systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

4. Dezember 2024
von Tom Levold
1 Kommentar

systemagazin Adventskalender 2024 – 4. Hartwig Hansen

Vom Muster zur Regel

Eine der vielen Erfahrungswerte der Beratung lautet ja bekanntlich: In den letzten zehn Minuten wird es regelmäßig eng (und manchmal hektisch), weil die Klient/inn/en unter dem Druck, dass die Sitzung dem Ende zugeht, noch einmal „mit ganz entscheidenden Informationen rüberkommen“.

Heute ist es acht Minuten vor Sitzungsschluss, ich will gerade fragen, wann wir uns wiedersehen, da holt Frau G. ihr Handy aus der Tasche und sagt: „Ich habe mir das extra aufgeschrieben. Da ist mir nämlich eine Regel in unserer Familie klargeworden. Moment, ich hab’s gleich …“ Sie scrollt auf ihrem Handy.

Oha, denke ich, es wird noch mal grundsätzlich … wie kriege ich das dann wohl wieder „rund“?

„Hier“, sagt nun Frau G. „Das war genau am 28. August. Ich glaube nämlich, dass ich jetzt weiß, warum es bei uns immer so anstrengend ist. Ich hab mir aufgeschrieben: Bei uns kann es nicht entspannt zugehen. Irgendjemand hat immer schlechte Laune, und das wechselt regelmäßig.

Damit knüpft Frau G. offenbar noch einmal an die heutige Dikussion an, in der es um den gemeinsamen Frankreichurlaub in den Sommerferien ging.

Und Frankreichurlaub heißt: Das Ehepaar G. plus zwei pubertierende Jugendliche. Also eine „harte Prüfung“ in Sachen gute Laune.

Herr G., der aufmerksam zugehört hat, hatte vorher in der Rückschau seinen Wunsch geäußert, dass „ihr mehr Verantwortung für eure Bedürfnisse übernehmt. Ich muss alles organisieren, und wenn ich dann Ansagen mache, knurrt ihr rum und ich kann es euch nicht recht machen.“

Mit „ihr“ meinte er seine anwesende Frau und seine nicht anwesenden Kinder.

Frau G. hatte genervt reagiert: „Das hatten wir doch schon so oft, Helmut. Ich habe eben einfach eine andere Vorstellung von Urlaub als du, bei mir muss nicht alles durchgetaktet sein auf die Minute, das stresst mich total – und die Kinder auch.“

Im Laufe des Gesprächs kamen die Eheleute nicht wirklich zueinander und die Uhr tickte dem Sitzungsende entgegen.

„Das ist interessant“, antworte ich jetzt Frau G. „Ist das eine ausdrückliche Familienregel bei Ihnen oder eher ein Muster, das Sie beobachtet haben?“

„Das ist so eine Art Muster: Wir können einfach nicht alle gleichzeitig gut drauf und zufrieden sein. Irgendjemand nölt immer rum.“

Plötzlich lacht Herr G. auf und sagt: „Mir fällt was ein, Eva. Wäre es nicht spaßig, wenn wir das Muster wirklich zur Familienregel erheben: Eine oder einer muss immer schlechte Laune haben, sonst ist der Familienfrieden gefährdet. Das gehört eben zu uns dazu.“

„Super Idee“, ergänze ich und denke mir: Nennen die Fachleute das nicht „Musterverschreibung“? Und: Hupps, ich muss ja gar nicht so viel arbeiten, das läuft ja ganz von alleine …

„Witzig wäre es ja, wenn Sie es gar nicht zur offiziellen Familienregel erheben, sondern einfach davon ausgehen, dass es diese Regel bei Ihnen gibt. Jeden Tag muss jemand schlecht drauf sein, sonst ist die Regel gebrochen. Aber man weiß vorher nicht, wer heute dran ist.“

Ist es nicht sowieso so in unserer heutigen Welt: Irgendjemand muss immer schlecht drauf sein, es geht einfach nicht, dass alle gleichzeitig happy sind.

Beim Rausgehen – pünktlich mit Terminverabredung! – sagt Herr G.: „Das hat mir gut gefallen heute …“

„Mir auch“, sage ich und erwidere seinen kräftigen Händedruck.

Irgendwie scheint es leichter zu werden, wenn man sich und anderen erlaubt, auch mal schlecht drauf sein zu dürfen.

Hartwig Hansen, Hamburg

3. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 3. Kurt Ludewig

Träumerei

Angenommen, die Probleme der Welt wären über Nacht verschwunden, woran merke ich das?
Ich wache auf, mache das Radio an und höre folgende Nachrichten:

– Putin hat sich besonnen und seine imperialistischen Wünsche überwunden. Er hat seine Soldaten aus der Ukraine zurück beordet und beschlossen, die dabei ersparten Einnahmen für die Besserung der Lebensbedingungen in Russland einzusetzen;
– Israel habe eine neue Regierung und es ist ihr gelungen, mit den Palästinensern Frieden im Kontext zweier Staaten zu schließen;
– Die USA, China und Europa sind sich darüber einig, den CO2 Ausstoß auf ein Minimum zu reduzieren;
– In Deutschland sind alle politischen Parteien übereingekommen, sich auf zwei große und eine kleinere Partei zu einigen;
– In den USA hat man infolge eines Plebiszits beschlossen, die Präsidentenwahl mit jüngeren, geeigneteren Kandidaten zu wiederholen;
– Der Bundespräsident hat Tom Levold das Bundesverdienstkreuz für seine vorbildliche und unermüdliche Honorartätigkeit als Herausgeber des systemagazin verliehen

…. und dann wache ich auf und merke, dass man auch von Träumen träumen kann.

Kurt Ludewig, Münster

2. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 2. Martin Rufer

Open the door for change

Auch wenn Türen sich oft von selber öffnen, hindurchgehen muss man doch meist selber. Zudem gibt es ja auch gute wie schlechte Gründe, drinnen oder „draussen vor der Tür“ zu bleiben. Dabei haben es insbesondere „Abschiede“ in sich. Hier und jetzt allerdings von Abschied zu reden, wo eigentlich Ankommen den (Advents-)Kalender bestimmt, mag irritieren. Darum: „Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir“…

 Was Rilke nämlich in seinen ‚Sonetten an Orpheus‘ dichtete, war für mich in den letzten Monaten, nach bald 50 Jahren Präsenz und viel Herzblut für unser Metier, wegweisend: schrittweise, aber konsequent loslassen. Und so öffne ich nun diese Tür und verabschiede mich auf Ende des Jahres ganz aus meinem Berufsfeld. Um dabei aber nicht dem Schicksal von Orpheus zu erliegen, sich umzudrehen und die Freude über das, was war und noch da ist, zu teilen, muss und will ich mich auch vom Bezugssystem ganz lösen. Aufmerksamkeitsmuster lassen sich nämlich erst dann nachhaltig ändern. 

„Open the door for change“ gehe ich also von drinnen nach draußen, mit offenen Sinnen in offenes Gelände, „dove mi porta il cuore“ (Susanna Tamaro). Ohne „to do“ oder „bucket list“ zwar, dafür aber in großer Dankbarkeit und gut genährt mit bleibenden Erinnerungen, insbesondere an all die zahlreichen Begegnungen mit KlientInnen und KollegInnen. Sie sollen und können mich aber nicht davon abhalten, meinen Weg weiter zu gehen, interessiert und neugierig, was,  wem und wie ich mir  selber im Nichts, das nicht nichts ist, begegne. Nichts aber wäre für mich beschämender, als einer eigenen Bedürftigkeit folgend zum Schatten meiner selbst zu werden und dadurch wohl in einem Schattenreich zu verbleiben. Und so wurde und wird dieser Abschied, nicht zuletzt als ein sich selbst organisierender Prozess, zu m/einer Selbsterfahrung im besten, systemischen Sinne: diesen als gelebten, erlebten und erzählten Wandel in der Zeit und im Kontext entlang generischer Prinzipien (Passung, Sinnbezug, Kairos, Symmetriebrechung..) mit zu gestalten, „als wäre er hinter Dir“ … 

In diesem Sinne mit meinen besten Wünschen für die Feiertage, auf das wir – gerade in unsicheren Zeiten wie diesen – auch gut in die nächsten Jahre kommen!

Martin Rufer, Bern

1. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 1. Dennis Gildehaus

„Ein letztes Leuchtfeuer“

Dennis Gildehaus, Systemischer Berater und Familientherapeut, hat im jährlichen Adventskalender des systemagazin schon viele Türchen gefüllt. Schwer erkrankt, hat er als erster auf die Einladung zum diesjährigen Kalender reagiert – mit einem selbstgemalten Bild. Er hat mir erlaubt, auch seine Zeilen an mich dazu zu veröffentlichen.

Hallo lieber Tom,
ich grüße dich ganz herzlich von meinem Bett in der Charité, wo ich bereits seit 9 Wochen liege. Voller Erwartung habe ich die Ankündigung des diesjährigen Kalenders gelesen. Es könnte mein letzter Beitrag sein, da mir langsam die Power ausgeht. Aber: „Ich bin ein absoluter systemisch-humorvoll und gleichzeitig sehr optimistisch denkender Mensch und gebe nie auf!“ 🙂
So habe ich mir innerhalb der gesamten Charité-Zeit überlegt, was ich beitragen kann zum Kalender… Entstanden ist ein Bild voller Punkte, das für meine Haltung als Systemiker steht – Auch wenn Vieles „draußen als auch drinnen“ negativ erscheint, ist doch immer auch ein Pünktchen Hoffnung dabei – wenn wir hinschauen…
Das war´s auch schon – diesmal kurz und knapp aber mit einer Entstehungszeit von 6 Wochen.
Lieber Tom, bisher habe ich dir immer schöne Grüße aus dem Ammerland aus Bad Zwischenahn gesendet. Mittlerweile wohne ich im Betreuten Wohnen in Rastede (immer noch im Ammerland :-)) für Menschen mit schwerwiegenden Erkrankungen und meinen Platz im Hospiz habe ich mir auch schon anschauen dürfen. Das klingt vielleicht komisch aber so gehe ich mit meiner Erkrankung um – immer mit einem Lächeln – das steckt andere richtig an. Und: Vielleicht passiert ja noch ein Wunder…
Ich hoffe, dass es dir gut geht und das du gut durch die Zeit kommst.
Ganz herzliche Grüße
Dennis

Dennis Gildehaus, Rastede

25. November 2024
von Tom Levold
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Geist und Materie, Gott und die Welt – ein verborgener Gesamtzusammenhang

Luc Ciompi dürfte allen Leserinnen und Lesern des systemagazin ein Begriff sein. Mit seinem Konzept der Affektlogik ist er seit den frühen 1980ern weit bekannt geworden, auch als Kliniker hat er mit seinem Modell der Soteria-Psychosenbehandlung Bahnbrechendes geleistet. Nun hat er im Alter von 95 Jahren noch einmal einen „kleinen Essay“ in Buchform veröffentlicht, der Themen aufgreift, mit denen er sich ebenfalls schon seit Jahrzehnten intensiv auseinandersetzt⁠1. Darin geht es um die Frage nach dem Geistigen und seinen Zusammenhängen mit der materiellen Welt, also um eine Frage, die die Philosophie seit jeher beschäftigt. Ciompi möchte ein Gesamtbild entwerfen, das „als eine Zusammenschau von unterschiedlichen Zugängen zum ,großen Ganzen’, die für Leserinnen und Leser verschiedenster Denk- und Glaubensrichtungen von Interesse sein könnte“ gelten soll (8).

Unter Geist versteht Ciompi ein unendliches „Netzwerk von abstrakten Beziehungen und Verhältnissen, das obligat mit allem faktischen Geschehen einhergeht. Dazu gehören nicht nur alle Ideen über Zusammenhänge, Beziehungen und Kommunikationen, die man gewöhnlich als „geistig“ versteht, sondern ebenfalls eine unendliche Fülle von immateriellen abstrakten Beziehungen und Verhältnissen z. B. geometrischer, mathematischer oder sonst wie allgemeiner Art weit über den zwischenmenschlichen Bereich hinaus“ (9). Diese Definition des Geistigen, das Ciompi auch „Weltgeist“ nennt, wenngleich er diesen Begriff von der Hegelschen Verwendung des Wortes abgrenzt, umfasst auch den „Menschengeist“, greift aber weit darüber hinaus und ließe sich auch als „unendliches virtuelles Potenzial [verstehen], aus dem sich ,mit der Zeit‘ und je nach Umständen gewisse Aspekte verwirklichen (,verkörpern’) und andere nicht“ (14). Die uns bekannte materielle Welt ist dann nicht mehr als eine selektive Verkörperung dieser virtuellen Potentiale, jeweils gebunden an konkrete ermöglichende Umstände, die sich wiederum evolutionär entfalten.

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22. November 2024
von Tom Levold
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Therapeutisches Paradox in der Familientherapie: Eine „Rückkehr zur Symptomverschreibung“

Als ich vor 45 Jahren begann, familientherapeutisch zu Arbeiten, waren paradoxe Interventionen schwer angesagt. Dazu gehörten u.a. auch die Verschreibungen eines Symptoms, um durch eine gezielte Anregung die als unwillkürlich und nicht beeinflussbar erlebten Symptome zu einem Ergebnis willkürlichen Handelns zu machen. Das war sehr oft durchaus erfolgreich. Mit der Hinwendung zur Kybernetik 2 gerieten solche Interventionen aber zunehmen in den Hintergrund. Interessanterweise ist nun ein englischsprachiger Text zweier portugiesischer Autorinnen vom „Department of Psychiatry and Mental Health at the Health Unit of the Aveiro Region“ erschienen, der sich mit dem Schicksal der Symptomverschreibung in Literatur und Praxis beschäftigt und die Anwendung wiederbeleben möchte. Im Abstract heißt es:

„Die Symptomverschreibung ist eine Intervention, die von der Schule von Palo Alto beschrieben wurde und in einer Vielzahl von klinischen Kontexten als psychotherapeutisches Instrument eingesetzt wurde. Obwohl ihr Nutzen in der individuellen Psychotherapie in der Literatur untersucht wurde, ist ihre Anwendung in der Familientherapie kaum erforscht und in der Literatur nur wenig beschrieben. Es wurde eine kurze narrative Überprüfung der verfügbaren Literatur und Datenbanken wie PubMed unter Verwendung der folgenden Schlüsselwörter, einzeln oder in Kombination, durchgeführt: Symptomverschreibung, paradoxe Intervention, therapeutisches Paradoxon und Familientherapie. Literatur in englischer Sprache, die als relevant für das untersuchte Thema erachtet wurde, wurde als Referenzmaterial für die Überprüfung ausgewählt. Bei der Suche in Pub-Med wurden 31 Artikel gefunden, von denen acht als relevant ausgewählt wurden. Eine erweiterte Suche wurde mit GoogleScholar durchgeführt, wobei neun Artikel oder Texte aufgrund ihrer Relevanz ausgewählt wurden. Von den ausgewählten Artikeln wurden nur drei nach 2010 verfasst, wobei der Großteil der Literatur in den 80er Jahren produziert wurde. Paradoxe Interventionen sind kontraintuitive Interventionen, die eingesetzt werden, um die verstärkenden Rückkopplungsschleifen zu unterbrechen, die das behandelte Symptom aufrechterhalten. Die Literatur konzentriert sich auf die Definition, die Ethik der Umsetzung und die Techniken in verschiedenen psychotherapeutischen Kontexten. Neuere Studien zu diesem Thema sind rar. Die Autoren wollen dieses scheinbar ruhende Thema wiederbeleben, indem sie eine Beschreibung dieser therapeutischen Technik und ihrer Anwendung in der Familientherapie liefern und ihre potenziellen Vorteile erörtern.“ (Übersetzung TL).
Der vollständige Text ist hier zu finden.

18. November 2024
von Tom Levold
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Umsatzsteuerbefreiung für Weiterbildungsinstitute und in der Weiterbildung Tätige

Im geplanten Jahressteuergesetz 2024 war ein Wegfall der Umsatzsteuer für den Bereich der Weiterbildung geplant, der viele Menschen und Einrichtungen in diesem Bereich vor gravierende Probleme gestellt hätte. Auch das systemische Feld wäre davon hart betroffen gewesen.

Ab dem 1.1.2025 gilt die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 21 Buchst. a UStG  für „die unmittelbar dem Schul- und Bildungszweck dienenden Leistungen von Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die mit solchen Aufgaben betraut sind, privaten Schulen und anderen allgemeinbildenden oder berufsbildenden Einrichtungen“. Auch das bisherige Bescheinigungsverfahren bleibt erhalten, bei dem die zuständige Landesbehörde bescheinigen muss, dass die o.g. Einrichtungen Schulunterricht, Hochschulunterricht, Ausbildung, Fortbildung oder berufliche Umschulung erbringen.

Steuerbefreit ist außerdem „Schul- und Hochschulunterricht, der von Privatlehrern erteilt wird“. Der Begriff des Privatlehrers umfasst nur natürliche Personen.

Zudem wird der Umfang der begünstigten Leistungen erweitert: Während bislang „Leistungen, die auf einen Beruf oder eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzulegende Prüfung ordnungsgemäß vorbereiten“ befreit waren, wird dies nun auf „Schul- und Hochschulunterricht, Aus- und Fortbildung sowie berufliche Umschulung und damit eng verbundene Lieferungen und sonstige Leistungen“ ausgedehnt. Die bisherigen umsatzsteuerfreien Leistungen bleiben damit auch in Zukunft unverändert umsatzsteuerfrei.

15. November 2024
von Tom Levold
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Komplex – dynamisch – systemisch?!

Silvan Strub ist ein Schweizer Sozialpädagoge mit Zusatzausbildungen in hypnosystemischer Beratung und Systemischer Supervision. 2024 bekam er den Systemischen Forschungspreis von SG und DGSF für seine Masterarbeit über das „synergetische Prozessmanagement und die generischen Prinzipien als Rahmenmodell für Klasseninterventionen in der Schulsozialarbeit“, mit der er sein Studium der Systemisch-lösungsorientierten Kurzzeitberatung an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHWN im Jahre 2023 absolviert hatte.

Im Abstract seiner Arbeit heißt es: „Klasseninterventionen gehören in der Schulsozialarbeit zu den Grundaufgaben und werden in der Regel bei Konflikten, disziplinarischen Problemen oder einem ungünstigen Klassenklima angewandt. In der praktischen Umsetzung stossen Schulsozialarbeitende jedoch auf wiederkehrende Herausforderungen. So kann die Orientierung im Hilfeprozess in einem komplexen und dynamischen System wie einer Schulklasse, anspruchsvoll sein. Zudem sind Methoden und Interventionen für die Arbeit mit Klassen entweder sehr offen (Methodensammlung) oder aber stark strukturiert. Letztere geben zwar klare Orientierung, sind dafür nicht genau auf die Klassensituation angepasst. Die offenen Arbeitsmittel lassen sich sehr flexibel einsetzen. Dafür besteht die Gefahr, sich im Prozess zu verlieren, da kein klarer Interventionsrahmen vorgegeben ist. Diese Schwierigkeiten verdeutlichen die Notwendigkeit einer besseren Orientierung in Bezug auf Methoden und Möglichkeiten, um komplexe Dynamiken im Beratungsprozess zu nutzen. In diesem Kontext bietet das Konzept der Synergetik als Lehre der Selbstorganisation vielversprechende Ansätze für Klasseninterventionen. Das synergetische Prozessmanagement mit den generischen Prinzipien ist in der Psychotherapie bereits etabliert und erforscht und bietet einen metatheoretischen Rahmen zur Auswahl und Begründung therapeutischer Methoden, unabhängig von der therapeutischen Ausrichtung. Diese MAS Thesis geht der Frage nach, wie das synergetische Prozessmanagement mit den generischen Prinzipien als Bezugsrahmen für Klasseninterventionen genutzt werden kann. Dazu bietet sie einen Überblick über die Theorie der Synergetik in der Beratung und Therapie. Die Ebenen des synergetischen Prozessmanagements werden Schritt für Schritt auf den Kontext der Schulsozialarbeit angepasst und durch bereichsspezifisches Wissen, Orientierungs- und Handlungswissen angereichert. Im Zentrum stehen die generischen Prinzipien, welche einen Transfer von der Theorie in die Praxis ermöglichen. Diese werden exemplarisch mit Methoden aus der Praxis verknüpft. Die MAS Thesis zeigt auf, dass eine praxisbezogene Adaption des synergetischen Prozessmanagements auf den Kontext von Klasseninterventionen eine fundierte Grundlage zur Planung und Evaluation von beraterischem Handeln und Interventionen in Schulklassen bietet. Dieser Bezugsrahmen ermöglicht Schulsozialarbeitenden, sich in komplexen Situationen zu orientieren und die Methoden aus ihrem individuellen Repertoire gezielt auszuwählen.“

Genaueres über die Auswahl und Begründung der Preisvergabe ist auf den Webseiten der Verbände noch nicht zu lesen, aber es gibt im neuesten Newsletter der SG einen Link zu einem kurzen Interview mit Silvan Strub.

systemagazin gratuliert Silvan Strub zum Forschungspreis für seine Arbeit, die hier herunterladen werden kann.

10. November 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024

Ursprünglich bedeutete das lateinische Wort „Advent“ (bzw. griechisch „Epiphaneia“: Erscheinung) die Ankunft, Anwesenheit bzw. der Besuch eines Amtsträgers, insbesondere die Ankunft von Königen oder Kaisern. Im Christentum wurde dann ab dem vierten Jahrhundert der Begriff auf die Ankunft bzw. die Erwartung der Wiederkunft Jesu Christi bezogen. Wie man am öffentlichen Rummel der Adventszeit sehen kann, ist der historische und religiöse Ursprung des Begriffs zumindest hierzulande für die meisten Menschen nicht mehr von großer Bedeutung. Gleichwohl ist der Aspekt der freudigen, wenngleich maximal kommerzialisierten Erwartung der kommenden Feiertage für die anstehenden Wochen ebenso prägend wie die Wünsche nach Zeit für eine Besinnung auf wesentliche Fragen unseres Lebens uns unserer Existenz.

Welche Art der „Ankunft“ und „Erscheinung“ erwartet uns in der kommenden Zeit? Die eines „Erlösers“ wohl sicher nicht. Die Riege der Amtsträger, deren Ankunft man freudig entgegen blickt, ist übersichtlich. Die Wahlergebnisse in den USA hatte ich erwartet, wenngleich nicht in dieser Höhe. Angesichts der Tatsache, dass sich weltweit faschistische und autoritative Kräfte immer mehr auch in den (mehr oder weniger) demokratischen Ländern breit machen und viele zivilgesellschaftlichen Errungenschaften unter diesem Druck (von außen wie von innen) immer weiter geschleift werden, überfielen mich eher dystopische als zuversichtliche oder erwartungsfreudige Gedanken. Einer der ersten war, dass es dieses Mal vielleicht keinen Adventskalender im systemagazin geben sollte, weil sich das für mich nicht passend zur Zeit anfühlte.

Aber wahrscheinlich ist es gerade in solch unsicheren und wenig Zuversicht vermittelnden Zeiten wichtig, Traditionen und Rituale aufrechtzuerhalten, die ein Gefühl des Miteinander trotz aller Differenzen herstellen können. Auch wenn sich systemische Ideen für gute und bekömmliche (also friedliche und nachhaltige) Lösungen offensichtlich in der aktuellen globalen geopolitischen Situation nicht durchsetzen, lohnt es sich dennoch, uns mit ihrer Hilfe weiter für die Entwicklung besserer Bedingungen für das Leben auf unserer Erde einzusetzen, in welchem Maßstab auch immer.

Deshalb möchte ich auch in diesem Jahr wieder einen systemagazin-Adventskalender mit Ihren Beiträgen gestalten und Sie herzlich zur Mitwirkung einladen.

Ein besonderes „Thema“ für den Adventskalender hat sich für mich allerdings bislang nicht ergeben. Stattdessen fiel mir meine Einladung zum Kalender von 2015 wieder ein, die mir ganz gut auch für diese Adventszeit zu passen scheint, und die ich deshalb hier erneut ausspreche:

Unter dem Motto „Open Doors“ können Sie alles hinter ein Kalendertürchen legen, was Sie gerne mit der systemischen Community teilen möchten: Eine persönliche Geschichte oder Begegnung, die uns als Systemiker zu denken geben kann, Beobachtungen oder Einschätzungen zu gesellschaftlichen, politischen oder fachlichen Themen, mit denen sich unsere Gesellschaft, aber vor allem auch das Systemische Feld auseinandersetzen sollte, Konzepte und Modelle, die Sie für sich als nützlich entdeckt haben und einem größeren Kreis zugänglich machen wollen oder einfach ein paar Zeilen, was es für Sie bedeutet, sich als SystemikerIn zu verstehen und wie sich das auf Ihr Leben und Ihre Arbeit auswirkt.

Was auch immer, den vielfältigen Möglichkeiten von Inhalt und Form sind keine Grenzen gesetzt – je bunter der Kalender dadurch wird, desto besser. Vielleicht finden Sie ja in den kommenden Novemberwochen einen Moment der Ruhe für einen kürzeren oder auch längeren Text oder eine andere Mitteilungsform, die zum Format des Adventskalenders passen.

 Ich freue mich über Ihre Einsendungen an levold@systemagazin.com und bin gespannt auf das Ergebnis.

Mit herzlichen Grüßen
Tom Levold

Herausgeber systemagazin

22. Oktober 2024
von Tom Levold
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Praxispreis der Systemischen Gesellschaft 2025

Die Systemische Gesellschaft vergibt alle zwei Jahre einen Praxispreis für ein herausragendes oder innovatives aktuelles Projekt, das die praktische Umsetzung der Grundsätze systemischen Denkens und Handelns in einem spezifischen Arbeitsfeld zum Ziel hat. Über die Vergabe des Preises entscheidet eine Jury. Mit dem Praxispreis leistet die Systemische Gesellschaft einen Beitrag, den systemischen Ansatz interdisziplinär weiter zu entwickeln und dieses Anliegen fachöffentlich und gesellschaftspolitisch zu fördern.
Um den Preis können sich Praxisprojekte in öffentlicher oder privater Trägerschaft bewerben, die systemische Vorgehensweisen in Bereichen wie z.B. Arbeiten, Wohnen, Bauen, Bildung, Ernährung, Erziehung, Internationalisierung, Klimaschutz, Recht etc. implementieren und anwenden. Dabei sollten die systemische Haltung und die Nachhaltigkeit des systemischen Ansatzes im Sinne von „next practice“ (zukunftsorientiert) und „best practice“ aufgezeigt werden. 
Publikationen und wissenschaftliche Arbeiten über systemische Praxis sind nicht Gegenstand des Praxispreises. 
Erfüllt keine der eingereichten Bewerbungen die Kriterien zur Vergabe des Praxispreises in überzeugender Weise, wird der Preis im betreffenden Jahr nicht vergeben. 
Das Preisgeld beträgt bis zu 1.500,- Euro, kann auf 1 bis 3 Preisträger verteilt werden und soll unmittelbar für die Zwecke des prämierten Projektes verwandt werden. 
Die SG veröffentlicht die Vergabe des Preises und unterstützt das Projekt bei der Bekanntmachung des Praxispreises. 

Bewerbungen für den Praxispreis sollten in Form einer Kurzbeschreibung sowie einer schriftlichen Konzeption von maximal 20 Seiten (andere Formen können akzeptiert werden; z.B. auditiv, kreativ etc.) eingereicht werden. 

Die Preisverleihung findet im Rahmen der Mitgliederversammlung am 13.06.2025 in Weinheim statt, die Preisträger_in/Preisträger_innen werden zwei Wochen vorher benachrichtigt.

Einsendungen bis zum 28.02.2025 an:

Systemische Gesellschaft e.V.

Damaschkestraße 4

D-10711 Berlin

E-Mail:  info@systemische-gesellschaft.de
                                              

11. Oktober 2024
von Tom Levold
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Psychotherapie und Wissenschaft

In Heft 1/2024 der Open Access-Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft gibt es einen Artikel von Kurt Greiner, seines Zeichens Professor für Psychotherapiewissenschaft an der Siegmund-Freud-Universität Wien, in dem er sich mit den unterschiedlichen natur- bzw. geisteswissenschaftlichen Geltungsansprüchen der Psychotherapie (am Beispiel der Psychoanalyse) auseinandersetzt. Der Text ist mit „Psychotherapie als Textmedizin. Versuch über ein allgemeines Funktionsparadigma“ übertitelt. Seinem eigenen Verständnis von Psychotherapie liegt nämlich „die Prämisse zugrunde, dass der psychotherapeutische Gegenstand «subjektives Erleben» ist, das sich sowohl in verbalem als auch nonverbalem «Text» artikuliert, der wiederum verstanden werden will“. In dieser Perspektive versteht er „Psychotherapie als Textmedizin“: „Damit gewinnen wir Psychisches auch als wissenschaftliches Objekt. Denn als Objekt, auf das wir uns wissenschaftlich-forschend, d. h. methodisch-systematisch beziehen können, ist Psychisches stets Text. Was sich mit Dilthey als «Formen und Gestalten des Ausdrucks» bezeichnen lässt, das nennen wir schlicht Text und meinen damit sämtliche mehr oder weniger komplex strukturierten Sinngebilde, Mitteilungsfiguren, Objektivationen aller Art, die in verbaler, aber auch nonverbaler Form, d. h. mimisch, gestisch, ikonisch etc. in Erscheinung treten können. In diesem Sinne kann sich psychologisches Verstehen zwar nicht direkt auf das subjektive Erleben richten, dafür aber auf den Ausdrucks-Text, in dem sich ebendieses zur Sprache bringt“ (S. 14).

In Heft 2 derselben Zeitschrift gibt es eine Replik von Jürgen Kriz zu lesen, in der dieser die implizierte Medizinmetapher kritisch aufgreift und seinerseits die Frage der Bedeutung unterschiedlicher Wissenschaftskulturen für die psychotherapeutische Praxis aufgreift. Im Abstract schreibt er: „In dieser Replik auf einen Beitrag von Kurt Greiner über «Psychotherapie als Textmedizin» werden
zwei Aspekte zur Diskussion gestellt. Zum einen geht es um die Frage, ob in den gegenwärtigen Entwicklungen der Psychotherapie, die stark von einem medizinisch-technischen Weltbild dominiert wird, die durch die beiden Wortbestandteile «Text» und «Medizin» diese – auch von Greiner kritisierte – Sicht nicht noch verstärkt wird und diese beiden Begriffe daher eher unglücklich gewählt sind (auch wenn sie von Greiner anders interpretiert werden). Damit verbunden ist die Frage, ob nicht stärker unterschieden werden muss zwischen (a) Psychotherapie als Gegenstand der Wissenschaft – die damit im Bereich von kulturell-objektiven Symbolsystemen angesiedelt ist – und (b) Psychotherapie als beziehungsgestaltendes Handeln – das zunächst einmal oder zumindest auch den Fokus auf leiblich-vorsprachliche Erfahrung zu richten hat. Der zweite Aspekt, der zur Diskussion gestellt wird, ist das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen. Der von Greiner vorgenommene Gegensatz von Geistes- und Naturwissenschaft wird zwar methodisch geteilt, inhaltlich aber infrage gestellt, da auch die Gegenstände und Prinzipien der von den Naturwissenschaften behandelten Phänomene letztlich Schöpfungen des menschlichen Geistes sind, wie dies bspw. im Pauli-Jung-Dialog betont wurde.“

In diesen Texten geht es um eine ebenso alte wie immer noch grundlegende Debatte, die auch in Zukunft weiter gehen dürfte. Die Lektüre ist zu empfehlen!

10. Oktober 2024
von Tom Levold
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Luc Ciompi wird 95!

(Luc Ciompi – Foto: Tom Levold 2024)

Heute feiert Luc Ciompi seinen 95. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Bereits zu seinem 90. Geburtstag haben sich im systemagazin zahlreiche Gratulanten eingefunden, um ihm Glück zu wünschen und zu seinem Lebenswerk zu gratulieren, das er über viele Jahrzehnte mit Beharrlichkeit entwickelt und erweitert hat. Mittlerweile sind wieder fünf Jahre ins Land gegangen und Luc Ciompi beeindruckt nach wie vor mit seiner Präsenz und Ausstrahlung in das systemische Feld hinein. Dem Thema der Affekte, das er mit seinem Konzept der Affektlogik seit über 40 Jahren bearbeitet, wurde lange in der systemischen Szene wenig Aufmerksamkeit geschenkt – dazu, dass sich das mittlerweile verändert hat, hat er sehr viel beigetragen.

Auch wenn ihm das Lesen mittlerweile größere Mühe macht, ist es eine Freude zu sehen, mit welchem Elan und welch großer Begeisterungsfähigkeit Luc immer noch den aktuellen Stand der Forschung rezipiert. Mit seinem Wissen und seinem enormen Gedächtnis ebenso wie mit seiner Präzision in seinen Formulierungen beeindruckt er auch im hohen Alter seine Zuhörer im Gespräch. Noch im Mai dieses Jahres konnten Arist von Schlippe und ich Luc und seine wunderbare Frau in ihrem schönen Anwesen bei Lausanne hoch über dem Genfer See besuchen und ihn für das aktuelle Heft der Familiendynamik zum Thema Kriegs- und Friedenslogik interviewen. Ihre Gastfreundschaft haben wir als großes Geschenk erlebt.

Im Jahre 1990 hat Luc Ciompi „Zehn Thesen zum Thema »Zeit in der Psychiatrie«“ veröffentlicht, die über die Frage nach dem Zusammenhang von psychischen Störungen mit Veränderungen des Zeiterlebens hinaus als ein eindrückliches Plädoyer für einen ganz anderen Umgang mit Zeit in unserer Gesellschaft gelesen werden können – Ein Thema, das in den seitdem vergangenen Jahrzehnten an Aktualität noch einmal deutlich zugenommen hat. Dieser Text ist 2012 dankenswerterweise im von Ulrike Borst und Bruno Hildenbrand bei Carl-Auer herausgegebenen Band „Zeit essen Seele auf. Der Faktor Zeit in Therapie und Beratung“ erneut publiziert worden und kann auf der Website von Luc Ciompi als PDF gelesen werden.

Lieber Luc, für die kommende Zeit wünsche ich dir alles Gute, Gesundheit und weiterhin die Energie und Schaffenskraft, die dein ganzes Leben ausgezeichnet hat. Ich bin sicher, dass sich viele Menschen aus dem systemischen Umwelt diesen Wünschen anschließen.

Sei herzlich gegrüßt, Tom

28. September 2024
von Tom Levold
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Kriegs- und Friedenslogik in Beziehungen

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Das gerade frisch erschienene Heft 4/2024 der Familiendynamik ist von Arist von Schlippe und mir als Gastherausgeber betreut worden und beschäftigt sich mit der Frage, welche Logiken kriegerischen Konflikten (von zwischenstaatlichen bis hinunter zu familären Konflikten) unterliegen und welche Chancen bestehen, die Durchsetzungskraft von „Friedenslogiken“ zu stärken.
Im Editorial schreiben wir: „Wir Herausgeber gehören einer Generation an, für die trotz des Kalten Krieges ein offener Krieg auf europäischem Boden nur eine abstrakte Drohung war, doch nie konkrete Realität. Natürlich, es gab (und gibt) auf der Welt ununterbrochen Kriege, nur waren sie weit weg. Vietnam empörte uns, doch auch das war nicht so hautnah wie die gegenwärtigen Kämpfe in der Ukraine und in Palästina. Sie führen uns die Zerbrechlichkeit unserer friedenserhaltenden Strukturen vor Augen. Westeuropa wird beinahe unmerklich in die Logik des Krieges hineingezogen. Friedenslogik hat derzeit keine großen Chancen, sich durchzusetzen. Durch das Erstarken radikaler politischer und religiöser Bewegungen und Parteien in Westeuropa und den USA scheint sich der zivilisatorische Friedenskonsens in einem angsterregenden Tempo aufzulösen. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwiefern das gesellschaftliche Klima von Hass, Gewalt, Verachtung und Dämonisierung des Gegners auch die persönlichen Beziehungen der Menschen untereinander, sei es in den gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen, sei es im Alltag und bis in die Intimbeziehungen hinein, zu durchdringen vermag. Dieser »zeitdiagnostische Befund« brachte uns auf die Idee für ein Themenheft. Zunächst ging es uns darum, die paar- und familiendynamischen Aspekte zu untersuchen, die zu einem Umschlag von wohlwollenden in feindliche Interaktionen führen. Doch schnell wurde klar, dass wir es hier mit übergreifenden Mustern zu tun haben, die sich von privaten Beziehungen bis hin zu internationalen Konflikten skalieren lassen.
In Familien äußern sich diese Muster häufig in Form eskalierender Auseinandersetzungen und verhärteter Fronten. Oftmals erkennen Mitglieder nicht, dass ihre Konflikte ähnliche Grundmechanismen aufweisen wie Auseinandersetzungen auf globaler Ebene. Missverständnisse, alte Verletzungen und tiefsitzende Ängste führen zu Reaktionsmustern, die schwer zu durchbrechen sind. Das familiäre System leidet, ähnlich wie das internationale System, unter stereotypen Verhaltensweisen, die kurzfristig entlasten mögen, langfristig jedoch Schaden anrichten. Offensichtlich gibt es in sozialen Beziehungen Kipppunkte, die eine kompromissbereite, wohlwollende Friedenslogik relativ leicht in Kriegslogik umschlagen lassen. Umgekehrt ist dagegen ein »Kippen« von Feindseligkeit in ein friedliches Beziehungsmuster ungleich schwerer zu erreichen. In diesem Heft haben wir Beiträge versammelt, die das hier skizzierte Themenspektrum aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachten. Wir laden dazu ein, aus der Vielfalt der »Beobachtungen erster Ordnung« (wer hat »Recht«, wer hat Schuld an diesem »verbrecherischen Angriffskrieg«, was will Putin »wirklich« usw.) auszusteigen und eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung einzunehmen: Wie wird in unserer Gesellschaft – auf verschiedenen Ebenen – beobachtet? Wo erkennen wir blinde Flecken? Welche neuen Perspektiven lassen sich eröffnen (ohne dass wir den Anspruch haben, daraus einen Ausweg für die Weltlage abzuleiten)?“

Dazu finden sich Texte von Friedrich Glasl, Barbara Kuchler, Till Jansen, Almut Fuest-Bellendorf sowie ein Interview, das wir beide im Juni mit Luc Ciompi in Belmont sur Lausanne führen konnten. Zu allen bibliografischen Angaben und abstracts geht es hier…