Kürzlich war ich mal wieder auf der Suche nach neuen Genüssen in Sachen Wein und wollte wissen, wie die neuen Weine schmecken. Schmecken etwas, was jeder Mensch kennt, jeder unweigerlich tut, unter halbwegs normalen Umstanden sogar mehrmals täglich. Und nicht nur, was den Geschmack von Wein betrifft. Wir wissen nämlich, dass Tomaten den Geschmack von Tomaten haben, Milch den Geschmack von Milch, Gurken den Geschmack von Gurken. Das alles kennt man glaubt man. Aber was ist der Geschmack von Wein?
Mir fällt also auf der Suche nach Wein ein Katalog eines Weinhandels in die Hände. Und was lese ich da über die Weine? Manche duften nach Kirschen, Brombeeren und haben den Geschmack von Marzipan, frischen Mandeln, von Weichselkirschen, Vanille, Süßholz usw. So steht es da. Und das muss wohl stimmen. Immerhin haben sich Experten mit dem Geschmack des Weins beschäftigt.
Ich bestelle also verschiedene Weine und probiere. Ich lese die Beschreibung, koste und stelle fest, dass ich genau das schmecke, was ich über den Wein gelesen habe: Pflaumen, Rosinen, dunkle Beerenfrüchte und, mit etwas Mühe: Datteln.
Dann probiere ich einen anderen Wein im Vergleich. Leider habe ich vergessen, vorher die Beschreibung des Weins zu lesen. Ist auch egal, denke ich. Schmecken kann ja jeder. Ich trinke und schmecke Schokolade, entdecke Brombeernoten und eine Anspielung an Leder. Nicht schlecht, denke ich, aber dieser Wein kann noch etwas lagern.
Da fällt mir ein, dass ich ja mal überprüfen könnte, ob ich den Geschmack richtig erkannt und alle Geschmacksnuancen wahrgenommen habe. Ich hole mir die Beschreibung der Experten und lese: Der Duft hat neben seiner feinen Frucht von Kirschen und Brombeeren auch sehr attraktive Noten von Kirschkompott oder Konfitüre zu bieten, durch das sich eine feine Spur von Pfeffer und roter Paprika zieht. Der Wein ist trinkreif.
Donnerwetter! Was nun? Schmecke ich unzureichend, vielleicht etwas dumpf und kann ich deshalb den Geschmack des Weins nicht feststellen? Schmecken die Experten falsch? Schmeckt der Wein mal so, mal so? Und wieder die Frage: Was ist der Geschmack des Weins?
Da kommt mir der Gedanke, dass Schmecken und Geschmack zwei durchaus unterschiedliche Phänomene sein könnten. Sie vielleicht ein Verhältnis zueinander haben wie der japanische Autor Haruki Murakami in seinem Buch Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede über die Beziehung von Schmerz und Leiden schreibt: Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist eine Option. (S. 8) Also: Geschmack ist unvermeidlich. Schmecken ist eine Option? Hat man denn noch nicht einmal beim Weintrinken in seiner Freizeit Ruhe vor den Tücken des konstruktivistischen Denkens?
Ich recherchiere also im Internet. Und tatsächlich finde ich eine Seite, auf der sich Autorinnen und Autoren mit dem Phänomen des Weinschmeckens, nicht etwa des Weingeschmacks beschäftigen. Die Weinprobe findet im Kopf des Konsumenten statt lese ich da und erfahre, einiges über die Bedeutung des Riechens beim Schmecken, über die Geschmackszonen meiner Zunge und über neurophysiologische Zusammenhänge beim Schmecken.
Und als ob ich nicht schon genug bei meiner Wahrheitssuche über den Geschmack eines Weins verunsichert worden wäre, muss ich auch noch den Einfluss emotionaler Prozesse und den Bedeutungszuschreibungen, die aus spezifischen Narrationen über Weine resultieren, erkennen. Menschen könnten, so steht es da, Geschmack nicht objektiv wahrnehmen. Das alles kommt mir doch irgendwie bekannt vor.
Als Krönung werden verschiedene Experimente mit professionellen Verkostern geschildert, von denen mir eines besonders gut gefiel: Die Önologen sollten einen Weißwein und einen Rotwein blind verkosten, d.h. es wurden keine näheren Angaben zu den Weinen gemacht. In Wirklichkeit enthielten beide Flaschen denselben Weißwein, wovon eine Probe mit geschmackloser Lebensmittelfarbe rot eingefärbt worden war. Dennoch schrieben die Önologen dem Weißwein typische Weißwein- und dem angeblichen Rotwein Rotweinaromen zu.
Übrigens: Mir haben beide Weine (und die anderen bestellten Exemplare auch) sehr gut geschmeckt nach was auch immer. Vielleicht sollten wir Weinproben in der Ausbildung berücksichtigen. Zur Verdeutlichung der radikalkonstruktivistischen Perspektive versteht sich.
Wer sich mit diesen und anderen Experimenten oder mit dem Thema Schmecken und Geschmack näher beschäftigen will – hier gibt es einen Beitrag im Ärzteblatt – und hier noch einen – und einen Beitrag in wikipedia zum Stichwort Geschmack.
Alles Geschmackssache?
3. September 2008 | Keine Kommentare