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systemagazin Adventskalender – Der Fuchs ist schlau …

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Johannes Herwig-Lempp, Halle/Merseburg:

Für mich ist die Wende eines der großartigsten Ereignisse, die in meinem Leben passiert sind: Der Fall der Mauer wurde durch die Einsatzbereitschaft, die Ausdauer und vor allem auch den Mut zehntausender demonstrierender Menschen bewirkt, die diese durchschlagende Wirkung so gar nicht unbedingt beabsichtigt oder erwartet hatten. Sie wollten eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und lehnten sich gewaltlos gegen ein System auf, obwohl dies übermächtig und eigentlich unbeeinflussbar schien. Auch im Rest der Welt hätte man sich noch wenige Monate vorher eine solche Wende nicht vorstellen können. Für mich war und ist das ein eindrückliches Lehrstück dafür, dass Menschen unvorstellbare Veränderungen bewirken können und dass es sich lohnen kann, sich auch dann zu engagieren und einzusetzen, wenn es eigentlich aussichtslos erscheint.

Als ich 1998 an die Hochschule Merseburg kam, war ich neugierig darauf, noch ein bisschen was von der Nach-Wende-Zeit mitzubekommen. Natürlich war ich ein Wende-Gewinner – ich hatte Glück und konnte eine Professur erhalten, für die es damals keine geeigneten ostdeutschen KandidatInnen gab, weil in der DDR keine SozialarbeiterInnen ausgebildet worden waren. So kamen nur Westdeutsche für diese Stelle in Frage.

Ich kam aus dem reichen Südwesten in einen deutlich ärmeren Teil Deutschlands, aber die Menschen waren nicht grundsätzlich anders als in anderen Teilen unseres Landes oder der Welt auch: meistens freundlich, oft neutral, manche vorsichtig, einige ablehnend – alles nicht ungewöhnlich. (Allerdings habe ich auch eher nach Gemeinsamkeiten statt nach Unterschieden gesucht). Meistens erstaunlich freundlich, obwohl es hinreichend Gründe gegeben hätte für Vorbehalte gegen uns aus dem Westen. Nicht nur, dass viele von uns die begehrteren Stellen bekamen und überhaupt alle von uns Arbeit hatten, bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit in der Region. Wir führten uns auch manchmal ziemlich gedankenlos als „Besserwessis“ auf. So erzählten mir (ein gar nicht so untypisches Beispiel) StudentInnen durchaus verunsichert, dass eine Kollegin sie aufgefordert hätte, nicht mehr „Mutti“ zu sagen, das wäre zu provinziell und „typisch ostdeutsch“. Generell waren wir aus dem Westen uns vermutlich oft genug einfach zu sicher (und sind es vielleicht manchmal immer noch), dass wir „schon weiter“ waren und es deshalb besser wussten als die Menschen hier: „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist es anders rum.“ Immerhin hatte man hier inzwischen genügend Erfahrungen mit uns aus den „alten Bundesländern“, um sich diesen Reim drauf zu machen. 

Umgekehrt war und ist dem nicht unbedingt so – viele FreundInnen, Bekannte und KollegInnen aus dem Westen der Republik konnten und können mir die Situation in den Neuen Ländern und „die Ostdeutschen“ sehr gut erklären, obwohl sie selten oder nie hier waren. Inzwischen bin ich ziemlich empfindlich für die unterschwellige Diskriminierung, die häufig bereits dann geschieht, wenn die Rede auf die Unterschiede von „Ost und West“ kommt, man sie hervorhebt und glaubt, die Abweichungen „ostdeutscher Phänomene“ erklären zu können (während die westdeutschen als „normal“ erlebt werden und deshalb keiner Erklärungen bedürfen). „Diskriminieren“ kommt aus dem Lateinischen und heißt ja zunächst einmal nicht mehr als „trennen, scheiden, unterscheiden“. Bevor man etwas trennt, muss man unterscheiden, einen Unterschied machen. Für mich als Systemiker „existieren“ Unterschiede nicht einfach, sie beginnen sich erst dann zu verwirklichen, wenn sie von jemandem fest-gestellt werden, d.h. wenn es jemand für wichtig hält, diese Unterschiede zu thematisieren. Und je länger wir auf diesen ganz bestimmten Unterschieden bestehen, desto „wirklicher“ erscheinen sie uns dann auch.

Inzwischen kann ich mich sowohl als Ost- als auch als Westdeutscher fühlen – es gefällt mir, dass mir beides möglich ist (und dass mir darüber hinaus natürlich noch eine ganze Vielzahl weiterer Identitäten zur Verfügung stehen, zwischen denen ich wechseln kann, und dass die Ost-West-Einteilung für mich meistens keine Rolle spielt). Nicht immer ist mir selbst bewusst, wo ich mich gerade sehe. Manchmal ist das für andere schneller zu erkennen. So erinnere ich mich daran, wie ich einmal – die Wende lag bereits über zehn Jahre zurück – interessiert war, von einer Gruppe von SozialarbeiterInnen zu erfahren: „Sagt mal, wie ist das eigentlich so bei euch hier in der DDR in Bezug auf…?“. Freundlicherweise haben sie einfach gelacht.

Erstaunlich eigentlich, dass wir (auch ich) 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch mit den Unterschieden zwischen Ost und West beschäftigt sind. Es gäbe noch so viele andere mögliche Trennlinien und Themen.

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