systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

13. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 13. Rudolf Klein (Text) und Barbara Schmidt-Keller (Foto)

Nachdenkliches

„Eigentlich“ wollte ich etwas Lockeres, Witziges, Leichtes schreiben. Ging aber nicht. Vielleicht trage ich mit meinem diesjährigen ernsten Beitrag zum Adventskalender sogar Eulen nach Athen. Wer weiß? 

Mir scheint, dass seit geraumer Zeit eine Art Vervielfachung individueller Identitätsentwürfe beobachtet werden kann, die durch ein auf Profitmaximierung und Wohlstandserhalt getrimmtes, sich stetig beschleunigendes und neoliberales Wirtschaftssystem angetrieben wird. 

Man könnte sie als Identitätsprojekte beschreiben, die mit einer um sich greifenden eindimensionalen Freiheitsvorstellung und einer zunehmend moralisch unterlegten Empörungskultur inklusive Selbstüberzeugungs-, Wahrheits-, Durchsetzungs- und Rücksichtsnahmeansprüchen agieren. 

Gleichzeitig kursieren zunehmend Vereinfachungen komplexer Zusammenhänge durch Hinwendung an eindeutige Weltinterpretationen, die angesichts einer krisenanfälligen Weltlage, einer Welt, in der Kriege und Flüchtlingselend nun auch in unser Blickfeld geraten, sich Klimakatastrophen bemerkbar machen, deren Dimensionen menschliche Fähigkeiten erheblich zu überfordern scheinen. Ein Nährboden, auf dem Trumps, Orbans, Netanjahus, Putins, Xi Jinpings, Musks u.a. wunderbar gedeihen können.  

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12. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 12. Johannes Herwig-Lempp

Unterschiede, die keinen Unterschied machen

„Wir sind alle anders. Wir sind alle gleich“ war das Motto des Berliner Christopher-Street-Days 2015. Also was jetzt wirklich: alle anders oder alle gleich? Oder doch beides?

SystemikerInnen zitieren überaus gern immer mal wieder den (Halb-)Satz, „Unterschiede, die einen Unterschied machen“. Dabei können Unterschiede überhaupt keine Unterschiede machen, das müssen dann schon wir Menschen übernehmen. Denn Unterschiede sind (darüber besteht sicherlich – trotz unterschiedlicher Ansichten – eine gewisse Einigkeit) keine Subjekte, also keine handelnde Akteure – folglich können sie auch nichts „machen“. 

Unterschiede sind wie Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten – sie existieren nicht “wirklich“, und für sich allein genommen gibt es sie nicht. Sie brauchen echte Menschen, um überhaupt erstmal festgestellt zu werden. Es ist wie mit dem Baum im Wald, den niemand fallen hört – und bei dem wir zwar glauben, dass er ein Geräusch dabei macht, uns aber nicht sicher sein können: denn ist ein Geräusch wirklich existent, wenn es nicht von jemandem gehört, beobachtet, wahrgenommen wird? Und gibt es Unterschiede (oder Gemeinsamkeiten), wenn niemand sie sieht und bemerkt?

Nehmen Sie zwei beliebige Menschen, stellen Sie sie nebeneinander – und überlegen Sie, ob sie „gleich“ oder „anders“ sind: Sie werden genau das finden, wonach Sie suchen. Sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten (oder Ähnlichkeiten) „bestehen“ nie für sich alleine: erst die Beobachtung durch jemanden lässt sie Wirklichkeit werden – und auch nur für diejenigen, die sie bemerken. 

„Äpfel und Birnen kann man nicht vergleichen“ – wenn man dies feststellt, hat man sie bereits verglichen, sonst wäre diese Feststellung gar nicht möglich[1]. Und selbstverständlich kann und darf man alles und jedes miteinander vergleichen. Wer vergleicht, kann Unterschiede beobachten oder auch Gemeinsamkeiten, je nachdem, worauf sie/er achtet, welche Kriterien er dabei anlegt und welche Bedeutung er diesen gibt. 

So wenig wie es „Unterschiede, die einen Unterschiede machen“ gibt – so wenig gibt es „das Muster, das verbindet“ (Gregory Bateson). Auch hier wird wieder dieser Halbsatz nur sinnvoll, wenn man großzügig vernachlässigt, dass es Subjekte (also Menschen) braucht, die diese Muster „entdecken“, feststellen, behaupten, benennen. Bevor jemand sie konstatiert, existieren sie nicht – und welche Muster entdeckt, für wesentlich befunden und für wichtig bewertet werden, hängt von denjenigen ab, die diese Muster feststellen wollen. In dem Moment, wo wir dies berücksichtigen (wollen), kommt wieder die Verantwortung ins Spiel. Diejenigen, die die Unterschiede und Muster benennen, sind auch verantwortlich für diese Benennungen – denn sie wären auch anders möglich, es wären auch andere Beschreibungen, Beobachtungen und Benennungen möglich. 

Wenn die Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Muster ohne uns nicht existieren können, dann sind wir für sie verantwortlich: wir könnten ja auch anders hingucken und dadurch etwas anderes sehen. Damit liegt die Verantwortung bei uns. Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld haben dies prägnant auf den Punkt gebracht: „Objektivität ist die Selbsttäuschung eines Subjekts, dass es Beobachten ohne ein Subjekt geben könnte. Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung – daher auch ihre Beliebtheit.“

All dies bedeutet für mich immer wieder: ich bin ich selbst verantwortlich für das, was ich sehe – selbst dann, wenn ich mir dessen nicht bewusst bin. Andererseits ist diese Ansicht keineswegs zwingend: Andere können das genauso gut ja auch ganz anders sehen. 


[1] Vergleiche [!] auch den Artikel „Forscher haben erstmals Äpfel mit Birnen verglichen“ in: Der Postillon vom 11. Mai 2017

Johannes Herwig-Lempp, Halle/Saale

11. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 11. Sabine Klar

Momente und Zwischenräume

Ist das, was uns gegen die Resignation helfen kann – angesichts der dummen und von der eigenen Macht und Gier selbstvernarrten, vielgesichtigen Zerstörung – wirklich nur der naive Kinderglaube? 

Ja, vielleicht gibt es keinen Erlöser, der uns rettet oder richtet, je nachdem.

Aber es gibt erlösende und befreiende Momente zwischen Menschen und in Menschen – gerade auch in der therapeutischen Arbeit. 

Es gibt das Dasein mit dem, was gerade da ist und sich auftut. 

Und die Freude daran.

Nachbemerkung:

Eigentlich wollte ich es diesmal bei dieser Knappheit belassen. Die eigene Positionierung gegenüber dem, was mich hinunterzieht, kommt mit wenig Worten aus. Doch auf Aufforderung fette ich es nun ein wenig auf. 

Ich hab trotz allem diese Kindhoffnung in mir, die immer noch glaubt, dass alles gut wird und einen Sinn hat. Sie ist ein Schatz, lenkt aber auch ab – von dem was gerade unausweichlich zerstörerisch Macht bekommt und von dem Kostbaren, das dabei den Bach runtergeht. Manchmal denke ich, dass ich Verzweifelte in ihrer zunehmend hoffnungslosen Welt bloß missverstehen kann und alleinlasse.

Und dann treffe ich in der Therapie auf Menschen, die sich in ihren niederdrückenden und quälenden Lebenslagen aufrichten und sich die Freiheit nehmen, an der eigenen Hand tastend hindurchzutappen. Oft gibt es gar kein endgültiges Entrinnen, sondern nur Momente und Zwischenräume, in denen es möglich wird, aufzuatmen und sich und andere leben zu lassen.

Dabei darf ich sie dann begleiten und dafür bin ich dankbar.

Sabine Klar, Wien

10. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 10. Luc Ciompi

Gemeinsames statt Trennendes

Verunsicherung, Zukunftsangst und Pessimismus nehmen [angesichts der Kriege, der Klimakrise und der Sorge vor den unabsehbaren Folgen der Künstlichen Intelligenz] überhand, vom seinerzeitigen Fortschrittsglauben ist kaum noch etwas zu spüren, und manche Zeitgenossen denken sogar, der ,Weltuntergang’ stehe kurz bevor. Und dennoch: Auf dem Hintergrund [meiner] stark evolutionär verwurzelten Überlegungen ist alles aktuelle Gerede von einer ,Zerstörung der Natur’ und einem kurzfristigen ,Untergang der Menschheit’ blanker Unsinn. Die Natur kann man nicht zerstören, sondern höchstens punktuell verstören. Und die Menschheit hat, neben endlosen Eiszeiten, auch schon weit extremere Hitzeperioden und andere schlimmste Zeiten überstanden, denken wir nur an die zwei grausigen Weltkriege des letzten Jahrhunderts, an den vielleicht noch viel grausigeren dreißigjährigen Krieg und an die großen Pestepidemien des Mittelalters, die periodisch bis zu zwei Drittel der Bevölkerung dahinrafften. Freilich, Katastrophen aller Art wird es zweifellos noch und noch geben, und vielleicht noch weit schlimmere, als wir uns heute auszumalen vermögen. Um einen zynischen Gedanken nicht zu unterdrücken: Möglicherweise wird die weise „Natur der Dinge” die zu meiner Lebenszeit von knapp drei auf über acht Milliarden angeschwollene Weltbevölkerung – nach vielen Experten die „Mutter aller aktuellen Probleme” – wieder einmal um die Hälfte oder mehr dezimieren müssen … 

(Luc Ciompi 2024, Foto: Tom Levold)


Aber es gibt ja keineswegs bloß lauter Hass- und Kriegsherde in unserer Welt, obwohl fast nur von diesen die Rede ist, sondern es gibt, genauer besehen, wahrscheinlich mindestens ebenso viele oder noch viel mehr kleine und große Friedens- und Liebesherde, die unbeachtet bleiben. Einen Beitrag zur Minderung von Hass und Unfrieden könnte auch die Fokussierung auf Gemeinsames statt Trennendes leisten, die meinen Überlegungen zugrunde liegt. Deren wichtigste praktische Konsequenz aber ist zweifellos, dass wir umfassend selbst verantwortlich sind: verantwortlich für unsere Umwelt, für unser Alltagsverhalten und vor allem für unsere Wertehierarchien (= unsere ,Götter’): Geld und Macht oder ,Dienen’, meine persönlichen ,legitimen Interessen’ und Rechte (wie etwa in der Covidkrise) auf Kosten der Gemeinschaft, Eigenwohl versus Gemeinwohl (zwei weitere Polaritäten, zwischen denen es ein sinnvolles Gleichgewicht zu finden gilt).

(aus Geist und Materie, Gott und die Welt – ein verborgener Gesamtzusammenhang, Carl-Auer 2024)

Luc Ciompi, Belmont-sur-Lausanne

9. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 9. Jan Bleckwedel

In jedem Ende wohnt ein Schrecken und ein Zauber, der ein Anfang sein könnte 

Die Erde ächzte und in den Welten war, unter all der Erregung, die sich wie Kirmeslärm ausbreitete, eine große Erschöpfung spürbar. Draußen triumphierten die durchgeknallten, die cleveren und die bösen Clowns. Wir sind OPFER, brüllten sie in die Mikrofone und versprachen wider alle Vernunft nicht nur das Blaue vom Himmel sondern ERLÖSUNG von allem Übel und BEFREIUNG. Dabei zeigten sie mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Andersartigen, die bösen Mächte, die immer an allem schuld sind, nur wir nicht. Fasziniert von der Wildheit, der Verrücktheit und der entfesselten Zügellosigkeit der Clowns jubelten die Menschen ihnen zu. Aus Enttäuschung und Empörung über die nicht eingehaltenen Versprechungen der Moderne, aus Angst vor einer ungewissen Zukunft, aus Verzweiflung und Hilflosigkeit und der kindlichen Sehnsucht nach irgendeiner einer einfachen Wahrheit, an der man sich im rasenden Wandel wenigstens festhalten kann, aus Neid und Ressentiment oder purer Raffgier oder Karrieresucht und einige, um selbst der Boshaftigkeit und Niedertracht freien Lauf lassen zu können, die in uns allen steckt.

Für Erlöser, Gurus, Heiler und Gesundbeter aller Art begann eine goldene Zeit. Sie beherrschten alle Märkte und drangen mit ihren Botschaften in alle Nischen. Sie generierten jede Menge Follower, und es wurde schwer, einigermaßen seriöse Helfer von Scharlatanen zu unterscheiden. Glück und Zufriedenheit wurden zur wohlfeilen Ware. Es geht dir nicht gut du bist erschöpft und deprimiert du verdienst zu wenig Geld und bekommst zu wenig Anerkennung dein Partner vergiftet dich oder hat dich verlassen zu wenig oder zu viel oder zu verwirrter Sex deine Eltern sind ätzend und du fühlst dich alleine deine Freunde wollen nicht wissen, wer du wirklich bist, Jesus kommt nicht vorbei, die Revolution findet nicht statt und die Welt geht auch gerade zum Teufel – DON’T WORRY, COME TO MY OFFICE. Mir ging es ja auch mal so, aber ich habe einen Weg gefunden und ICH werde dir zeigen, wie du deine ganz eigene INNERE KRAFT entdecken kannst, um trotz alledem eine GUTE FIGUR zu machen und GLÜCKLICH ZU SEIN. Diese Kräfte liegen in JEDEM von uns, manchmal tief verborgen, aber ich zeige dir einen EINFACHEN WEG, Schritt für Schritt, Tool für Tool, wie du sie wieder entdecken kannst, deine innere Kraft, mit der du ganz UNABHÄNGIG VON ALLEM ein glückliches und zufriedenes Leben gestalten kannst, denn nur du allein, du ganz allein bist der Architekt deines Glückes und der Konstrukteur deiner Welt. 

Diejenigen, die noch ganz bei Trost waren und sich an die Fakten hielten, erschraken und verloren den Glauben an Kant. Einmal, es waren nicht viele, saßen sie zur Adventszeit in kleiner Runde bei Kerzenschein, ein paar Keksen und Wein ratlos zusammen. Auf was warten wir eigentlich, fragte jemand. Auf ein Wunder? Angenommen, morgen… sagte jemand, wurde aber sofort unterbrochen. Heute bitte keine Kalender-Sprüche!! Längeres Schweigen. Die Sache ist doch die…, sagte jemand, wurde aber ebenso rüde unterbrochen: Verstanden haben wir es schon genug, verstehste, bemerkte jemand schroff. Man müsste etwas tun, sagte jemand und eine Pause entstand. Aber dazu müssten wir erst mal wissen, was wir tun können, und dazu brauchen wir eine Idee, die wir vielleicht so vorher noch nicht hatten, sagte jemand anderes. Stell dir vor, wir machen nicht immer mehr dasselbe…prustete jemand los, der Glühwein tat seine Wirkung, alle lachten und es wurde still in der Runde. Eigentlich ist es jetzt wie bei jedem Anfang, sagt jemand nach einer Weile, eine kleine Gruppe teilt Nahrung und Bedeutung miteinander, es gibt viele Fragen und kaum Antworten, man könnte vielleicht etwas zusammen unternehmen, weiß aber noch nicht genau was und wie…Der Kreis erwachte erneut, alle erzählten von irgendwelchen Anfängen, die sie früher mal erlebt hatten, und Lebendigkeit erfüllte den Raum. Jemand, der schon ziemlich betrunken war, sagte plötzlich: Scheiß drauf, an Erlöser oder erlösende Ideen glaube ich schon länger nicht mehr, vielleicht sollten wir uns von der Idee der Erlösung verabschieden. Das könnte immerhin ein neuer Anfang sein, sagte jemand. Und an was glauben wir dann, fragte ein anderer, Nihilismus ist auch keine Lösung – und da brach jemand in Tränen aus, einige versuchten zu trösten, aber dann sagte die Person, sie weine, weil es so schön sei, so habe sie sich Weihnachten immer vorgestellt, kein Geschenkdruck, Gespräche, Verbundenheit. Nobody is perfect, sagte jemand, die Farbe Lila, flüsterte jemand anderes. Die Runde trat jetzt in eine Phase ein, in der die Kommunikation, dem Alkohol und der späten Stunde geschuldet, nicht mehr allzu kohärent verlief und später niemand mehr so genau wusste, wer eigentlich was gesagt hatte. Irgendjemand erwähnte einen Film, in dem eine Frau zu einem Mann sagt, es gäbe viele Arten in einem Desaster zu leben. Darauf konnten sich dann die meisten einigen.

Draußen war der Himmel klar, aber es war zu warm für die Jahreszeit und es würde keinen Schnee mehr geben.

Jan Bleckwedel, Bremen

8. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 8. Katrin Bärhold

Mit der Aufforderung zum diesjährigen Adventskalender war ich sehr froh, dass es einen gibt, wo doch alles zu bröckeln scheint. Verständlich, dass dann Unlust dahinter rumbrüllt. In meiner täglichen Arbeit merke ich, dass es das manchmal dolle tut. Von fast allen diesen Hilfesuchenden nehme ich die Verunsicherung wahr, die zu steigen scheint, in den Focus rutscht. Ich könnte jetzt die Flinte ins Korn schmeissen, wäre ich nicht Systemikerin und des Reframens mächtig. Damit fühle ich mich durchaus von Zeit zu Zeit ein Schrittchen woanders. Und ich habe qua Alter schon gelernt, dass alles wiederkommt, tatsächlich auch das Gute. Und wenn ich genau hinschaue, könnte auch das Weglassen jedweder Medien helfen. Wenn niemand beachtet, was geltungsheischend getönt wird, was würde dann gehört werden können? 

Immer wieder mal

das Gute ging auf Reisen
verschwand uns aus dem Blick
es wollt sich was beweisen
des Nachbars Gras schien dick

das Gute hatte gerochen
Schönheit in fernen Ecken
ein Lump kam vorgekrochen
nun Alles zu verdrecken

ein Weilchen war vergangen
mit Wundern aus dem Schrank
der Dreck, er wurde dicker
durch Dummheit und nen Trank.

danach kam eine Karte
geschrieben und verschickt
mit Grüssen aus der Sparte
„Es ist uns nicht geglückt!“

der Dreck! oh Glück oh Hilfe!!
was haben wir getan
wir haben viel gesoffen
ganz kurz wars scheinbar warm

das Gute kommt zurück
egal wo‘s grade war
Ich schenke dir ein Stück 
hab‘s schon auf dem Radar

Von unterwegs gesendet

K. Bärhold, Kiel/Heikendorf

www.seelenheilen.net

7. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 7. Gunthard Weber

Fatoumata zum Beispiel

Bevor Fatoumata Samaké im Oktober 2004 zusammen mit ihrer Schwester Djéneba von ihrer Tante in das neugegründete Wohnheim Jigiya Bon für Mädchen in Not in Bamako, der Hauptstadt Malis gebracht wurde – sie war damals 8 Jahre alt, ihre Schwester 12 – war viel passiert. Zwei ihrer Geschwister waren gestorben und beide Eltern starben im Jahr davor. Beide meinten ein großer grüner Frosch, der im Dorf lebte, hätte die Eltern umgebracht. Zutreffender war es wohl AIDS, dass die Eltern dahinraffte. Sie kamen zu einer liebevollen Tante, der Bruder zu einer weit entfernt lebenden Großmutter. Der Mann der Tante trennte sich bald von ihr. Dann konnte diese ihre vier Söhne, Djénéba und Fatoumata nicht mehr ernähren und schon gar nicht mehr zur Schule schicken, weil sie auch das Schulgeld nicht mehr aufbringen konnte. Andere Verwandte, die die Beiden hätten aufnehmen können, gab es nicht. Die Tante erfuhr von Jigiya Bon und brachte sie dorthin. Bald darauf starb auch die Tante. So blieb den Mädchen das Schicksal vieler Mädchen, die in Mali Waisen werden, erspart: die Verheiratung mit älteren Männer, als Hausangestellte ausgebeutet zu werden oder gar Prostituierte zu werden.

Die Schwester gehörten damals zu den ersten sechs Mädchen des neu gegründeten Internats. Bald waren es dann 40 Mädchen, heute 60, die dort wie in einer multiethnischen und multireligiösen Oase liebevoll versorgt leben, zur Schule gehen und eine Ausbildung absolvieren. Zurzeit studieren sogar 21 der jungen Frauen und leben dort in einem Extrastockwerk. 

Fatoumata war das jüngste und das kleinste der Mädchen, klug in der Schule, an Gemeinschaft interessiert und vital. Wenn ich in Mali war, sah ich ihr gerne zu, wenn sie fröhlich und beinah wild am Tanz- oder Trommelunterricht teilnahm, wenn sie den Innenhof fegte oder Gemüsebeete goss. In Mali ist es üblich, bei Verlusten Trauer nur ein bis zwei Tage zu zeigen, innerhalb derer die Toten auch beerdigt werden. Mit den beiden Schwestern hatte ich später ein berührendes Gespräch über die Verluste in ihrer Familie, in dem die ganze Traurigkeit aus ihnen herausbrach. 

Fatoumata absolvierte die Schule bis zum neunten Schuljahr mit Leichtigkeit und absolvierte dann eine vier-jährige Ausbildung in Kommunikationswissenschaften so erfolgreich, dass das Erziehungsministerium ihr ein Studium ermöglichte. Sie verließ die Universität als IT-Ingenieurin. Ihre Schwester wurde Lehrerin.

2019 vermittelte ich Fatoumata  eine Stelle als Sekretärin im Campus unseres neuen landwirtschaftlichen Berufsbildungszentrums für junge Landfrauen, dass sich damals noch im Bau befand. Dort ist sie inzwischen eine zentrale Person in der Organisation des Campus mit regelmäßig 70 bis 80 FortbildungsteilnehmerInnen pro Tag geworden, die dort überwiegend ein halbes Jahr in biologischer Landwirtschaft ausgebildet werden. Ein weiterer Karriereschritt ist für sie geplant.

Virginie Mounkoro, eine malische Beraterin, mit der wir 2004 in Mali zu fünft zusammensaßen und das Mäd-chenheim planten, sagte damals: Aus dieser Einrichtung wird einmal eine Ministerin hervorgehen. Damals schien mir das sehr unwahrscheinlich, heute, 20 Jahre später, halte ich es für möglich. 

Fatouma ist inzwischen 28 Jahre alt und eine attraktive junge Frau.

Diese Lebensgeschichte hat vielleicht direkt nicht so viel mit Systemischem zu tun. Sie erinnert mich aber daran, dass es mir in den systemischen Therapien, die ich durchführte, immer wichtig war, den Möglich-keitsinn meiner Klienten zu entfachen. 

Seid realistisch und zündet eine Kerze an, auf dass möglichst viele der chancenlosen afrikanischen Mädchen wie Fatoumata die Chance bekommen, ein eigenständiges Leben zu führen. 

Dies waren die ersten 6 Mädchen im Mädchenzentrum. Was aus ihnen geworden ist (von links): Djénéba wurde Lehrerin, Djènebou wurde Journalistin und bereitet gerade die erste Ausgabe einer malischen Frauenzeitschrift vor, vorne die kleine Fatoumata, über die ich schrieb, wurde IT-Ingenieurin, Ma wurde Schneiderin, Atoumata Hebamme (Matron) in ihremDorf), Mamarkan, die Halbschwester von Ma, Krankenschwester.

Ein Foto von fünf von ihnen später.

Fatoumata 2023 mit Handy, Handtasche und Ohrringen

Gunthard Weber, Wiesloch u. München

6. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 6. Wolfgang Loth

Offene Türen

Wenn ich an offene Türen denke, hoffe ich auf frische Luft. Ist draußen die Luft verseucht, mag ich sie lieber geschlossen. In einem Zimmer ohne Fenster sind offene Türen ein Ausweg. Ich kann mir offene Türen vorstellen, wenn sie geschlossen sind. Ich kann dann auch Wolken sehen und dazwischen das Blau. Als Neutrino könnte ich durch alle Materie hindurch jagen, selbst die Masse der Erde könnte mich nicht daran hindern. Dann aber hätte ich den Sinn nicht für Wolken. Und auch nicht für Blau. Auch der Blues ginge mir verloren. Lieber kein Neutrino sein. Leere Räume sind kein Grund, keine Wolken auf Wänden zu sehen. Auch Photonen brauchten ihre Zeit, bis sie sich lösen konnten. Am Anfang war „big bang“ sarkastisch gemeint, als Kritik an der Theorie. Der Lauf der Zeit bringt manches hervor. Nicht alles lässt sich vermeiden. „Back to work“, sagt Patti Smith.

Wolfgang Loth, Niederzissen

5. Dezember 2024
von Tom Levold
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Jürgen Kriz wird 80!

Jürgen Kriz feiert heute seinen 80. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Vor fünf Jahren haben viele Kolleginnen und Kollegen ihm anlässlich seines 75. Geburtstages an dieser Stelle ihre Glückwünsche übermittelt und für sein jahrzehntelanges Wirken für die wissenschaftliche Anerkennung der systemischen und humanistischen Therapieverfahren sowie für seine zahlreichen wissenschaftlichen und theoretischen Beiträge zur Fundierung dieser Verfahren gedankt. Das kann man auch heute eigentlich nur wiederholen.

Seine akademische Laufbahn und seine breitgefächerten Forschungsinteressen haben einen bedeutenden Einfluss auf die Bereiche Psychotherapie, klinische Psychologie und Forschungsmethodik ausgeübt. Nach seinem Studium an den Universitäten Hamburg und Wien, wo er sich mit Psychologie, Philosophie, Pädagogik sowie Astronomie und Astrophysik befasste, promovierte er 1969 zum Dr. phil. in Wien. Im Alter von 27 Jahren wurde er bereits ordentlicher Professor für Statistik an der Universität Bielefeld und wechselte dann 1974 auf den Lehrstuhl für Empirische Sozialforschung, Statistik und Wissenschaftstheorie an der Universität Osnabrück, bis er ab 1980 bis zu seiner Emeritierung – ebenfalls in Osnabrück – die Professur für Psychotherapie und Klinische Psychologie innehatte.

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5. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 5. Bernd Schmid

Über das Segnen!

Vielleicht für manche ungewohnt, habe ich in meinem beruflichen Umgang mit Menschen immer auch eine seelische Dimension gesehen.  Mein Text zur „Säkularen Seelsorge“[1] aus dem Jahr 2009 erzählt davon mehr. 

Der Mensch dem Menschen ein Seelsorger! Ich vertrete schon lange, dass Segnen durchaus zu Beratungsbeziehungen, zu Lehrbeziehungen, ja wahrscheinlich zu vielen anderen beruflichen Beziehungen gehören darf. Ich selbst habe auf meinem Weg öfter segnenden Zuspruch erhalten. Z.B. 1979 durch den TA-Lehrer Bob Goulding. Er sah mich an und sagte beim ersten Zusammentreffen nach 30 Sekunden: You are good. I know that. Ich wusste nicht, woher er das nahm und wie mir geschah, doch es tat gut. 

Da fühlt sich ein Mensch autorisiert, mir Vertrauen in mich und meine Entwicklung zuzusprechen. Er beschränkt sich nicht auf die Sicherheitszone eines begründeten Urteils. Sondern er vertraut auf seine Intuition über mein Wesen und meine Entwicklung. Er vertraut darauf, dass er als Vermittler den Zuspruch höherer Mächte überbringen darf. 

Segnen ist weniger ein bestimmter Akt, den man handwerklich lernen kann, sondern eine Haltung in der Beziehung zu Menschen und zu Dimensionen, die jenseits unserer fachlichen Beherrschbarkeit und jenseits unserer EGOs liegen.

Ich bin selbst wenig religiös geprägt. Vielleicht gerade deshalb habe ich immer recht unbefangen Dialog mit Szenen der Bibel gehalten. z.B. mit Jacobs Kampf mit dem Engel:

Jakob kehrt nach Jahren der Flucht vor seinem Bruder Esau zurück und erwartet eine Konfrontation. Er hatte mithilfe seiner Mutter den Erstgeborenen-Segen vom Vater erschlichen. Vielleicht von Talenten, Ambitionen und Eignungen her stimmig. -Und im Zusammenspiel umgesetzt. Immerhin hatte der hungrige Esau sein Erstgeburtsrecht gegen ein Linsengericht weggegeben. Aber eben nicht in Einklang mit den Gesetzen, von daher illegitim. Eine Aussöhnung mit dem Bruder könnte das Eroberte zur allseits anerkannten Identität und damit legitim werden lassen. Doch er hat Angst vor möglicher Unversöhnlichkeit seines Bruders.

Im Grenzfluss zum Land des Bruders versperrt ihm eine dunkle Gestalt den Weg und er muss mit ihr die ganze Nacht kämpfen. 

Was hier geschieht hat viele Deutungen erfahren. Für mich ist es ein existenzieller Kampf um Identität und Segen, und Jakob ringt um seine Bestimmung und seinen Platz in der Geschichte. 

 „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“

Dieser Satz, den Jakob am Morgen der dunklen Gestalt entgegenschleudert, offenbart seinen tiefen Wunsch nach einem Segen, der ihn durch den nächsten Abschnitt seines Lebens tragen soll. Er will nicht einfach weitergehen, ohne dass sein Engagement Anerkennung und höheren Beistand findet. Der Segen steht hier für eine Bestätigung und eine Erneuerung seines Lebensweges. 

Dieser Segen ist nicht einfach ein Geschenk, sondern etwas, das Jakob sich durch seinen inneren und äußeren Kampf erringen muss. Dann bestätigt der Segen seine Veränderung und gibt ihm die Kraft, als neuer Mensch weiterzugehen. Eine getragene Identität macht vieles, was vorher Kraft gekostet hat, selbstverständlich und damit leicht. 

Wir könnten miteinander Ringende und einander Segnende sein.


[1] B. Schmid: Säkulare Seelsorge im systemischen Feld der Professionen und Organisationen

Bernd Schmid, Wiesloch

4. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 4. Hartwig Hansen

Vom Muster zur Regel

Eine der vielen Erfahrungswerte der Beratung lautet ja bekanntlich: In den letzten zehn Minuten wird es regelmäßig eng (und manchmal hektisch), weil die Klient/inn/en unter dem Druck, dass die Sitzung dem Ende zugeht, noch einmal „mit ganz entscheidenden Informationen rüberkommen“.

Heute ist es acht Minuten vor Sitzungsschluss, ich will gerade fragen, wann wir uns wiedersehen, da holt Frau G. ihr Handy aus der Tasche und sagt: „Ich habe mir das extra aufgeschrieben. Da ist mir nämlich eine Regel in unserer Familie klargeworden. Moment, ich hab’s gleich …“ Sie scrollt auf ihrem Handy.

Oha, denke ich, es wird noch mal grundsätzlich … wie kriege ich das dann wohl wieder „rund“?

„Hier“, sagt nun Frau G. „Das war genau am 28. August. Ich glaube nämlich, dass ich jetzt weiß, warum es bei uns immer so anstrengend ist. Ich hab mir aufgeschrieben: Bei uns kann es nicht entspannt zugehen. Irgendjemand hat immer schlechte Laune, und das wechselt regelmäßig.

Damit knüpft Frau G. offenbar noch einmal an die heutige Dikussion an, in der es um den gemeinsamen Frankreichurlaub in den Sommerferien ging.

Und Frankreichurlaub heißt: Das Ehepaar G. plus zwei pubertierende Jugendliche. Also eine „harte Prüfung“ in Sachen gute Laune.

Herr G., der aufmerksam zugehört hat, hatte vorher in der Rückschau seinen Wunsch geäußert, dass „ihr mehr Verantwortung für eure Bedürfnisse übernehmt. Ich muss alles organisieren, und wenn ich dann Ansagen mache, knurrt ihr rum und ich kann es euch nicht recht machen.“

Mit „ihr“ meinte er seine anwesende Frau und seine nicht anwesenden Kinder.

Frau G. hatte genervt reagiert: „Das hatten wir doch schon so oft, Helmut. Ich habe eben einfach eine andere Vorstellung von Urlaub als du, bei mir muss nicht alles durchgetaktet sein auf die Minute, das stresst mich total – und die Kinder auch.“

Im Laufe des Gesprächs kamen die Eheleute nicht wirklich zueinander und die Uhr tickte dem Sitzungsende entgegen.

„Das ist interessant“, antworte ich jetzt Frau G. „Ist das eine ausdrückliche Familienregel bei Ihnen oder eher ein Muster, das Sie beobachtet haben?“

„Das ist so eine Art Muster: Wir können einfach nicht alle gleichzeitig gut drauf und zufrieden sein. Irgendjemand nölt immer rum.“

Plötzlich lacht Herr G. auf und sagt: „Mir fällt was ein, Eva. Wäre es nicht spaßig, wenn wir das Muster wirklich zur Familienregel erheben: Eine oder einer muss immer schlechte Laune haben, sonst ist der Familienfrieden gefährdet. Das gehört eben zu uns dazu.“

„Super Idee“, ergänze ich und denke mir: Nennen die Fachleute das nicht „Musterverschreibung“? Und: Hupps, ich muss ja gar nicht so viel arbeiten, das läuft ja ganz von alleine …

„Witzig wäre es ja, wenn Sie es gar nicht zur offiziellen Familienregel erheben, sondern einfach davon ausgehen, dass es diese Regel bei Ihnen gibt. Jeden Tag muss jemand schlecht drauf sein, sonst ist die Regel gebrochen. Aber man weiß vorher nicht, wer heute dran ist.“

Ist es nicht sowieso so in unserer heutigen Welt: Irgendjemand muss immer schlecht drauf sein, es geht einfach nicht, dass alle gleichzeitig happy sind.

Beim Rausgehen – pünktlich mit Terminverabredung! – sagt Herr G.: „Das hat mir gut gefallen heute …“

„Mir auch“, sage ich und erwidere seinen kräftigen Händedruck.

Irgendwie scheint es leichter zu werden, wenn man sich und anderen erlaubt, auch mal schlecht drauf sein zu dürfen.

Hartwig Hansen, Hamburg

3. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 3. Kurt Ludewig

Träumerei

Angenommen, die Probleme der Welt wären über Nacht verschwunden, woran merke ich das?
Ich wache auf, mache das Radio an und höre folgende Nachrichten:

– Putin hat sich besonnen und seine imperialistischen Wünsche überwunden. Er hat seine Soldaten aus der Ukraine zurück beordet und beschlossen, die dabei ersparten Einnahmen für die Besserung der Lebensbedingungen in Russland einzusetzen;
– Israel habe eine neue Regierung und es ist ihr gelungen, mit den Palästinensern Frieden im Kontext zweier Staaten zu schließen;
– Die USA, China und Europa sind sich darüber einig, den CO2 Ausstoß auf ein Minimum zu reduzieren;
– In Deutschland sind alle politischen Parteien übereingekommen, sich auf zwei große und eine kleinere Partei zu einigen;
– In den USA hat man infolge eines Plebiszits beschlossen, die Präsidentenwahl mit jüngeren, geeigneteren Kandidaten zu wiederholen;
– Der Bundespräsident hat Tom Levold das Bundesverdienstkreuz für seine vorbildliche und unermüdliche Honorartätigkeit als Herausgeber des systemagazin verliehen

…. und dann wache ich auf und merke, dass man auch von Träumen träumen kann.

Kurt Ludewig, Münster

2. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 2. Martin Rufer

Open the door for change

Auch wenn Türen sich oft von selber öffnen, hindurchgehen muss man doch meist selber. Zudem gibt es ja auch gute wie schlechte Gründe, drinnen oder „draussen vor der Tür“ zu bleiben. Dabei haben es insbesondere „Abschiede“ in sich. Hier und jetzt allerdings von Abschied zu reden, wo eigentlich Ankommen den (Advents-)Kalender bestimmt, mag irritieren. Darum: „Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir“…

 Was Rilke nämlich in seinen ‚Sonetten an Orpheus‘ dichtete, war für mich in den letzten Monaten, nach bald 50 Jahren Präsenz und viel Herzblut für unser Metier, wegweisend: schrittweise, aber konsequent loslassen. Und so öffne ich nun diese Tür und verabschiede mich auf Ende des Jahres ganz aus meinem Berufsfeld. Um dabei aber nicht dem Schicksal von Orpheus zu erliegen, sich umzudrehen und die Freude über das, was war und noch da ist, zu teilen, muss und will ich mich auch vom Bezugssystem ganz lösen. Aufmerksamkeitsmuster lassen sich nämlich erst dann nachhaltig ändern. 

„Open the door for change“ gehe ich also von drinnen nach draußen, mit offenen Sinnen in offenes Gelände, „dove mi porta il cuore“ (Susanna Tamaro). Ohne „to do“ oder „bucket list“ zwar, dafür aber in großer Dankbarkeit und gut genährt mit bleibenden Erinnerungen, insbesondere an all die zahlreichen Begegnungen mit KlientInnen und KollegInnen. Sie sollen und können mich aber nicht davon abhalten, meinen Weg weiter zu gehen, interessiert und neugierig, was,  wem und wie ich mir  selber im Nichts, das nicht nichts ist, begegne. Nichts aber wäre für mich beschämender, als einer eigenen Bedürftigkeit folgend zum Schatten meiner selbst zu werden und dadurch wohl in einem Schattenreich zu verbleiben. Und so wurde und wird dieser Abschied, nicht zuletzt als ein sich selbst organisierender Prozess, zu m/einer Selbsterfahrung im besten, systemischen Sinne: diesen als gelebten, erlebten und erzählten Wandel in der Zeit und im Kontext entlang generischer Prinzipien (Passung, Sinnbezug, Kairos, Symmetriebrechung..) mit zu gestalten, „als wäre er hinter Dir“ … 

In diesem Sinne mit meinen besten Wünschen für die Feiertage, auf das wir – gerade in unsicheren Zeiten wie diesen – auch gut in die nächsten Jahre kommen!

Martin Rufer, Bern