym in Lausanne veröffentlicht wurde (verfügbar unter: https://fr.wikisource.org/ wiki/Voyage_autour_de_ma_chambre, zuletzt abgerufen am 01. 12. 2023). Damit schuf er ein neues, etwas bizarres und zugleich kostbares Genre der Literatur. Ich stieß darauf beim Lesen des Buches mit dem enigmatischen Titel Reisender Stillstand (2010, Frankfurt a. M.: S. Fischer ) des Konstanzer Literaturwissenschaftlers Bernd Stiegler, als dieser mir seine eigene, in der Zeit von Corona verfasste Zimmergeschichte zugeschickt hatte. Die Idee und ihre Durchführung faszinierten mich. Mehr noch: Sie regten mich an, sie weiter zu denken, auch im Blick auf die familientherapeutische Praxis.
Heft 3
Matoba, Kazuma & Jörn Borke (2024): Editorial: Übergreifende Traumata. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 177-177.
Abstract: Finanzkrise, Klimakatastrophe, Dürre, Überschwemmungen, Hunger, Artensterben, Pandemie, Angriffskrieg in Europa, Inflation, Krieg im Nahen Osten … Die Welt befindet sich zunehmend im Dauerkrisenmodus. Dadurch sind Menschen nicht nur individuell belastet, sondern es entstehen auch kollektive Ängste und Überforderung bis hin zu Traumatisierungen, die wiederum transgenerational und innerfamiliär weitergetragen werden können. Im Mikrosystem der Familie kann dies beispielsweise über dauerhaft unabgestimmte Interaktionen zwischen Bezugspersonen und Kindern geschehen. Solche kollektiven und kumulativen Traumata stehen im Fokus dieses Heftes, welches von Kazuma Matoba und Jörn Borke herausgegeben wird. Dabei blicken wir über den systemischen Tellerrand hinaus, glauben aber, dass die dargestellten Ansätze auch für die systemische Praxis erkenntnisreich sein können.
Matoba, Kazuma (2024): Landschaft des kollektiven Traumas und dessen Integration. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 180-189.
Abstract: Kollektive und intergenerationale Traumata sind nicht nur psychische Phänomene, die in der Psychologie und Psychotherapie diskutiert werden, sondern auch soziale Phänomene, die die Sozialwissenschaften erforschen. Sie können daher auch aus soziologischer Perspektive beschrieben werden. Interdisziplinäre Ansätze eignen sich besonders, die miteinander verschränkten kollektiven und individuellen Ebenen und Folgen von traumatischen Erfahrungen zu entwirren. In diesem Beitrag verwende ich den quanten-sozialwissenschaftlichen Ansatz von Matoba (2022a) und den kollektiven Integrationsansatz von Hübl (2020), um die individuelle psychische und kollektive soziologische Pathologie von kollektiven und intergenerationalen Traumata zu beschreiben sowie die Funktionen und Mechanismen dieser Phänomene zu untersuchen. Dieser Aufsatz gliedert sich in drei Abschnitte: Landschaft des kollektiven und intergenerationalen Traumas, kollektive und intergenerationale Trauma-Integration und Perspektiven für weitere empirische Forschung – Letzteres auch, da eine empirische Verifizierung des Ansatzes unter kontrollierten Bedingungen noch aussteht.
Remus, Roland (2024): Das Projekt Zuflucht-Zuversicht-Zukunft. Traumainformierte Prozessarbeit im Kontext transgenerationaler und kollektiver Traumata. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 190-199.
Abstract: Die systemische Aufstellungsarbeit hat sich über viele Jahre vom Familienstellen sehr facettenreich weiterentwickelt und ist heute sowohl im therapeutischen Kontext als auch in der Beratung von Organisation und Unternehmen eine etablierte Methode. In den letzten Jahren ist eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem Thema Trauma und dem traumaspezifischen Vorgehen in Aufstellungen zu beobachten. Der Beitrag greift aus der anwenderbezogenen Perspektive das Zusammenwirken klassischer Aufstellungsarbeit mit Elementen aus der therapeutischen Traumaarbeit auf. Der Fokus liegt darauf, eine Kombination aus weiteren methodischen Möglichkeiten zu entwickeln, um einen traumainformierten Prozess und die Möglichkeit der Traumaintegration zu erreichen. Dabei geht es zum einen um den Collective Trauma Integration Process (CITIP) nach Thomas Hübl und zum anderen um Erkenntnisse, die der Autor gemeinsam mit Sabine C. Langer seit 2017 in dem von ihnen initiierten und durchgeführten Projekt ZUFLUCHT-ZUVERSICHT-ZUKUNFT gewonnen hat. Das Projekt befasst sich mit dem Thema Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs sowie mit individuellen, transgenerationalen und kollektiven Traumata.
Andreatta, Pia & Gianluca Crepaldi (2024): Das kumulative Trauma. Eine Rekapitulation von Masud Khan im Lichte aktueller Ansätze. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 200-208.
Abstract: Das von Masud Khan (1963) begründete Konzept des kumulativen Traumas findet mit Blick auf die neuere Traumaforschung kaum Beachtung und wird, wenn überhaupt, als deskriptive Kategorie herangezogen, ohne das subtile, aber wiederholte Aussetzen elterlicher Fürsorgefunktionen zu berücksichtigen, welches nach Kahn jedoch der entscheidende traumatogene Faktor ist. Nach einer Rekapitulation der ursprünglichen Konzeptualisierung und ihrer wichtigsten Eckpunkte wird das kumulative Trauma mit aktuellen Forschungszusammenhängen wie der Bindungstheorie, dem Entwicklungstrauma und der Mentalisierungsforschung verknüpft und letztlich als ein Beitrag zum Verständnis der transgenerationalen Transmission von komplexen Traumatisierungen im Kontext von Krieg und Flucht begriffen.
Korman, Jewgenija, Anastasiia Burdym, Alexandra Liedl, Britta Dumser & Theresa Koch (2024): System(at)ische Unterstützung von Geflüchteten – Mental Health Center Ukraine*. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 210-221.
Abstract: Dieser Artikel bietet Einblicke in die Praxis und die wissenschaftliche Begleitung des Mental Health Center Ukraine* (MHCU), welches von Refugio München für Geflüchtete aus der Ukraine gegründet wurde. Ziel der hier vorgestellten Studie ist eine genauere Beschreibung der behandlungsaufsuchenden Menschen mit ihren Belastungen, Ressourcen und den sich daraus ergebenden Bedarfen. Erste Ergebnisse deuten auf eine hohe Belastung hin, insbesondere bzgl. posttraumatischer und depressiver Symptomatik. Die schnelle Etablierung von muttersprachlichen psychosozialen Versorgungsprojekten erscheint angesichts der hohen Belastung zentral für Geflüchtete. Die Daten deuten auf die Relevanz von Behandlungen hin, die Familienmitglieder berücksichtigen, sowie den Bedarf an kurz- wie auch langfristigen intensiven psychotherapeutischen Angeboten.
Rotthaus, Wilhelm (2024): Auf dem Weg zu einem Menschenbild des Postindividualismus. Der europäische Mensch am Ende des Zeitalters des Individuums. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 222-229.
Abstract: Der durch die europäische Kultur geprägte Mensch der sogenannten westlichen Welt erlebt derzeit eine Fülle von Herausforderungen, die bewältigt werden müssen, damit unsere Enkel auf dieser Erde noch ein lebenswertes Leben führen können. Für die notwendige Transformation vor allem der Markt- und Finanzwirtschaft, der Landwirtschaft, der Organisation der Unternehmen und Betriebe, des Verkehrs und der Verteilung von Besitz und Einkommen sind inzwischen bewundernswert viele Konzepte entwickelt worden. Demgegenüber gibt es kaum Ideen dazu, wie sich das Selbstbild der Menschen, die diese Transformationen vollziehen oder zumindest tolerieren müssen, verändern muss. Dazu wird es notwendig sein, sich von der Idee des Menschen als Individuum zu verabschieden und ein neues Menschenbild zu entwickeln, in dem – in welcher Form auch immer – die Merkmale wieder dominieren, die vor etwa 70 000 Jahren den großen Schritt zum Homo Sapiens ausgemacht haben (Henrich, 2022; Bleckwedel, 2022): soziale Beziehungsfähigkeit, Kooperation und eine gemeinsam geteilte kommunikative Kultur.
Kirstan, Nina, Rosa Berktold & Holger von der Lippe (2024): Zum Stellenwert psychiatrischer Diagnosen in der Systemischen Therapie. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 230-241.
Abstract: Die Abrechnung von Systemischer Therapie über die gesetzlichen Krankenkassen erfordert die Vergabe von Diagnosen, obwohl die Systemik diesen traditionell auch kritisch gegenübersteht. Dieses Scoping Review identifiziert aus 54 relevanten theoretischen Arbeiten seit 2006 eine Reihe von Pro-und Kontra-Argumenten in Bezug auf psychiatrische Diagnosen in der Systemischen Therapie. Dabei zeigt sich, dass die Argumente gegen die Verwendung von Diagnosen (z.B. »Fehlende Aufmerksamkeit für den sozialen Kontext«) die Diskussion numerisch dominieren, während sich Pro-Argumente (z.B. »Anschlussfähige Kommunikation im Gesundheitswesen«) seltener finden. Konträr hierzu zeigt sich aus der Gesamtbewertung der Texte jedoch eine mehrheitlich positive Bereitschaft, mit Diagnosen zu arbeiten. Daraus folgern wir eine »Sowohl-als-auch-Haltung« als typisch für die Systemische Therapie und diskutieren, wie die ambulante Systemische Therapie trotz der Integration in das deutsche Gesundheitssystem ihre besondere Perspektive bewahren kann.
Gardecki, Johanna (2024): Der besondere Fall: Der »schwierige« Patient als Interaktionsphänomen. Systemisches Arbeiten im Kontext Krankenhaus. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 242-248.
Abstract: Blicke ich zurück auf den Anfang meiner Arbeit als systemische Therapeutin vor zehn Jahren, so erinnere ich mich noch ganz genau an die entfachte Begeisterung. Die systemische Haltung, geprägt von Wertschätzung, Neutralität und authentischer Neugier, schien der optimale Rahmen, um mit Klient:innen ernsthaft und respektvoll auf die Suche zu gehen – und dabei einen sicheren Boden für Emotionalität anbieten zu können. Der Enthusiasmus war groß – der Frust umso größer nach einigen Wochen systemischer Arbeit im Kontext Krankenhaus. Der hier geschilderte Fall illustriert die systemische Arbeit mit einer Familie, die nach einer traumatischen Geburt einen konstruktiven Umgang mit einer schweren Diagnose ihres jüngsten Kindes sucht. Darüber hinaus nähert sich der Fall der Frage an, wie Systemiker:innen in einem multiprofessionellen, systemisch »unerfahrenen« Team hilfreiche Impulse setzen können, um die dynamischen Wechselwirkungen zwischen Team und Klient:innen sichtbar zu machen und Interaktionen wirkungsvoller zu gestalten.
Roesler, Christian (2024): »Wie bei jeder Selbstanalyse gilt: es darf wohl mit Abwehr und Widerstand gerechnet werden«. Replik auf die Reaktionen / Leser- briefe zu meinem Beitrag »Was genau ist eigentlich systemisch – und was nicht?« (FD 3/23). In: Familiendynamik, 49 (03), S. 250-255.
Schiepek, Günter & Rieke Oelkers-Ax (2024): Bericht zum Kongress »Menschliche Veränderungsprozesse – begleiten, erfassen, gestalten«. Das Synergetische Navigationssystem (SNS) in Praxis und Forschung. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 256-257.
Ruhe-Püll, Birgit (2024): Körperspürübung »Innerer Landeplatz«. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 258-259.
Berg, Mathias (2024): Rezension: Rüdiger Kißgen & Kathrin Sevecke (Hrsg.)(2023): Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren. Lehrbuch zu Grundlagen, Klinik und Therapie. Göttingen (Hogrefe). In: Familiendynamik, 49 (03), S. 260-260.
Ruhwinkel, Bernadette (2024): Rezension – Thomas Fuchs (2023): Psychiatrie als Beziehungsmedizin. Ein ökologisches Paradigma. Stuttgart (Kohlhammer). In: Familiendynamik, 49 (03), S. 261-262.
Lüscher, Kurt (2024): Kurz vor Schluss: Vaszillieren. In: Familiendynamik, 49 (03), S. 263-263.
Abstract: Kurz vor Schluss – also die Lektüre dieses Hefts beendend. Drei Wörter. Sie verweisen auf ein weites, komplexes Feld: das Wahrnehmen, Erleben und Bedenken von Zeit und eines ihrer zentralen Themen, das Verständnis von Gegenwart. Eine verbreitete Vorstellung verortet diese im Übergang von Vergangenheit zur Zukunft, umschreibt sie – bildlich gesprochen – als Punkt, somit als zeitlos. Andere Vorstellungen verstehen sie als (Gegenwarts-)Moment und erfassen sie uhrzeitlich, meistens als Dauer weniger Sekunden. Eine Alternative besteht darin, den Charakter von Gegenwart als erlebtes Ereignis hervorzuheben. Dies lässt sich mit der Annahme verknüpfen, es gehe um Aufgaben und Lösungen, lenkt somit die Aufmerksamkeit auf Gegenwart als »Ort« der Entstehung von Neuem, also auf Emergenz. Statt Sekunden oder Minuten, die sich letztlich auf astronomische Sachverhalte beziehen, gelten das psychosoziale Geschehen und sein Erzählen als Referenz. Die Erfahrung von Gegenwart wird so zu einer systemischen Einheit eigener Dauer, zu einer erstreckten Gegenwärtigkeit, beispielsweise beim Lesen dieses Hefts.
Heft 4
Tom Levold & Arist von Schlippe (2024): Kriegslogik entsteht schnell, Friedenslogik wächst nur langsam. In: Familiendynamik 49(4), S. 265-266
abstract: Wir Herausgeber gehören einer Generation an, für die trotz des Kalten Krieges ein offener Krieg auf europäischem Boden nur eine abstrakte Drohung war, doch nie konkrete Realität. Natürlich, es gab (und gibt) auf der Welt ununterbrochen Kriege, nur waren sie weit weg. Vietnam empörte uns, doch auch das war nicht so hautnah wie die gegenwärtigen Kämpfe in der Ukraine und in Palästina. Sie führen uns die Zerbrechlichkeit unserer friedenserhaltenden Strukturen vor Augen. Westeuropa wird beinahe unmerklich in die Logik des Krieges hineingezogen. Friedenslogik hat derzeit keine großen Chancen, sich durchzusetzen. Durch das Erstarken radikaler politischer und religiöser Bewegungen und Parteien in Westeuropa und den USA scheint sich der zivilisatorische Friedenskonsens in einem angsterregenden Tempo aufzulösen. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwiefern das gesellschaftliche Klima von Hass, Gewalt, Verachtung und Dämonisierung des Gegners auch die persönlichen Beziehungen der Menschen untereinander, sei es in den gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen, sei es im Alltag und bis in die Intimbeziehungen hinein, zu durchdringen vermag. Dieser »zeitdiagnostische Befund« brachte uns auf die Idee für ein Themenheft. Zunächst ging es uns darum, die paar- und familiendynamischen Aspekte zu untersuchen, die zu einem Umschlag von wohlwollenden in feindliche Interaktionen führen. Doch schnell wurde klar, dass wir es hier mit übergreifenden Mustern zu tun haben, die sich von privaten Beziehungen bis hin zu internationalen Konflikten skalieren lassen.
In Familien äußern sich diese Muster häufig in Form eskalierender Auseinandersetzungen und verhärteter Fronten. Oftmals erkennen Mitglieder nicht, dass ihre Konflikte ähnliche Grundmechanismen aufweisen wie Auseinandersetzungen auf globaler Ebene. Missverständnisse, alte Verletzungen und tiefsitzende Ängste führen zu Reaktionsmustern, die schwer zu durchbrechen sind. Das familiäre System leidet, ähnlich wie das internationale System, unter stereotypen Verhaltensweisen, die kurzfristig entlasten mögen, langfristig jedoch Schaden anrichten. Offensichtlich gibt es in sozialen Beziehungen Kipppunkte, die eine kompromissbereite, wohlwollende Friedenslogik relativ leicht in Kriegslogik umschlagen lassen. Umgekehrt ist dagegen ein »Kippen« von Feindseligkeit in ein friedliches Beziehungsmuster ungleich schwerer zu erreichen. In diesem Heft haben wir Beiträge versammelt, die das hier skizzierte Themenspektrum aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachten. Wir laden dazu ein, aus der Vielfalt der »Beobachtungen erster Ordnung« (wer hat »Recht«, wer hat Schuld an diesem »verbrecherischen Angriffskrieg«, was will Putin »wirklich« usw.) auszusteigen und eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung einzunehmen: Wie wird in unserer Gesellschaft – auf verschiedenen Ebenen – beobachtet? Wo erkennen wir blinde Flecken? Welche neuen Perspektiven lassen sich eröffnen (ohne dass wir den Anspruch haben, daraus einen Ausweg für die Weltlage abzuleiten)?
Friedrich Glasl (2024): Wie kann Kriegslogik durch Friedenslogik überwunden werden? In: Familiendynamik 49(4), S. 270-283
abstract: Differenzen können zu sozialen Konflikten eskalieren, wenn durch starke Affekte die Selbststeuerung geschwächt wird oder verloren geht. Dann bestimmen Affekte alle seelischen Funktionen und das Verhalten der Konfliktparteien. Es wird eine destruktive Denkart generiert, die »Kriegslogik«, die zu weiterer Eskalation führt. Den sechzehn Prinzipien der Kriegslogik werden hier sechzehn Grundsätze der »Friedenslogik« gegenübergestellt, deren Beachtung De-Eskalation ermöglicht. Sie können für erste Schritte genutzt werden, die Waffenruhe und Friedensgespräche ermöglichen.
Barbara Kuchler (2024): Wahrnehmung im Krieg. Konfliktdynamik und Welterleben am Fall des Ukrainekriegs. In: Familiendynamik 49(4), S. 284-293
abstract: Krieg verändert die Wahrnehmung der Welt und verschärft die Tonlage in der politischen Öffentlichkeit – in kriegführenden Ländern und, wie im Fall des Ukrainekriegs, auch in nicht direkt kriegsbeteiligten Ländern wie Deutschland. Drei charakteristische Wahrnehmungsverzerrungen sind: 1. eine Tendenz, die eigenen Chancen, Stärken, Siegesaussichten übermäßig optimistisch einzuschätzen, während die Chancen, Stärken, Entschlossenheiten des Gegners unterschätzt werden und deshalb auch eigentlich absehbare Eskalationsschritte des Gegners nicht antizipiert werden; 2. eine Tendenz, alle Handlungs- und Gestaltungsmacht auf der Seite des Gegners zu sehen, während die eigene Position als eine Position des Nur-Reagierens erlebt wird, wo man keine Wahl hat und nur das Unvermeidliche tut; 3. eine Tendenz, nur die politische Dimension des Lebens zu sehen, die im Krieg eben besonders »brennt«, während die Schäden, die in anderen, nicht-politischen Dimensionen anfallen, nicht im gleichen Maß mitgesehen werden. Diese drei Tendenzen sind aus der Kriegsgeschichte gut bekannt und geben dem Geschehen rund um den Ukrainekrieg einen hohen Wiedererkennungswert.
Till Jansen (2024): Si vis pacem, para bellum! Eine (gebrochene) Lanze für die strategische Therapie. In: Familiendynamik 49(4), S. 294-301
abstract: Die strategische Therapie ist in der Systemischen Therapie kaum noch präsent. Als ›Therapie gegen die Familie‹, geprägt von der Kybernetik erster Ordnung, Steuerungsphantasien und Intransparenz, hatte sie ihre beste Zeit in den 1970er Jahren. Das strategische Denken in der Therapie hält jedoch auch heute noch einige Möglichkeiten bereit. Transparent und auf Augenhöhe kann es eine gute Möglichkeit sein, um sich einem Konflikt zu nähern. Im »strategizing« können Konfliktparteien neue Gemeinsamkeiten finden, gerade indem Empathie, Unterschiede in Werthaltungen und Rücksicht auf Bedürfnisse (zunächst) zurückgestellt werden. Auch kann das strategische Vorgehen Beschämung und Frustration vermeiden und so erfolgreich Muster unterbrechen.
Almut Fuest-Bellendorf (2024): Familienmediation – ein Friedensangebot. In: Familiendynamik 49(4), S. 302-311
abstract: Die moderne Gesellschaft im Überforderungs- und Krisenmodus ist immer auch als eine Anforderung an Psychen und soziale Systeme zu verstehen. Familiensysteme, die an Vielfalt und Varianz in ihren Formen kaum zu überbieten sind, verbindet ein hoher Anspruch auf reziproke »Komplettberücksichtigung« ihrer Mitglieder. Dieser Anspruch fordert Familien heraus und führt zu Konflikten, die manchmal in ein kriegerisches Geschehen münden. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Beitrag Mediation als eine systemische Interventionsform vorgestellt, deren besonderes Vermögen darin besteht, auch unter Bedingungen starker Konflikte mit Familienmitgliedern an Vereinbarungen zu arbeiten. Ein zentrales Prinzip der Arbeit mit hocheskalierenden Systemen ist das von Fairness und Gerechtigkeit, welches hier auch entlang eines prozessualen Vorgehens vorgestellt wird. Schnell wird deutlich, dass Mediation eine voraussetzungsreiche Intervention ist, die hohe Ansprüche an die Mediatorin stellt. Der Erhalt der eigenen Widerstandskraft, Resonanzfähigkeit und Resilienz wird zu einer zentralen Aufgabe in der Entwicklung der Rolle der Mediatorin. Darüber hinaus wird Wissen um den Umgang mit aufkommenden Krisen und Konflikten, um die eigene Haltung im Konflikt, um ein Handeln und Verhandeln (also Mediationskompetenz) als notwendige Kernkompetenz für sämtliche Bereiche von Beratung und Therapie angenommen.
Rüdiger Retzlaff (2024): Systemische Therapie – Fallverständnis und gemeinsame Problemdefinition. In: Familiendynamik 49(4), S. 312-320
abstract: Fallverständnis und Behandlungsplanung erfolgen in der systemischen Therapie in einem gemeinsamen Prozess, an dem Therapeut, Patienten und Angehörige beteiligt sind. Kernstück des systemischen Erklärungsmodells ist eine gemeinsame Problemdefinition – Hypothesen, Einschätzungen, Beobachtungen werden zu einem gemeinsamen Narrativ zusammengefasst, das als Richtschnur für den weiteren Therapieprozess und die Behandlungsplanung dient. In diesem Artikel wird beschrieben, wie eine gemeinsame Problemdefinition entwickelt werden kann. Dargestellt werden konkrete praktische Schritte, ein Fallbeispiel dient zur Veranschaulichung des Vorgehens.
Rüdiger Retzlaff (2024): Zum Tode von Evan Imber-Black (09. 05. 1944 – 29. 05. 2024). In: Familiendynamik 49(4), S. 321-321
Bodo Reuser (2024): Psychotherapeut:innen in Weiterbildung als Teil des Multidisziplinären Fachteams in der Erziehungsberatung. In: Familiendynamik 49(4), S. 322-325
Sebastian Baumann (2024): Führen und Folgen. In: Familiendynamik 49(4), S. 326-327
Maik Wunder & Mathias Berg (2024): Filmdynamik: Der Film »Morin« – die Zukunft des Lernens ist schon da. In: Familiendynamik 49(4), S. 328-330
Tom Levold, Arist von Schlippe & Luc Ciompi (2024): »Krieg anzuzetteln ist leicht. Frieden zu machen ist unendlich schwierig«. Tom Levold und Arist von Schlippe im Gespräch mit Luc Ciompi. In: Familiendynamik 49(4), S. 332-338
abstract: Luc Ciompi, geb. 1929, Professor für Psychiatrie, baute von 1973 an die sozialpsychiatrischen Dienste der Universitätsklinik Lausanne auf, war 1977 – 1994 Direktor der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern; Begründer der therapeutischen Wohngemeinschaft »Soteria Bern«. Nach seiner Emeritierung 1994 war er Gastprofessor am Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung in Altenberg bei Wien. Zahlreiche Publikationen, u. a. Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung (1982); Außenwelt. Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen (1988); Zeit und Psychiatrie. Sozialpsychiatrische Aspekte, gemeinsam mit H.-P. Dauwalder (1990); Soteria im Gespräch. Über eine alternative Schizophreniebehandlung, gemeinsam mit E. Aebi und H. Hansen (1996); Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik (1997); Wie wirkt Soteria? Eine atypische Psychosenbehandlung – kritisch durchleuchtet, gemeinsam mit H. Hoffmann und M. Broccard (2001); Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama, gemeinsam mit Elke Endert (2011).