Normalerweise ist bei jedem Adventskalender am 24.12. Schluss. Deshalb gibt es für den 25.12. auch kein Adventskalenderbildchen. Ich habe aber versprochen, alle eingegangenen Beiträge für den diesjährigen Kalender zu veröffentlichen, und deshalb gibt es heute und morgen noch an dieser Stelle die beiden letzten Texte zum Thema interkultureller Begegnung. Lisa Reelsen, Lehrerin mit systemischer Weiterbildung und langjährige systemagazin-Leserin, hat schon in den vergangenen Jahren etwas zu den Adventskalendern beigesteuert. Dieses Mal schreibt sie aus dem sommerlichen Chile, wo sie seit Jahresanfang tätig ist.
Schreiben über interkulturelle Begegnungen in Beratungssituationen? Keine Zeit dafür, ich lebe sie täglich, die Begegnungen, und erlebe die damit eng verbundenen Herausforderungen an mich. So dachte ich, als ich das diesjährige Thema für den Adventskalender las.
In dieser Woche blieben 2 Armbanduhren und ein Wecker stehen. Vielleicht doch ein Hinweis darauf, mal kurz in der besinnlichen Zeit inne zu halten und einen Rückblick zu wagen?
Seit Februar 2012 bin ich nun beruflich in Chile, dem Land, das ich vor 20 Jahren bereist hatte. Ich arbeite in Santiago als Dozentin an Deutschlands weltweit kleinsten Pädagogischen Hochschule und bin stolze Besitzerin einer chilenischen RUT (Rol Unico Tributario), einer sogenannten Seriensteuernummer, die jeder Chilene besitzt und auswendig kennt und die sich das ganze Leben lang nicht mehr verändert. Ich habe lange darauf gewartet, denn ohne den Ausweis mit dieser Nummer kann man keine Internetverbindung beantragen, keinen Handy-Vertrag abschließen und nicht mal einen Kühlschrank kaufen.
Das Land begeistert mich. Die Menschen, denen ich begegne, sind sehr freundlich und ich fühle mich wohl. Völlig neue Düfte im Frühling konnte ich hier im November genießen, die Natur ist überwältigend. Der Umgang mit Zeit allerdings ist ein wahrnehmbar anderer hier. Obwohl ich die Erfahrungen damit im südamerikanischen Bereich schon wiederholt machen konnte, wirft es mich nach einigen Jahren Aufenthalt in Deutschland doch immer wieder zurück in die feste Erwartung von Pünktlichkeit, Einhaltung vereinbarter Gesprächszeiten und Effizienz. Und genau das wird als typisch deutsch belächelt. Tja, so deutsch kann man sein, auch ich wohl.
An den Kassen im Baumarkt sind lange Schlangen, ich stehe mittendrin und meine Geduld scheint nicht besonders groß zu sein. Ich werde unruhig und schaue mit etwas düsterem Blick auf die Kassiererin, die sich deshalb oder angesichts der langen Schlange noch lange nicht anschickt, auch nur eine Spur schneller zu arbeiten. Ich schaue mich um und sehe tatsächlich keine genervten Gesichter. Man unterhält sich nett, schaut fröhlich auf die Weihnachtsdekoration. Gut, dann übe ich mich etwas in Geduld und Demut. Nimm es als Lerngeschenk, mahnt es in mir.
So beginnen auch meine Veranstaltungen. Fröhliche Studentinnen und Studenten begrüßen mich mit Wangenkuss. Viele kommen zu spät, holen zuerst ihr Handy aus ihren Taschen und legen es auf den Tisch. Andere klappen gleich ihren laptop auf. Tja, ich beginne wie üblich freundlich und relativ sachlich das Seminar mit der Bekanntgabe des Themas und der Intentionen. Es klingelt ein Handy, dann das Zweite, jemand geht mit dem Handy raus, ein anderer kommt dazu. Manche beginnen zu frühstücken, denn sie hatten eine lange Fahrt und andere schlafen aus gleichem Grund fast ein. Das war ich nicht gewohnt. Seit elf Jahren bin ich nun in der Lehrerbildung tätig und die Lehreranwärterinnen und Lehreranwärter in Deutschland sind Beamte auf Probe und haben somit quasi die Dienstpflicht, pünktlich zu sein. Ich überlege, wie ich vermitteln kann, dass ich das Verhalten, vor allem das dauernde Schauen auf den Bildschirm des Handys, als respektlos empfinde, ohne durch meine Direktheit selbst respektlos zu erscheinen. Ich bitte freundlich darum, die Handys auszuschalten und in die Taschen zu packen. Das klappt zunächst gar nicht. Das sei eben so hier und ein kultureller Unterschied, heißt es, jeder habe sein Handy permanent im Blickfeld. Ich habe ja bedingt noch Verständnis dafür, gehe auch selten ohne Handy aus dem Haus, doch während der Veranstaltungen brauche ich es doch nicht, erkläre ich den Studenten. Schon wieder klingelt ein Handy. Ich schaue wegen der Unterbrechung empört in die Runde. Es kommt aus Ihrer Tasche, grinst eine Studentin. In der Tat, ich hatte mir ein neues gekauft, kannte den Klingelton noch nicht und hatte es offensichtlich auch vergessen auszustellen. Köstliche Erheiterung in der ganzen Gruppe, auch ich muss lachen. Im Laufe des Jahres lassen die Studenten ihre Handys nur noch aus ihren Taschen brummen und summen. Ob die Bevorzugung der direkten Kommunikation etwas mit der Attraktivität meiner Veranstaltungen zu tun hat, möchte ich gerne glauben. Doch ich vermute eher, man hat sich einfach nur meines Anliegens erbarmt.
Im Restaurant neulich schaute ich mich um. Tatsächlich viele Handys lagen auf den Tischen. Ich erblickte ein Ehepaar mit ihren 2 kleinen Kindern. Die Eltern unterhielten sich miteinander, während die höchstens 3 oder 4 Jahre alten Kinder (vermutlich noch jünger) beide mit ihrem I-Pad umgingen wie die Experten. Ich war beeindruckt von so viel Medienkompetenz, aber auch gleichzeitig ziemlich sprachlos. Dass auch einige Lehrerinnen in den Schulen während einer Unterrichtsmitschau und den anschließenden Beratungsgesprächen ihre Handys auf den Tisch legten, konnte mich nicht mehr irritieren.
Die Studentinnen des letzten Studienjahres spiegelten mich in der Abschlussfeier in einem Sketch wunderbar und sehr wohlwollend in einer Parodie zu meinem Verhalten und wohl meinem Lieblingswort in der Didaktik-Veranstaltung: Transparenz im Unterricht. Schüler/innen sollen ja schließlich wissen, was sie lernen können. Anfangs wusste ich noch nicht, was ich alles lernen würde, aber meine Lernergebnisse sind vielfältig.
Nach einem langen intensiven Jahr voller neuer Erfahrungen und wunderbaren Begegnungen fuhren eine Freundin und ich am Wochenende mit dem Bus ans Meer. Nach ein und einer halben Stunde Bewegung setzten wir uns in ein Strandlokal. Wir schauten aufs Wasser. Da man Handtaschen in Chile auf keinen Fall auf den Boden stellt, auch nicht zu Hause, da sie sonst Beine bekämen, sagt man, lasse ich meine auf dem Schoß und packe reflexartig mein Handy auf den Tisch. Unter dem entsetzten Blick meiner Freundin lasse ich es schnell wieder in der Tasche verschwinden. Mein hilfloses Ich wollte doch nur kurz
schützt mich nicht mehr vor ihrem strafenden Kommentar.
Heute noch bringe ich meine Uhren zur Reparatur, oder vielleicht auch erst morgen oder übermorgen, mal sehen
.Vielleicht lasse ich mich auch absurderweise im Einkaufscenter bei 30 Grad Außentemperatur in einer riesigen Schneekugel, durch die Styroporkugeln geblasen werden, mit einem Weihnachtsmann in einer Kutsche fotografieren. Ich habe nun ja Zeit, der Urlaub beginnt. Oh du fröhliche Weihnachtszeit.
Mein Handy klingelt, ich muss los.