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Als die Psychiatrie laufen lernte

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Meine ersten Erfahrungen mit der Psychiatrie machte ich Mitte der Siebziger Jahre. Eine Freundin absolvierte ihre Ausbildung als Krankenschwester in der rheinischen Landesklinik Langenfeld. Dort holte ich sie öfter von der Arbeit ab. Auf dem Gelände bot sich dem Besucher das klassische Bild der alten Psychiatrie: schwer sedierte Menschen schlurften auf den Wegen an einem vorbei, oft in unwürdigen Outfit. Man hatte das Gefühl, auf einem anderen Stern zu sein, der nach völlig unterschiedlichen Gesetzen funktionierte.
Meine Freundin arbeitete im Rahmen ihrer Ausbildung eine Zeit lang in der gerontopsychiatrischen Abteilung. Ich erinnere mich an einen großen, gekachelten Saal, in dem eine Gruppe von alten, inkontinenten Frauen ohne jede Bekleidung auf blanken Pritschen angeschnallt lagen und gelegentlich von einem Pfleger mit einem Wasserschlauch abgespritzt wurden, um sie „sauber zu machen“. Eines Tages erdreistete sich meine Freundin, die Frauen aus den Gurten zu befreien, ihnen etwas anzuziehen und mit ihnen einen Spaziergang auf dem Gelände zu machen. Wegen dieser Eigenmächtigkeit wurde sie von ihrer Vorgesetzten übel zusammengestaucht.
An diese Geschichte musste ich denken, als ich das Interview mit Rainer Kukla und Arndt Schwendy las, das in der neuen Ausgabe der Psychosozialen Umschau erschienen ist, und in dem die Beiden von von der Umsetzung der Psychiatrie-Enquete im Bereich des Landschaftsverbandes Rheinland erzählen. Im September 2015 – also diesen Monat – wird die Psychiatrie-Enquete 40 Jahre alt. Rainer Kukla war als Soziologe enger Mitarbeiter des Vorsitzenden dieser Enquete, Caspar Kulenkampff (wo gibt es heute schon noch Soziologen in der Psychiatrie? Als ich mein Studium 1978 beendet hatte, hatte jedes Landeskrankenhaus des LVR eine Soziologenstelle!), Arnd Schwendy leitete das Presseamt des Landschaftsverbandes Rheinland. Bei der Umsetzung der Enquete ging es um nichts weniger als um die Überführung der Psychiatrie aus der Tradition der Ausgrenzung und Menschenverachtung, die sich aus der nationalsozialistischen Zeit nahtlos in die Bundesrepublik fortgesetzt hatte, in eine humanere und professionelle Gestaltung der Beziehungen mit Menschen in psychischen Notlagen.
Dabei ging es zunächst gar nicht einmal um große therapeutische Veränderungen, sondern um die Herstellung der Menschenwürde im kleinen, wie das folgende Zitat von Rainer Kukla zeigt: „Also, eine Klinik wie Düsseldorf, die war mal für sechshundert Patienten gebaut worden. Als wir da anfingen, hatten wir aber 1600 Menschen, die dort unter fürchterlichen Bedingungen auf engstem Raum lebten. Sodass versucht werden musste, erstmal ganz basale Dinge sicherzustellen. Wie überhaupt mal ein Bett mit einem Nachttisch oder einen eigenen Kamm für einen Patienten. Sie können sich vorstellen, der Begriff des Stationskamms deutet auf was hin, nämlich, dass es nicht der einzelne Patient war, dem der Kamm gehörte, sondern da wurde die ganze Station mit versorgt. Oder die Zahnbürsten! Ich werde nie vergessen, wie in den ersten sozialpsychiatrischen Fortbildungen die Dozentin Praxisbesuche in den Kliniken machte und einer ihrer Schüler dann ganz stolz zeigte, dass auf der gerontopsychiatrischen Station jetzt jede der alten Damen eine eigene Zahnbürste hatte. Und das demonstrierte er, indem er sich vor dem Badezimmer aufbaute und die Damen dann alle an ihm vorbeigingen, wie ‘ne Prozession, alle die Zahnbürste in Vorhalte, und dann wurde da mit der Tube so quack, quack, quack, Zahnpasta drauf gepackt. Da war dann der nächste Lernschritt nicht nur ‘ne eigene Zahnbürste, sondern auch ‘ne eigene Zahnpasta zu besitzen“.
Gott sei Dank gehören solche Zustände der Vergangenheit an. Als Supervisor bin ich in der Regel mehrmals in der Woche auf einer psychiatrischen Station tätig und freue mich, mit engagierten und interessierten ÄrztInnnen, PsychologInnen und Pflegekräften zusammenarbeiten zu können, die sich für ihre Patienten einsetzen und daran arbeiten, ihre eigenen Kompetenzen zu erweitern. Dennoch ist die Situation in den psychiatrischen Kliniken immer weniger ein Grund zur Freude.
Gab es in den siebziger Jahren bei den Professionellen eine kleine, aber initiative und engagierte Gruppe von Menschen, die eine neue Psychiatrie gestalten wollten (von denen viele jetzt in Rente gehen oder schon gegangen sind), aber auch viele, denen es an Motivation oder auch einfach ein Wissen fehlte, ist die Situation heute in den Kliniken eine andere: Es gibt viele ärztliche, therapeutische und pflegerische Kolleginnen und Kollegen, die über ein großes Fachwissen und eine hohe Motivation verfügen, um therapeutisch mit Menschen in extremen Notsituationen zu arbeiten, und die an den Arbeitsbedingungen verzweifeln, unter denen sie ihre Fähigkeiten überhaupt nicht mehr einsetzen können. Spielte in der „lost world“ der Nachkriegspsychiatrie Zeit überhaupt keine Rolle (und wurde daher auch überhaupt nicht als Limitation oder Ressource eingesetzt), ist heute im Gegenteil überhaupt keine Zeit mehr vorhanden, die einen therapeutischer Entwicklungsprozess überhaupt erst ermöglicht. Zeit ist Geld, und Geld ist die zentrale Steuerungsgröße für das Management einer psychiatrischen Klinik geworden – bei Strafe des Untergangs der Organisation im Falle der Nichtbeachtung. Die gnadenlose Ökonomisierung der Psychiatrie, Personalbelastung und -einsparung bis an die Grenzen des Erträglichen und die fehlende Einsicht von Entscheidern im Gesundheitssystem in die Notwendigkeit von zeitlichen und fachlichen Ressourcen führen dazu, dass die Versorgung von Patienten in der Psychiatrie in der Regel weit unter dem bleibt, was wünschenswert und therapeutisch wie fachlich möglich wäre. Zitat aus einer Stations-Supervision mit einem Team, dass bei dauerhafter Stations-Überbelegung chronisch unterbesetzt arbeiten musste: „Das einzige Gespräch, dass der Patient in seinem sechswöchigen Aufenthalt auf dieser Station bekommen hat, war das Aufnahmegespräch!“. Der Rest waren Medikamente und pflegerischer Zuspruch. Dem Team war kein Vorwurf zu machen.
Vierzig Jahre nach Veröffentlichung der Psychiatrie-Enquete ist die Kritik an der Psychiatrie weit gehend verstummt. Die Sozialpsychiatrie hat keine nennenswerten Vertreter mehr. Rainer Kukla: „Was auch (noch) nicht gelungen ist, ist eine den wirklichen Bedürfnissen von psychisch Kranken angemessene Finanzierung zu erreichen. Und ich würde mir wünschen, dass die Psychiatrie wieder etwas kritischer wird. Ich habe so das Gefühl, sie hat sich wieder sehr stark der biologischen Psychiatrie zugewandt. Es gibt kaum noch Lehrstühle für Sozialpsychiatrie in Deutschland. Die Psychiatrie selber versucht sehr stark die körperlichen oder die biologischen Aspekte in den Griff zu kriegen. Ob das je gelingt, weiß keiner. Ich bin da eher skeptisch. Und was die Träger angeht, habe ich immer das Gefühl, da ist Reform eigentlich kein besonderes Thema, da wird verwaltet, da wird irgendwelchen Qualitätsmanagementzertifikaten hinterher gelaufen, ohne da zu fragen, ob das wirklich Qualität bringt – und solche Dinge. Ich hab da eher den Eindruck: Das ist eine Phase, durch die man durch muss, und irgendwann wird eine jüngere Generation kommen und sagen: Halt mal, so kann das doch auf Dauer nicht weitergehen“.
Das Interview ist nicht nur für diejenigen lesenswert, die sich noch an die Zustände der 70er Jahre erinnern können, sondern auch für alle Professionellen in diesem Feld, die damals noch gar nicht geboren waren. Vielleicht ermutigt es ein bisschen, auch in der heutigen Situation nicht alles als gegeben hinzunehmen. Das Interview kann kostenlos auf der website des Psychiatrie-Verlages heruntergeladen werden (die Seite ist nicht besonders gut programmiert, man muss ein bisschen herumfummeln, bis man den Download-Link findet), und zwar hier…

3 Kommentare

  1. Lieber Tom,
    die Kooperation von Soziologen mit der Psychiatrie wurde möglich durch die Aufgeschlossenheit von Kulenkampff und das Interesse meines Vaters René König (1906-1992) an medizinsoziologischen Themen. Nachlesen kann man das in einem Schwerpunktheft der KZfSS: Schmalfuß, Axel, und Michael Wilken (Hg.), Psychiatrische Soziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 2, Jg. 25, 1973, S. 229-298. Nach dem Weggang von Kuhlenkampff ging diese Kooperation meines Wissens schon bald zu Ende.
    Über die heutigen Versorgungsbedingungen, insbesondere der Gruppenpsychotherapie, haben sich Dankwart Mattke, Ulrich Streeck und ich versucht einige Gedanken zu machen in einer gerade herausgekommenen Publikation ‚“Praxis stationärer und teilstationärer Gruppen“, Klett Cotta 2015.
    Beste Grüße
    von Oliver

  2. Markus Mall sagt:

    Entschuldigung – mit Suchen meinte ich in einer Suchmaschine mit dem genannten Eintrag suchen.

  3. Markus Mall sagt:

    Der Download gelingt relativ schnell, wenn man nach „Rainer Kukla und Arnd Schwendy über vierzig Jahre Psychiatrie-Enquete“ sucht; unter den ersten Einträgen befindet sich dann der Link zur PDF-Datei.

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