Liebe Leserinnen und Leser,
im letzten Kalendertürchen für dieses Jahr befindet sich ein Beitrag von Sabine Timme, die in Hannover neben ihrer Tätigkeit in einem Frauenberatungsprojekt in freier Praxis als„Paar- und Familiencoachberaterintherapeutin“ sowie als Supervisorin tätig ist. An dieser Stelle noch einmal ein herzliches Dankeschön an alle, die dazu beigetragen haben, dass sich der systemagazin-Adventskalender auch in diesem Jahr wieder gefüllt hat. Ich hoffe, Ihnen hat die Lektüre Vergnügen bereitet!
Ich wünsche Ihnen allen schöne Weihnachtsfeiertage, Ruhe und Erholung, Freude und Anregung und was immer sonst Sie sich wünschen!
Herzliche Grüße
Tom Levold
Herausgeber
Tun se mal spekulieren ,
so Prof. Dr. Hellmuth Freybergers unermüdlich wiederholter Anschubversuch bei Weiss-ich-nich-Antworten auf zirkuläre Fragen. Hundertfach gehört von einer, die Anno 1988 bis 1990 in der Medizinischen Hochschule Hannover als protokollierende Praktikantin hinter einer Einwegscheibe saß und grosses Glück hatte zwei Jahre lang jungen Frauen mit anorektischem und bulimischem Verhalten lauschen zu dürfen.
Rahmen war das von der Bosch-Stiftung finanzierte Forschungsprojekt Psychoanalytische Therapie versus Familientherapie bei Essstörungen.
Heute entspräche die Stimmung und das Verhalten mancher Akteure in der Abteilung Psychosomatik deren Direktor Freyberger war, der eines BATTLEs. Angetreten war: stationär versus ambulant. Psychoanalyse versus Konstruktivismus. Deskriptive versus operative Diagnostik. HipHop versus Standart. Go for it, B-boys!
Hinter der Scheibe auf kleinstem Raum abwechselnd zur Supervison herbeigetanzt: Gunthard Weber, Fritze Simon, Gunther Schmidt, Arnold Retzer, Jochen Schweizer und Paul Watzlawick.
In meinem frisch magistrierten Sozialpsychologinnenhirn herrschte damals rege Synapsentätigkeit in den Arealen für Ethnopsychoanalyse, Kulturanthropologie und Paarungsverhalten. Andere Regionen waren mit der Gründung eines Ethnomedizinischen Zentrums beschäftigt. Da richteten sowohl die systemischen Grundlagen als auch die Tanzschritte des therapeutischen Servicepersonals im Gehirn arges Chaos an. Cells that wire together fire together, Verwirrung löst Suchprozesse aus und dann erst die ganzkörperlichen Folgen
Meine Erinnerung gaukelt mir vor,
wie im Therapiezimmer sechs Familienmitglieder mit ihren Kontrollkompetenzen glänzten und hinter der Scheibe Homöostase sei Dank vergnügtes Chaos herrschte.
Wie manche Bulimieversion sich, einmal quer durchs Familiensystem gerauscht, ein Hypothesen-Hintertürchen zum Verdünnisieren suchte.
Wie eine Anorexievariante sich in zähen Verhandlungen gegen einen Porsche tauschen ließ.
Wie ein Supervisior sich klopfend seinen Wegs ins Therapiesetting bahnte und recht freundlich fragte, ob jemand dem Vater ins Hirn geschissen hätte? Atemstillstand vor und hinter der Scheibe. Der Vater lächelt entspannt: interessant, das habe er sich auch gerade gefragt.
Wie ich im Losverfahren ein Abendessen mit Watzlawick im Hause Freyberger gewann.
Wie Margret Gröne aus diesem Projekt heraus ihr Buch über die verhungerte Bulimie schrieb.
Wie ein Teil des damaligen Therapieteams das Niedersächsische Institut für Systemische Therapie und Beratung (nis) gründete, in dem ich mit vielen anderen im ersten Durchgang Deutsch/systemisch lernte.
Ach ja: der Battle endete nahezu mit Gleichstand, ich baue mit homies und B-Girls eine essstörungsspezifische Mädchen-WG auf und tue Freyberger sei Dank – immer noch spekulieren