Eine Antwort auf die Frage, wer meine weiblichen Vorbilder seien, fällt mir leicht. Es sind zwei: meine Mutter und Barbla. Barbla ist 82, gelernte Handarbeitslehrerin und Bäuerin, Mutter von fünf, Großmutter und Urgroßmutter von ungezählten Kindern. Ihr Haus liegt an der Straße, durch die sich bis vor zwei Jahrzehnten der ganze Nord-Süd-Verkehr zwängte. Jetzt ist es ruhig hier.
Unser Besuch beginnt wie immer mit dem Gang zum Friedhof, wo nebeneinander Barblas Mann und Bruder liegen, vor 20 Jahren im selben Jahr an Krebs gestorben. Seit kurzem ist auch ihr ältester Sohn Gian neben ihnen begraben. Damals, als sein Vater erkrankte, hat Gian das elterliche Höflein übernommen und mit Hilfe seiner Familie zu einem Hof ausgebaut, der heute der schönste ist im Dorf. Kurz vor seinem Krebstod mit 58 übergab Gian den Hof seinem ältesten Sohn. Barbla steht mit uns vor den drei Gräbern und wischt sich die Tränen weg. In unserer Familie gibt es seit Generationen Krebs, sagt sie, und es trifft fast immer die Männer, niemand weiss warum.
Der zweite Teil des Rituals ist das sonntägliche Mittagessen im «Crusch Alba», eingehüllt in herzliche Gemeinschaft. Die alten Geschichten bekommen ihren Platz, wie schon oft. Vor über 40 Jahren bin ich, direkt aus dem Palace-Hotel, wo ich meine erste Erfahrung mit der grossen Welt machte, in dieses kleine Dorf gekommen. Ich war jung und unsicher, was aus mir werden sollte, und wollte nicht planlos ins Unterland zurück. So kam ich über die Praktikantinnenhilfe ins Tal. Im Postauto saßen Frauen in schwarzen Kleidern, die einen fremden romanischen Dialekt redeten, die Passstrasse war staubig, das Tal arm und am Ende der Welt. In ihrer Küche kniete Barbla und fegte den rohen Holzboden. Kurz darauf musste sie einige Tage ins Spital, und ich war allein mit der grossen Familie, einem Holzherd und einem Spirituskocher für die Milchflasche des Säuglings; Tagwache um 5 Uhr. Seine Windeln wusch ich am kalten Dorfbrunnen.
Dann, als Barbla zurückkam, wurden wir Freundinnen. Sie, kaum je über das Tal hinausgekommen, hat mir bei der Haus- und Feldarbeit zugehört und mich ermutigt, meine halb ausgedrückten Ideen abzurunden. Sie erfand Visionen für mich wie noch niemand auf der Welt.
Der dritte Teil des Rituals ist, dass wir in Barblas Stube bei Iva-Schnaps sitzen. Die Sonntagsbesuche von Familienangehörigen, vor allem jungen, reissen nicht ab, bis wir die Heimfahrt antreten. Nichts von Vereinsamung im Alter. Barbla ist im Zentrum von Liebe und Respekt, eine weise alte Frau, die neugierig bleibt auf Leben und sich nur einmischt, wenn sie gefragt wird.
Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.
Barblas Weisheit
31. Juli 2011 | Keine Kommentare