
Nach seinem Buch Wir können und müssen uns neu erfinden Am Ende des Zeitalters des Individuums – Aufbruch in die Zukunft aus dem Jahre 2021 hat Wilhelm Rotthaus ein neues Buch vorgelegt, das sich gewissermaßen als Fortsetzung lesen lässt.
Sein Buch mit dem Titel Beziehungsgeschöpf Mensch. Übergänge zu einem neuen Selbstbild behandelt die Notwendigkeit eines neuen Menschenbildes, das den Übergang vom individualistischen Selbstverständnis zu einem relationalen, beziehungsorientierten Selbstbild beschreibt. Es zeigt auf, dass die bisherige dominierende Vorstellung vom Menschen als ein autonomes, unabhängiges Individuum historisch betrachtet ein vor allem europäisch geprägtes Phänomen darstellt, das zudem nur einen sehr kleinen Teil der Geschichte ausmacht. Ausgehend vom Mittelalter, dem Zeitalter der „Erfindung“ des Individuums, hat es viele Fortschritte ermöglicht, zugleich aber auch zahlreiche Krisen herbeigeführt, wozu Rotthaus etwa die ökologische Zerstörung, die soziale Vereinsamung und die großen geopolitischen Konflikte zählt. Eine große Transformation hin zu einem beziehungsorientierten Selbstbild sieht er daher als notwendig an, um dem Zerfall sozialer Bindungen, der ökologischen Krise und dem Verlust von Sinn und Solidarität wirksam begegnen zu können.
Wolfgang Loth hat das Buch in einem ausführlichen Rezensionsessay gewürdigt, den systemagazin mit freundlicher Erlaubnis aus der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung 3/2025 übernimmt. Auch Filip Caby, wie Wilhelm Rotthaus ehemaliger Vorsitzender der DGSF, hat das Buch gelesen und empfiehlt den Band zur Lektüre.
Wolfgang Loth, Niederzissen:
Vorbemerkung:
Die Zeiten ändern sich schneller als Selbstbilder. So sieht es jedenfalls aus. Wie vor drei Jahren wird nun wieder eine Zeitenwende beschworen, die vieles an den Rand zu drängen scheint, was eigentlich die volle Aufmerksamkeit verlangt. Kurz vorher hatte Wilhelm Rotthaus ein neues Buch herausgebracht, in dem er sich kritisch mit der Dominanz des Individualismus befasste. Er mahnte dringend an, sich für eine mehr am Gemeinwohl orientierte Zukunft einzusetzen. Eine Rezension dazu hatte ich so gut wie fertig, als die Ukraine überfallen wurde und in Europa ein Krieg begann. Da schien es mir nötig, die Lektüre des Buches umfassender einzubetten – der geforderte Epochenwandel hatte sich auf gänzlich andere Art nach vorne gerückt als der von Rotthaus angemahnte[1].
Und genauso sieht es jetzt wieder aus: Die Frage wird drängender, ob die „Demokratie auf Sand gebaut“ sei[2] und ich fürchte, das globale, das geopolitische Beben könnte die Lektüre des nun vorliegenden Buches in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigen. Dies zum einen wegen des Begriffs des Übergangs selbst, und zum anderen wegen eines naheliegenden Kurzschlusses. Zum Begriff: Das Leitmotiv einer umfassenden disruption greift dermaßen ungehemmt um sich, dass es schwierig erscheint, das in vernünftige Bahnen zu lenken. Es dominiert der Riss, der Bruch, die Umwälzung, das Auseinanderreißen, womit nur einige der möglichen Übersetzungen des Begriffs benannt wären. Übergänge werden auf diese Weise nicht ermöglicht, sondern erzwungen. Sie erscheinen nicht mehr anziehend, sondern wirken bedrohlich.
Auf den ersten Blick scheint damit die Pointe des Buches verhagelt, das ich hier vorstellen und unbedingt zur Lektüre empfehlen möchte. Es wäre fatal, wenn sich die notwendige Wandlung allein und ausschließlich auf akut notwendig gewordene Sicherheitsmaßnahmen beschränken würde. Tatsächlich sind zwei Aufgaben zu bewältigen. Die eine besteht in der Gratwanderung zwischen notwendigem Selbstschutz und ebenso notwendigem Ausloten von Möglichkeiten zur Deeskalation. Das betrifft die akute Oberfläche. Die andere Aufgabe zielt auf die Tiefenstruktur. Wie wird etwas zu Kontrollparametern einer Entwicklung, die, wenn es so bleibt, die Basis für ein Leben auf dieser Erde langfristig zerstört? Die Hinweise auf die aktuellen globalen Konflikte verweisen auf solche Kontrollparameter. Doch geht die Frage weiter: Es geht nicht nur um das Was. Es geht auch um die Grundlagen dessen, was sich zu Kontrollparametern auswächst. Und mehr noch darum, was ihre Antagonisten sind und wie diese gestärkt werden können.
Hier setzt das neue Buch von Rotthaus an. Als Antagonist zum selbst-zerstörerischen menschlichen Wirken gilt hier ein grundlegender Wandel von der Norm des durchsetzungsfähigen Individuums zu einer Sicht des Menschen als Spezies, die aus Beziehung erwachsen ist und auf dieser Basis in der Lage, das eigene Wohl mit dem Wohl der anderen (und all des anderen) zusammenzudenken. Das Leitmotiv ist dann nicht mehr die „Krone der Schöpfung“. Das Leitbild ist ein umfassender Respekt. Das im Sinn stelle ich nun meine Überlegungen zum neuen Buch vor.
Zum Buch:
„Die Menschen wollen ihr Leben zurück“, plötzlich dieser Satz in einer komplexen Argumentationskette, schnörkellos, überraschend fast – und wirkt wie ein Leuchtfeuer. Er steht im Abschnitt „Dem Leben einen Sinn geben“. Um die Arbeitswelt geht es da, speziell darum, wie wichtig es ist, in sinnvollen Bezügen zu arbeiten. Im Kern scheint in diesem Passus die ganze Tragik eines Lebens auf, das sich auf entwürdigende Vorgaben eingelassen und gleichzeitig noch nicht vergessen hat, dass Leben mehr ist. Und noch spürt, dass Anpassung nicht die einzige Form sozialer Eingebundenheit ist. Mir kam es so vor, dieser Satz bilde vielleicht das Motto dieses Buches.
Doch je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verschwamm mir das Bild. Was genau heißt das: sein Leben zurückwollen? Und was genau bedeutet es im Zusammenhang mit der Thematik dieses Buches? Ein Buch, dass sich energisch gegen die Vergötzung von Partikularinteressen ausspricht und stattdessen den Blick auf die Zusammenhänge richtet. Aus dieser Perspektive lässt sich das Scheitern einer am Individuum ausgerichteten Weltsicht nachvollziehen. Und gleichzeitig wird schärfer gestellt, was sich schon alles als praktikabel erwiesen hat, wenn es darum geht, einem am Allgemeinwohl ausgerichteten Leben den Weg zu bereiten. Und wenn vielleicht noch nicht als praktikabel, so doch als belebend und motivierend. Heißt da „das Leben zurückwollen“, es wieder mehr mit den eigenen Wünschen und Interessen in Einklang zu bringen? Heißt es, etwas zurück haben zu wollen? Oder ist ein anderes Sein gemeint, das sich im Gemeinsamen „selbst“ verwirklicht? Es scheint, dass keine der möglichen Antworten ohne Widersprüche auskommt. Rotthaus trifft also einen Nerv mit seinem Thema. Das verlangt sowohl Frustrationstoleranz als auch unerschrockene Vorstellungskraft. Worum geht es?
Das neue Buch folgt dem von Rotthaus vor einigen Jahren vorgelegten Wir können und müssen uns neu erfinden. Im aktuellen wie im Vorgänger steht das „Ende des Zeitalters des Individuums“ zur Debatte, damals unter dem Motto „Aufbruch in die Zukunft“. Da lag der Schwerpunkt auf der historischen und gesellschaftlichen Herleitung der Notwendigkeit, die herrschende individuumszentrierte Lebensweise hinter uns zu lassen. Das neue Buch beleuchtet vor allem die Übergänge zu einer ökologisch und sozial ausgewogeneren Weltsicht. Als Leitmotiv dient dabei die Vorstellung des Menschen als „Beziehungsgeschöpf“. Bei diesem Begriff habe ich es genau genommen mit dem Beiwerk zu tun, dass „der Mensch“ nicht entstanden sei, sondern geschaffen wurde. Das wäre ein metaphysischer Blickwinkel, der jedoch im vorliegenden Buch keine Rolle spielt. Insofern übersetze ich mir das Beziehungsgeschöpf in ein Beziehungswesen, dessen soziale Fähigkeiten und Bedürfnisse sich in seiner phylogenetischen Entwicklung herausgebildet haben, also grundlegend.
Im Zentrum des Buches steht somit die überlebenswichtige Verwurzelung des Menschseins im Geflecht von Beziehungen. Ohne Beziehung läuft nichts. Das allein sagt allerdings nur etwas aus über dessen Bedeutung. Über die Realität dessen ist damit noch nichts gesagt – nichts darüber, wie sich Beziehung darstellt und wirkt. Erst einmal ist das Primat von Beziehung eine allgemeine Aussage. Wie sie erfahren wird, ob als Segen oder als Unglück, ist an kontextuelle Bedingungen geknüpft. Es kommt darauf an. Hier sehe ich die zentrale Bedeutung des vorliegenden Buches. Es zeigt Zusammenhänge auf, die die unbedingte Notwendigkeit der Beziehungsperspektive erhellen. Dazu finden sich auch eine Reihe von Theoriestücken: so aus der Prozess- und Figurationssoziologe von Norbert Elias, aus Gergens Fokus auf das Menschenbild des relational being, oder der Verweis auf die Mitleidsethik Arthur Schopenhauers, sowie dessen Querverbindung zu einem säkularen Buddhismus. An einigen Stellen erweisen sich auch quantentheoretische Überlegungen als anregend. Des Weiteren erschließt die Lektüre das Widersinnige daran, dass herrschende Welt- und Menschenbilder in erster Linie das Individuum abbilden, während sie die notwendige Verwobenheit in sozialen Bezügen unter Wert handeln. Und schließlich berichtet es von einer Vielzahl bereits bestehender Visionen und praktischer Erfahrungen, die sich auf ein soziales Menschenbild gründen und dieses weiter ausbauen: Hier wären unter anderem die solidarische Care-Ökonomie zu nennen, auch Anmerkungen zu einem modifizierten Zivil- und Deliktrecht, das nicht das rückwärtsgerichtete Bestrafen zum Ziel hat, sondern das kontextuell mitverantwortete zukünftige Verhalten. Eine globale Perspektive wird z.B. deutlich in der Behandlung der Natur als Rechtssubjekt. Die Andenstaaten zeigen sich hier als Vorreiter. Ein wesentliches Thema bildet auch die Idee des Lernzentrums für alle, sowie allgemein eines Schulalltags, der nicht erst über Umwege wieder zum Lernen motiviert, sondern die grundlegend vorhandene Motivation anerkennt, aufgreift und fördert. Auch Überlegungen zu einem Gesundheitswesen kommen zur Sprache, das nicht auf das Erzielen und Maximieren von Gewinn aus ist. Nicht zuletzt geraten die Fallstricke eines Freiheitsbegriffs in den Fokus, der den individuellen Freiraum umstandslos bevorzugt gegenüber einem ökologischen Überlebensraum.
Ich verstehe Rotthaus‘ Anliegen vor allem als Rückenstärkung, sich von Hindernissen nicht abschrecken zu lassen auf dem Weg zu einer sozial gerechteren und ökologisch bewussteren Sicht der Welt. Am Handeln geht kein Weg vorbei, doch eine prägende Voraussetzung ist das Klären und Stärken eines kognitiv-emotionalen inneren Rahmens dafür. Es geht nicht ohne Motivation, was nicht nur einen Beweggrund meint, sondern auch einen Bewegungsimpuls. Was kann Menschen dazu bringen, ihre Komfortzone zu verlassen? Was kann sie dazu bringen, das, was sie für ihre Komfortzone halten, als Falle zu begreifen? Und was kann sie dazu bringen, in dieser Falle dann nicht zu erstarren? Ich denke, der eben erwähnte Konflikt zwischen Frei- und Überlebensraum deutet an, wieso das so schwierig ist. Noch einmal der Satz von oben: „Die Menschen wollen ihr Leben zurück“. Besteht Leben im selbstbezogenen Aus-Nutzen eines Freiraums? Oder in der zuverlässigen Teilhabe am Überlebensraum? Oder darin, sich sowohl in dem einen aufhalten zu können als auch für das andere wach zu sein und sich zu engagieren? Vielleicht könnte es da weiterhelfen, sich auf den Gedanken einer umfassenderen Komplementarität einzulassen[3]. Das könnte der Vorstellung nutzen, zum Wohl des einen nicht auf die Qualitäten des anderen verzichten zu müssen. Beide Seiten könnten ihr Gutes tun. Das würde auch eine Reihe von Stolperstellen entschärfen, die sich m.E. aus einer kompromisslosen Absage der Individuums-Perspektive ergeben.
Ich denke, in diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, genauer zwischen einer abstrakten Individuums-Perspektive und dem spürbaren Anerkennen individuell erlebten Daseins zu unterscheiden. Ich verstehe Rotthaus so, dass er die Individuums-Perspektive als eine herrschende Norm ablehnt. Dass er gegen das ausschließliche Bevorzugen individueller Neigungen gegenüber ökologischen und gemeinschaftlichen Notwendigkeiten argumentiert. Es könnte jedoch sein, dass allgemeine Norm und individuelle Daseinskonzepte manchmal verschwimmen. Wenn, wie im Buch, ein Schulalltag entworfen wird, in dem Lernen eine personalisierte Form findet, genau passend zur Motivation, zur Kondition und zum Kontext jeder einzelnen SchülerIn, ist das wunderbar, aber eben nicht nur ein sozialer Rahmen, sondern auch ein am Individuum orientiertes Vorgehen. Beides gleichzeitig. Was tatsächlich in Schulen „wirkt“, sind nicht nur materielle Kontexte und Peergruppen-Zusammengehörigkeit, sondern auch die individuellen Erfahrungen mit der Person erkennbar zugewandter LehrerInnen. Auch hier wieder das Zusammenspiel von individuellen und sozialen Faktoren. Es braucht beides[4].
Ich schreibe diese Rezension in der Zeit nach der Bundestagswahl und unter dem Eindruck der performance des US-amerikanischen Präsidenten, die als Aufkündigung einer bisher geltenden Allianz verstanden werden kann. In diesem Zusammenhang denke ich verstärkt über die „Illusion der Steuerbarkeit der öffentlichen Meinung“ nach, worüber Rotthaus an einer Stelle schreibt. Ich würde mich dieser Formulierung gerne anschließen, auch weil ich mich für das Konzept des „Beisteuerns“ stark gemacht habe. Doch frage ich mich, ob das im Moment nicht ein Trugschluss ist. Wenn in einer Übergangsphase, also dann, wenn Instabilität am tiefsten verspürt wird, jemand „Macht“ über die digitalen Medien besitzt, wird Steuerbarkeit vielleicht doch wahrscheinlich. Jedenfalls wird die Schnittstelle deutlich, über die das Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem vernebelt wird. Und in diesem Nebel wird als Allgemeingut verkauft (bildlich und wörtlich), was dem individuellen Nutzen von Wenigen dient. Es ist nicht so einfach.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich stimme Rotthaus‘ Ansatz im Kern völlig zu. Eine Veränderung der herrschenden Moral ist eine Voraussetzung dafür, die Erde als Lebensraum zu erhalten. Dass es Gegenbewegungen zu dieser herrschenden Moral gibt, zeigt Rotthaus in diesem Buch überzeugend auf. Und Hoffnung ist eh nur verständlich im Ungewissen. Dass sie nicht unsinnig ist, lässt sich aus dem erschließen, was Rotthaus nicht müde wird, sichtbar zu machen. Und doch scheinen die Hürden hoch. Vielleicht könnte hier weiterhelfen, wenn die Idee des Individuums nicht als per se schlecht betrachtet wird. Vielleicht sollte auch berücksichtigt werden, was einmal ein Vorteil war. Wenn etwa Kurt Flasch über die „mentale Wandlung“ schreibt, die seit dem 12. Jahrhundert in Westeuropa in die Gänge kam, dass sie „eine neue Sensibilität für das menschliche Individuum, seine rationalen und organisatorischen Kompetenzen [brachte]“, woraus folgte, dass es nun „nicht mehr selbstverständlich [war], daß der Mensch Objekt von Herrschaft war“[5], dann spricht daraus ja auch ein Moment der Befreiung. Das steckt ja immer noch drin, im Sinngehalt des Individuums. Es könnte ja auch als Grundlage für nächste gute Schritte angenommen werden. Was bleiben könne, wie es ist, war ja nicht ohne Grund eine zentrale Frage beim Lösungsorientierten.
Ich stelle mir daher vor, sich nicht darauf zu beschränken, das Leitmotiv des Individuums zu relativieren, sondern sich darauf zu konzentrieren, es aus der entstandenen normativen Überhöhung zu lösen – es also erneut zu befreien, wenn man so will. Das als Grundlage dafür, das Zusammenspiel von individuellen Selbst-Vergewisserungen und sozialverträglichen, ökologischen Notwendigkeiten als Einheit zu betrachten. Ich denke da auch an Stierlins Konzept der „bezogenen Individuation“. Stierlin hat das zwar ursprünglich nur für „nahe Beziehungen“ ausgeleuchtet, doch dürfte es auch für die Idee des Gemeinwohls Gewicht haben. Auch das von Kurt Ludewig eingeführte Konzept des „Mitglieds“ ließe sich hier anwenden [6]. Sowohl das Konzept des Mitglieds als auch die Notwendigkeit, die „bezogene Individuation“ immer wieder auszubalancieren in ihrem „mit und gegen“ können anregen, individuelles und gemeinsames Wohl zusammenzudenken. Vielleicht hilft eine solche Perspektive dabei, dass die notwendigen Veränderungen eher organisch und attraktiv geschehen können, anstelle sie als drohende Einschränkung von (vertrauten, Sicherheit versprechenden) Routinen ins Leere laufen zu lassen. Die üblichen Reaktanzphänomene, der reflexhafte Widerspruch, die das tatkräftige Eintreten für notwendige Veränderungen so oft behindern (und sogar Wahlen beeinflussen), könnten auf diese Weise vielleicht abgeschwächt werden. Und ja, ich weiß, es wird auch Glück brauchen, zusätzlich zu dem ernsthaften Bemühen, für das sich Rotthaus so verdienstvoll einsetzt.
Am Ende: Ich halte das vorliegende neue Buch von Wilhelm Rotthaus für einen wichtigen Beitrag. Es weitet den Blick, stellt eine beeindruckende Fülle vorliegenden Materials zur Verfügung, regt an und macht Mut. Seine Wirkung kann es jedoch nur erzielen, wenn es nicht nur gelesen wird, sondern auch diskutiert, auch kontrovers diskutiert, in der Praxis aufgegriffen und mit reflektierter Hoffnung zusammengebracht wird und so zu „vereinten Kräften“ verhilft. Gerade in Zeiten wie diesen. Möge es so sein.
Wolfgang Loth (Niederzissen)
Dank an Annely Ennen-Loth für geduldiges und unbestechliches Mitgehen beim Werden dieses Essays.
[1] Loth, W. (2022) Ein notwendiges Innehalten heute und Überlegungen zu Rotthaus‘ Plädoyer für einen Epochenwandel – Zu Wilhelm Rotthaus (2021) Wir können und müssen uns neu erfinden. Am Ende des Zeitalters des Individuums – Aufbruch in die Zukunft. Heidelberg: CarlAuer. In: systeme 36 (1): 102-109
[2] So die Titelfrage eines Themenhefts des philosophie Magazins (Nr.04/2024). „Wer hat schon Zeit für Streit, wenn es ums nackte Überleben geht?“, fragt Svenja Flaßpöhler in ihrem Editorial und räumt gleich ein: „Allein, bei einer solchen Diagnose fängt das Problem ja schon an“.
[3] Niels Bohr machte das seinerzeit vor, als sich kontroverse Annahmen zur Quantenmechanik zu einem Konflikt auswuchsen, der schien, als könnte er den Willen zur Kooperation zu sehr schwächen. Erhellend dazu: Ernst Peter Fischer (2012): Niels Bohr. Physiker und Philosoph des Atomzeitalters. München: Siedler, S. 171ff. Zitat: „Bohr verstand unter dem Begriff der Komplementarität, dass man zu jeder Beschreibung der Natur eine komplementäre Form finden kann, die (in der Tiefe) gleichberechtigt ist, obwohl sie (an der Oberfläche) völlig anders erscheint“ (S.171).
[4] Das ist kein neuer Gedanke. Alfred Weber hat 1947 in einem Aufsatz über „Das Ende des modernen Staates“ diesen modernen Staat als einen beschrieben, der „moralfreier Macht“ verschrieben sei und den „Eroberungs- und Expansionsdrang […] zu einer durch nichts gebundenen Doktrin seiner Existenz erhoben“ habe. Er steht in einer Zeitschrift mit dem Titel „Die Wandlung“ (!), unter Mitarbeit u.a. von Karl Jaspers seit 1946 herausgegeben. Weber erwähnt dann auch: „Wir stehen zur Zeit, zweihundert Jahre nach der amerikanischen und französischen Revolution, in einer ähnlich allumfassenden Weise wieder vor den Fragen des Widerspruchs und der Versöhnung von Individuum und Gemeinschaft“ (1947 in: Die Wandlung, 2.Jg, 6.Heft, S.463-477; Zit. S.466 und 475).
[5] Kurt Flasch (2010) Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. München: C.H. Beck; Zit. S.27
[6] Das Konzept des Mitglieds hat Kurt Ludewig eingeführt (1992: Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta, S.110ff.). Dessen differenztheoretische Herleitung scheint nicht unmittelbar zu Helm Stierlins Individuations-Diktion zu passen (z.B. 2010: Sinnsuche im Wandel. Heidelberg: Carl-Auer, S.56ff.). Doch denke ich, dass beide im Kern korrespondieren. Beide Ansätze verweisen auf ein sozial geprägtes, beziehungsorientiertes Menschenbild.
Filip Caby, Leer:
Ein Buch das gelesen werden sollte! Gerade in diesen Zeiten der massiven Verunsicherung in denen auf nichts mehr Verlass zu sein scheint.
Alle die sich wundern wie es so weit kommen konnte finden in diesem kleinen Werk mögliche Auswege. Es appelliert an die Lesenden sich mit der Frage auseinander zu setzen ob man sich selbst eher als Individuum oder eher als Teil von Beziehungen empfindet und woran man selbst oder die anderen das merken würden.
Wilhelm Rotthaus verlinkt das Dilemma Individuum-Beziehungsgeschöpf einerseits mit einer beeindruckenden und aüßerst interessanten geschichtlichen Aufarbeitung die zu den Anfängen der Menschheit zurückgeht. Andererseits zieht er Vergleiche zu unserer Tier- und Umwelt, das Ganze getragen von einer durch und durch systemischen Grundhaltung die das Dilemma erst Sichtbar macht, mit Verknüpfungen zu Bateson, Luhmann, Kant und Schopenhauer.
Spannend sind die als solche bezeichnete „Exkurse“, die die Perspektive noch erweitern. In Verbindung mit den vier Kränkungen des Individuums stellt sich die Frage, ob die Menschheit nicht gerade die 5. Kränkung erlebt, in dem ein Individuum in der Lage zu sein scheint, gesellschaftlich Sicherheiten auszuhebeln.
Der Autor belässt es allerdings nicht bei Beschreibungen, sondern eröffnet mit seinen „Ideen“ zu Abschluss des Buches auch faszinierende Perspektiven raus aus dem Dilemma.
Dieses Buch hat das Prädikat „Wertvoll“ verdient.

Wilhelm Rotthaus (2025): Beziehungsgeschöpf Mensch. Übergänge zu einem neuen Selbstbild. Heidelberg (Carl-Auer)
155 Seiten, Kt.
ISBN: 978-3-8497-0578-7
Preis: 19,95 €, ebook 17,99 €
Verlagsinformationen:
Wie kann es gelingen, all die klugen Maßnahmen, die zur Rettung der Erde als Lebensraum erarbeitet werden, auch tatsächlich umzusetzen? Wilhelm Rotthaus geht davon aus, dass die notwendigen Schritte am ehesten erfolgen werden, wenn wir als Bewohner:innen ein neues Selbstbild entwickeln.
Solange die Vorstellung besteht, der Mensch sei von Natur aus auf den eigenen Vorteil bedacht, werden wir versuchen, uns und unsere Interessen durchzusetzen. Nehmen wir uns dagegen als Wesen wahr, die erst aus Beziehungen entstehen, werden wir unser Wohlergehen als eng verbunden mit anderen erleben und ein Interesse daran haben, dass es ihnen ebenfalls gut geht. Kooperation und Zusammenhalt in größeren Gruppen bildeten die Grundlage für die Verbreitung des Menschen. Menschen mit einem Selbstbild als Beziehungsgeschöpf ist also zuzutrauen, dass sie weltweit gemeinsame Anstrengungen zur Eindämmung der Klimakrise und zum Erhalt der Biodiversität unternehmen werden. Wilhelm Rotthaus schließt mit diesem Buch unmittelbar an das Plädoyer des Vorgängers „Wir können und müssen uns neu erfinden“ an. Hier zeigt er, wie das gehen könnte.
Über den Autor:
Wilhelm Rotthaus, Dr. med.; Studium der Medizin und der Musik; Ausbildungen in klientenzentrierter Gesprächstherapie, klientenzentrierter Spieltherapie und Systemtherapie. 1981–2004 Ärztlicher Leiter des Fachbereichs Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinischen Kliniken Viersen. Buchveröffentlichungen u. a.: „Wozu erziehen“ (8. Aufl. 2017), „Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“ (5. Aufl. 2021), „Ängste von Kindern und Jugendlichen“ (2. Aufl. 2021), „Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen“ (2. Aufl. 2023) „Schulprobleme und Schulabsentismus“ (2. Aufl. 2022), „Ängste von Kindern und Jugendlichen. Erkennen, verstehen, lösen“ (2. Aufl. 2021), „Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen. Erkennen, verstehen, vorbeugen“ (2020), „Fallbuch der Systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen“ (2020), „Wir können und müssen uns neu erfinden. Am Ende des Zeitalters des Individuums – Aufbruch in die Zukunft“ (2021)