Zerknittert sitzt er im Stuhl, der 55-jährige Chris, bis vor kurzem Mitglied des Verwaltungsrates eines Unternehmens, das einfachen Gemütern wie mir stabil und rentabel schien. Vor ein paar Monaten dann der tiefe Fall, für Tausende von Kleinaktionären eine Katastrophe. Es ist etwas anderes, ob ich in der Zeitung über den Absturz eines einflussreichen Managers lese, der seine Schäfchen längst ins Trockene gebracht hat, oder ob er in Fleisch und Blut vor mir sitzt. Meine Wut über diesen Typus Mann sitzt zwar noch in mir, das ist mir bewusst. Doch die Begegnung mit Chris besänftigt meine unfreundlichen Gefühle. Und weil es objektives, von Emotionen unbeeinflusstes Denken nicht gibt, will ich mit diesen Klienten so umgehen, dass ich den Mann unterstützen kann, seinen Einbruch als Vorboten längst fälliger Entwicklung zu verstehen und etwas Anständiges daraus zu machen. Mit diesem Anliegen kommt er nämlich zu mir, wobei ich nicht sicher bin, wie viel dies sein eigenes und wie viel das das Anliegen seiner Frau ist.
Ich setze in der Psychotherapie keine hohe Leistungslatte an, die im schlimmsten Fall das zementiert, was einen Menschen in die Katastrophe geführt hat. Ich will mich anschließen an seine innere und äußere Welt und seine Geschichte und Lebensthemen verstehen, damit er aus seiner Vergangenheit Zukunft macht. Zukunft ohne Schaden für andere und für sich selber. Chris ist, wie andere Erfolgreiche, die aus dem Arbeitsprozess gekippt wurden, beileibe kein Unschuldslamm. Er gehört aber auch nicht zu den «Teflon-Männern», die ihre Millionen mit eiskalten Machtstrategien in Wirtschaft und Politik ergattert haben. Die kommen nicht zu einem therapeutischen Gespräch. Wer von Geldgier und Rachemotiven getrieben ist, braucht meine Unterstützung nicht der Erfolg ist vorläufig auf seiner Seite. Rachemotive haben ihre eigenen Regeln und machen den Betroffenen selbst zum Biedermann: Mein Vater wurde bösartig seines Amtes enthoben, nun räche ich mich.
Oder mein Vater starb an Trunksucht, weil man ihm übel mitgespielt hat. Nun zeige ich es euch. Das sind die bekannten Muster.
Weil ihm die «Teflonschicht» fehlt, lief Chris mit Symptomen von Schlaflosigkeit und Depression während Monaten von Arzt zu Arzt. Er weiss alles über Antidepressiva und Schlafmittel aber nichts über sich selber. Weiss auch nicht, wie er aus seiner abgebrochenen Karriere etwas machen kann, das besser ist, als die immer gleiche heisse Luft zu produzieren. Seine Frau kommt nun ab und zu mit. Sie ist klug, fordert ihn heraus, und sie kann bescheiden leben. Was für ein Glück für ihn!
Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis konnten die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen. Mit diesem Beitrag endet die Serie!
Auffangen im Absturz
4. September 2011 | Keine Kommentare