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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Soziale Systeme 2011

Luhmann, Niklas (2011): Strukturauflösung durch Interaktion. Ein analytischer Bezugsrahmen. In: Soziale Systeme 17 (1): S. 3-30.

abstract: Die folgenden Überlegungen gehen von der Erkenntnis aus, dass mit der Wahl einer Systemreferenz alle anderen Systeme und deren Umwelten als Umwelt des Bezugssystems impliziert sind. Dies gilt auch für Interaktionssysteme, die sich stets in einer Umwelt anderer Systeme, seien es Personen oder andere Sozialsysteme, befinden. In ganz verschiedenen Kontexten trifft man immer wieder auf die Erwartung, dass eine gezielte Auflösung und Rekombination von Systemstrukturen möglich ist, wobei die Forcierung dieses Prozesses zur Sache eines Interaktionssystems wird, das sich auf die Systemänderung eines anderen Systems spezialisiert. Um zu verstehen, wieso Strukturen Änderungen Widerstand entgegensetzen, muss ein komplexitätstheoretisches Verständnis zugrunde gelegt werden: Ein System ist komplex in dem Sinne, dass es eine Vielzahl von qualitativ verschiedenartigen Elementen in nichtbeliebiger Weise verknüpft. Strukturauflösung heißt dann: Wiederherstellung des quantitativen Überschusses an Relationierungsmöglichkeiten. In dem Maße, als Strukturauflösung gelingt, wird die Aktivierung einzelner Relationen im System zur Sache externer, mit dem System nicht mehr abgestimmter Determination. Ob und unter welchen Voraussetzungen Strukturänderung durch Interaktionen möglich ist, hängt daher nicht nur von den Strukturen selbst ab, sondern auch von der Einwirkungskapazität des Interaktionssystems. Die wichtigsten Voraussetzungen dafür sind die eigene Temporalität des Interaktionssystems sowie die Kombination von Wahrnehmung und Kommunikation. Ob die Strukturauflösung durch die Interaktion trotz ihrer beschränkten Systemkomplexität selbst thematisiert werden kann, hängt einerseits davon ab, dass das Interaktionssystem besonderen Bedingungen (Professionalisierung, organisatorische Disziplinierung, öffentlichkeit) unterliegt, und andererseits davon, dass das von Strukturauflösungen betroffene System in wesentlichen Hinsichten (Interdependenzformen, Geschichtslosigkeit) entgegenkommt, das heißt Strukturauflösung selbst ermöglicht.

Kurtz, Thomas (2011): Der Professionsansatz von Niklas Luhmann. In: Soziale Systeme 17 (1): S. 31-52.

abstract: Während für Talcott Parsons der professionelle Komplex die bedeutendste Einzelstruktur in der modernen Gesellschaft darstellte, werden die Professionen heute nicht mehr als wichtiger Mechanismus gesellschaftlicher Strukturbildung angesehen – in den neueren Gesellschaftstheorien etwa tauchen sie gar nicht mehr auf. Eine Ausnahme bildet hier die Systemtheorie mit den Schriften von Rudolf Stichweh. Weniger bekannt ist, dass auch Niklas Luhmann insbesondere in den 1970er Jahren im Kontext der Entwicklung seiner Theorie der Gesellschaft ein Professionskonzept ausgearbeitet hat. Der Beitrag fragt dabei, was Luhmann unter Professionen verstand und wie und wo er sie in seine Theoriearchitektur eingebaut hat.

Riese, Juliane (2011): Functions, communication, and perception of emotions in Luhmannian theory: Emotions as reflection resources of social systems. In: Soziale Systeme 17 (1): S. 53-72.

abstract: Um die in der bestehenden Literatur beschriebenen Effekte von Emotionen in der sozialen Sphäre in Luhmanns Theorie autopoietischer sozialer Systeme integrieren zu können, ist es notwendig zu zeigen, wie Emotionen – laut Luhmann psychische Phänomene – im Bereich des Sozialen relevant werden können, auch wenn nicht über sie kommuniziert wird. Der vorliegende Aufsatz nimmt Bezug auf Weinbachs Person/Habitus-Konstrukt und schlägt vor, dass Emotionen via die Adresse von „Personen“ kommuniziert und/oder via die Adresse von „Habitus“ wahrgenommen werden können, wobei sie in beiden Fällen soziale Relevanz erlangen. Emotionen dienen der Absicherung der Autopoiesis organischer, psychischer und sozialer Systeme. Sie stützen die Fortschreibung viabler sozialer Strukturen und regen die Veränderung solcher sozialer Strukturen an, die nicht mehr viabel erscheinen. Daher können sie als Reflexionsressourcen nicht nur psychischer, sondern auch sozialer Systeme gesehen werden. Diese Konzeptualisierung von Emotionen lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Körpern für das Soziale. Sie legt nahe, dass die Rolle der Emotionen zu idiosynkratisch ist, um Emotionen einem anderen Begriff wie dem der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zu subsumieren. Sie eröffnet darüber hinaus zusätzliche Möglichkeiten der Integration der psychologischen und psychotherapeutischen Literatur in die Luhmannsche Theorie.

Seyfert, Robert (2011): Atmosphären – Transmissionen – Interaktionen: Zu einer Theorie sozialer Affekte. In: Soziale Systeme 17 (1): S. 73-96.

abstract: In der Geschichte der Soziologie sind Gefühle, Emotionen und Affekte auf die verschiedenste Art und Weise konzipiert worden. Im sozialpsychologischen Paradigma entstammen Emotionen individuellen Triebwünschen und gewinnen in erster Linie in konflikthaften Auseinandersetzungen ihren sozialen Charakter (Sublimation, etc.). Dem gegenüber bringt die Soziologie der Emotionen die Denkfigur der Interaktion in Anschlag, die es möglich macht ganz neue unpersönliche Emotionen zu konzipieren, Emotionen, die aus zwischenmenschlichen Begegnungen erst hervorgehen. Seit den 1990er Jahren lässt sich nun die Entstehung der Affect Studies beobachten, die mit der Soziologie der Emotionen zwar den interaktionistischen Ansatz teilen, jedoch deren anthropologischen Reduktionismus überwinden wollen. Bei der Entstehung sozialer Emotionen und Affekte spielen nicht nur individuelle Triebwünsche und soziale Stimmungen eine Rolle, sondern auch affektive Atmosphären, die der jeweiligen Umwelt entstammen. Obwohl die vorliegende Arbeit die Ansicht teilt, dass eine Theorie sozialer Affekte die Rolle nicht-menschlicher Elemente zu berücksichtigen hat, hält sie den Atmosphärenbegriff für problematisch, weil er deterministische Tendenzen impliziert und die Spezifizität aller beteiligten Körper unberücksichtigt lässt. Aus diesem Grund wird der Begriff der affektiven Interaktionen vorgeschlagen, der keine undifferenzierte Hintergrundstimmung annehmen muss, sondern die genauen Affektverhältnisse zwischen den anwesenden Körpern beschreiben kann. Dabei steht die Frage im Vordergrund, auf welche Art und Weise die jeweils anwesenden Körper miteinander interagieren (symbolisch, olfaktorisch, elektrisch, akustisch, etc.). Die Beantwortung dieser Frage verweist dann zugleich auf die Konstitution der beteiligten Körper und auf den jeweiligen Affekt, der aus der Interaktion von Körpern hervorgeht. Hinsichtlich affektiver Interaktionen greifen wir auf die Theorie der Transmission von Jean-Marie Guyau zurück, bezüglich des Konzepts des Körpers als distributives Ensemble beziehen wir uns auf Spinoza. Das affektive Milieu, aus dem Affekte entspringen, nennen wir Affektif.

Miebach, Bernhard (2011): Computer und soziale Systeme: Strukturelle Kopplung oder Material Agency? In: Soziale Systeme 17 (1): S. 97-119.

abstract: Ausgehend von Luhmanns Konzept der Technik als Form hat sich in den 1990er Jahren eine soziologische Diskussion entwickelt, die den Computer als Maschine und als Medium beschrieben hat. Innerhalb der Techniksoziologie hat sich die Auffassung durchgesetzt, den Computer im Sinne einer Material Agency als Element der soziomateriellen Konfiguration zu betrachten, die sowohl die Maschine als auch die Handlungen der Anwender umfasst. Die neueren systemtheoretischen Analysen halten an dem Modell der strukturellen Kopplung fest, wonach die Maschine nicht Bestandteil des sozialen Systems ist, das den Computer zur Datenverarbeitung und Kommunikation verwendet. Dieses Konzept der strukturellen Kopplung erfordert allerdings mehrere systemtheoretische Erweiterungen: Erstens die Einbeziehung der Telekommunikation mit Internet, zweitens die Umstellung des Technikbegriffs von der funktionierenden Simplifikation fester Kopplungen auf das Theorem selbsterzeugter Ungewissheit und drittens die Rekonstruktion der Computeranwendung innerhalb des sozialen Systems, für die der Begriff Social Interface neu eingeführt wird.

Esposito, Elena (2011): Kann Kontingenz formalisiert werden? In: Soziale Systeme 17 (1): S. 120-137.

abstract: Der Artikel rekonstruiert die Rolle und die Bedeutung des Begriffs der Form in der Theorie sozialer Systeme vom Problem der Autologie aus, also von dem Umstand, dass die für das System verfügbaren Möglichkeiten vom System selbst und von seinen Operationen abhängig sind. Wie kann die Theorie diese Zirkularität und die damit korrelierte Kontingenz berücksichtigen, ohne in Willkür abzugleiten? Könnte ein Kalkül der Formen hilfreich sein? George Spencer Browns Formenkalkül bietet eine Formalisierung der Art und Weise, wie die Operationen (und die Beobachtungen) eines autopoietischen Systems vom System selbst abhängig sind. Er betrachtet jedoch explizit nur die Beobachtung erster Ordnung. Die Figur des re-entry, bei der ein System seine eigene Beobachtungsoperation beobachtet, markiert auch das Ende des Kalküls und den Eingang in einen Bereich der Unbestimmtheit. Um die Beziehungen zwischen verschiedenen Beobachtungsperspektiven zu formalisieren, die sich gegenseitig anerkennen, aber getrennt bleiben, können Gotthard Günthers Überlegungen über Mehrwertigkeit wichtige Anreize anbieten – sie selbst bieten aber keinen Kalkül. Durch Kombination beider Ansätze kann man jedoch einen Ansatzpunkt gewinnen, um die enorme Komplexität der zunehmend verbreiteten Lagen zu behandeln, wobei man berücksichtigen muss, dass die für ein System verfügbaren Möglichkeiten (z.B. die Offenheit der Zukunft) auch von den Operationen des Systems produziert werden, das sich dessen bewusst ist.

Kabalak, Alihan & Markus Rhomberg (2011): Neutralität der Medien als Systembedingung? Massenmedien und Politik aus den Perspektiven von Systemtheorie und Politischer Ökonomie. In: Soziale Systeme 17 (1): S. 138-161.

abstract: Politik in der modernen Gesellschaft ist in der Regel eine massenmedial vermittelte Veranstaltung. Theorien der Politik und politische Theorien dürfen sich diesem Umstand nicht verschließen. Eine der Hauptaufgaben der politischen Kommunikationsforschung ist es, das Verhältnis zwischen Politik, Bürgern und Medien zu analysieren. Wir argumentieren zunächst, dass das in der Medien- und Kommunikationswissenschaft verbreitete Nachrichtenwertkonzept dafür spricht, dass profitorientierte Medienunternehmen in ihrer politischen Berichterstattung um Neutralität bemüht sein müssten. Medienunternehmen sind grundsätzlich keinen Anreizen ausgesetzt, selbst politisch zu steuern. In ihrer Agenda-Setting-Funktion für das politische System und die Öffentlichkeit geben die Medien Themen zur Kommunikation vor und strukturieren so eine politische Agenda. Sie sorgen für einen steten Kommunikationsfluss und Anschlusskommunikationen. Durch ihre Vielfalt können sie verschiedene Meinungen stärken und so politische Debatten quasi als Stellvertreter führen, aber nicht mit dem Ziel der Beendigung aller Konflikte, sondern auf eine Weise, die weitere politische Kommunikationen und die Bereitschaft zu deren Rezeption weiterhin erhält.

Wagner, Elke (2011): Kulturen des Kritischen. Zum Strukturwandel des Öffentlichen am Beispiel medizinkritischer Publika. In: Soziale Systeme 17 (1): S. 162-185.

abstract: Kritik am Arzt als professionelle Autorität hat es in der Geschichte schon immer gegeben. Neu ist aber, wie diese Kritiker in der Öffentlichkeit miteinkalkuliert werden und aufeinander Bezug nehmen: an der öffentlichen Kritik am Arzt werden unterschiedliche Kulturen des Kritischen sichtbar, die sich nicht mehr länger allein im Sinne eines bürgerlichen Meinungsstreits beschreiben lassen. Der Disput über Wahrheitsfragen wird symmetrisiert zum Austausch von Wahrnehmungsfragen; anstelle einer Verknappung von Argumenten zu einem gemeinsam geteilten Konsens stellt sich eine unabschließbare Pluralisierung von Sprechkulturen ein, die eher auf den differenten Ort des Sprechers verweisen als auf gemeinsam zu diskutierende Wissensfragen. Der Beitrag diskutiert diesen Wandel aus einer mediensoziologischen und zugleich praxeologischen Sicht anhand historisch und gegenwärtig unterschiedlicher öffentlicher Diskurs-Praktiken über den Arzt. Kritik wird nicht im Sinne eines öffentlichen Meinungsstreits als gegebene Form vorausgesetzt. Vielmehr wird die praktische Herstellung kritischer Publika nach ihren gesellschaftlichen und medialen Bedingungen befragt. Der Beitrag zeigt, dass Demokratisierung von Öffentlichkeit auch zur Demokratisierung dessen führt, was diese miterzeugt hat: das bessere Argument einer vernünftigen Rede.

Mascareño, Aldo (2011): The Function of Ethics from the Perspective of the Individual. In: Soziale Systeme 17 (1): S. 186-210.

abstract: Als Theorie der Moral wird die Ethik zu einer Reflexion darüber, wie der moralische Code auf unterschiedliche gesellschaftliche Zusammenhänge angewendet wird. Dieser Aufsatz versteht ergänzend die Funktion der Ethik als eine lose Kopplung zwischen individueller Motivation und sozialer Selektivität, i.e. zwischen einer individuell skizzierten gesellschaftlichen Projektion und der sachlichen Erfahrung in der Gesellschaft. Als eine lose Kopplung besteht die Funktion der Ethik darin, vor eventuellen Entkopplungen individueller Motivation und sozialer Selektivität zu warnen, so dass eine institutionell nicht akzeptierte individuelle Wünschbarkeit zumindest in der Ethik Akzeptanz findet. Der Aufsatz illustriert dies anhand vier unterschiedlicher Inklusion/Exklusions-Konstellationen.

Goeke, Pascal & Roland Lippuner (2011): Editorial: Geographien sozialer Systeme. In: Soziale Systeme 17 (2): S. 227-233

Goeke, Pascal & Evelyn Moser (2011): Raum als Kontingenzformel der Geographie. Zu den Ausdifferenzierungsbesonderheiten und schwierigkeiten einer Disziplin. In: Soziale Systeme 17 (2): S. 234-254.

abstract: Die (Human-)Geographie ist eine bemerkenswerte Disziplin. Organisatorisch ist sie relativ gut etabliert, doch ihre Forschungsbeiträge spielen in der Wissenschaft eine untergeordnete Rolle. Diese Leistungs- und Erfolgsdifferenz legt grundsätzlich eine stärkere Differenzierung zwischen dem Forschungsfeld einer Disziplin und ihrer Etablierung als Fach nahe. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung kann erstens verdeutlicht werden, dass es der Geographie auf der Grundlage ihrer Kontingenzformel Raum nicht gelungen ist, ihre Gegenstandsorientierung durch eine distinkte forschungsfeldkonstituierende Problemstellung zu ersetzen. Diese Schwierigkeit lässt sich aus systemtheoretischer Perspektive auf die Dualität von Raum als Medium und Materie sowie auf das Primat funktionaler Differenzierung und den damit verbundenen thematischen Zuständigkeiten sozialwissenschaftlicher Disziplinen in der modernen Gesellschaft zurückführen. Ausgehend von der Annahme der steten Relevanz von Raum erscheint die Geographie stattdessen als Disziplin multipler Orientierung. Ihre dennoch erfolgreiche Etablierung als Fach, so die zweite These, fußt auf außerwissenschaftlichen Anlehnungskontexten (hauptsächlich Bildung), über die gesellschaftliche Legitimität hergestellt wird.

Pott, Andreas (2011): Die Raumordnung des Tourismus. In: Soziale Systeme 17 (2): S. 255-276.

abstract: Der Beitrag widmet sich einem von der soziologischen Theoriebildung bisher kaum beachteten Kommunikationszusammenhang: dem modernen Tourismus. Angesichts seiner Globalisierungsdynamik und vielfältiger Raumbezüge überrascht, dass auch die raumtheoretische Debatte der letzten Jahre den Tourismus weitgehend ausgespart hat. Dies nimmt der Beitrag zum Anlass, mit systemtheoretischen Mitteln nach der Funktionalität des Kommunikations- und Wahrnehmungsmediums Raum im touristischen Kontext zu fragen. Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung lautet: Für die Entstehung, Ausdifferenzierung und Reproduktion des modernen Tourismus sind räumliche Unterscheidungen und Formbildungen konstitutiv. Warum dies so ist und in welcher Weise Raum strukturbildend wirkt, lässt sich im Rahmen einer gesellschaftstheoretischen Bestimmung des Tourismus zeigen. Hierbei wird sowohl die zentrale Rolle von Organisationen als auch die besondere Bedeutung des Raums als Medium der touristischen Erwartungsbildung deutlich. Genauer untersucht wird das Beispiel städtetouristischer Semantiken und ihrer durch Territorialisierung erzeugten Ordnungen. Die Ausführungen verstehen sich als ein Beitrag zur Theorie des Tourismus. Zugleich demonstrieren sie exemplarisch das analytische Potential eines medientheoretischen Raumkonzepts.

Kaldewey, David (2011): Das Realitätsproblem der Sozialwissenschaften: Anmerkungen zur Beobachtung des Außersozialen. In: Soziale Systeme 17 (2): S. 277-307.

abstract: Die aus einer lebensweltlichen Perspektive selbstverständliche Einbettung der Gesellschaft in eine natürliche und räumliche Umwelt hat in den Sozialwissenschaften immer wieder zu Debatten über den jeweiligen epistemischen Status der sozialen und der außersozialen Realität geführt. Die Rahmung dieser Kontroversen durch den Gegensatz von »Realismus« und »Konstruktivismus« hat sich jedoch als unbefriedigend erwiesen. Der vorliegende Beitrag schlägt vor, das Thema begrifflich neu zu umreißen. In einem ersten Schritt wird gezeigt, dass das Realitätsproblem der Sozialwissenschaften nicht mit dem Realitätsproblem der Philosophie gleichgesetzt werden darf. Daraufhin wird schrittweise versucht, die Frage nach dem Verhältnis von sozialer und außersozialer Realität mit dem Vokabular der soziologischen Theorie zu präzisieren. Dazu werden verschiedene sozialwissenschaftliche Problemkontexte unterschieden und miteinander in Beziehung gesetzt: Das Emergenzproblem, das Mikro/Makro-Problem und die wissenssoziologische Unterscheidung von »harten« und »weichen« Strukturen. Im Verlauf der Darstellung werden außerdem handlungstheoretische und systemtheoretische Konzeptionen von sozialer Realität verglichen.

Lippuner, Roland (2011): Gesellschaft, Umwelt und Technik: Zur Problemstellung einer „Ökologie sozialer Systeme“. In: Soziale Systeme 17 (2): S. 308-335.

abstract: In der Theoriediskussion der Sozialwissenschaften zeichnet sich in jüngerer Zeit eine verstärkte Aufmerksamkeit für Natur, Umwelt und die Materialität der Dinge ab. Die Systemtheorie nach Luhmann spielt bei dieser Diskussion bisher jedoch keine große Rolle. Das muss umso mehr erstaunen, als die Theorie sozialer Systeme im Grunde eine Theorie der System/Umwelt-Differenz ist. In diesem Beitrag soll deshalb geprüft werden, welches Theorieangebot die Systemtheorie für die Auseinandersetzung mit Beziehungen zwischen der Gesellschaft und ihrer materiellen Umwelt macht. Dazu wird zuerst nachgezeichnet, wie die Systemtheorie die zentrale Problemstellung ökologischer Betrachtungen mit dem Begriff der strukturellen Kopplung konzeptualisiert. Dabei geht es insbesondere darum, Implikationen dieses Konzeptes im Hinblick auf die Umweltabhängigkeit sozialer Systeme und deren Anpassung an Umweltgegebenheiten herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund sollen schließlich, die von Luhmann präferierte sprachliche Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein genauer betrachtet und weiterführende Mechanismen der strukturellen Kopplung von Gesellschaft und Umwelt gesucht werden. Das Ziel dieser Auseinandersetzung ist es, auf diese Weise die Problemstellung einer „Ökologie sozialer Systeme“ zu skizzieren.

Mayer, Julia, Swen Zehetmair & Jürgen Pohl (2011): Die Systemreferenz bei der Beobachtung des gesellschaftlichen Umgangs mit Naturrisiken. In: Soziale Systeme 17 (2): S. 336-360.

abstract: Ausgehend von der Forderung Armin Nassehis, dass sich die Potentiale systemtheoretischen Denkens nur durch empirische Forschung ausloten lassen, werden im vorliegenden Beitrag forschungspraktische Herausforderungen bei der Untersuchung des gesellschaftlichen Umgangs mit Naturrisiken dargestellt. Empirische Forschung zum gesellschaftlichen Umgang mit Naturrisiken unter systemtheoretischen Prämissen lässt ein „Operationalisierungsproblem“ zu Tage treten, das sich im Verhältnis der Systemtypen Funktions- und Organisationssysteme widerspiegelt. Anhand von empirischen Forschungsergebnissen zu Risikoentscheidungen und Risikomanagement werden die Bedeutung der Wahl der Systemreferenz und die damit einhergehende Beobachtung von Organisationen als Multireferenten in der Umwelt der Funktionssysteme betont. Der Differenzierung von Funktions- und Organisationssystemen ist in theoretischer Hinsicht eine größere Beachtung zu schenken, um hinsichtlich empirischer Forschungen Risikoentscheidungen in sozialen Systemen beobachtbar zu machen. Die konsequente Trennung von System und Umwelt ist die Voraussetzung für systemtheoretisch inspirierte empirische Hazardforschung, die neue Erkenntnisse über den gesellschaftlichen Umgang mit (Natur-)Risiken ermöglicht.

Werber, Niels (2011): Raumvergessenheit oder Raumontologie, Latour oder Luhmann? Zur Rolle der Systemtheorie in einer (medien)geographischen Kontroverse. In: Soziale Systeme 17 (2): S. 361-372.

abstract: Die Systemtheorie luhmannscher Prägung kennt keine Raumdimension des Sinns. Dies hat zumal in den Medienwissenschaften zum Vorwurf der Raumvergessenheit geführt. Dagegen wird in Teilen der Humangeographie die systemtheoretische Annahme, beim Raum handle es sich um eine ausschließlich auf soziale Systeme zuzurechnende Konstruktionsleistung, ausdrücklich begrüßt und ihrerseits gegen eine Mediengeographie in Stellung gebracht, die den Raum als Agenten im Sinne Latours traktiert. In dieser Kontroverse um Raumvergessenheit oder Raumontologie werden nicht nur Stärken und Schwächen der systemtheoretischen Konzeptualisierung des Raums sichtbar, sondern auch mögliche Alternativen, die die Akteur-Netzwerk-Theorie ins Spiel gebracht hat. Sie sind der Systemtheorie nicht völlig unbekannt, sondern führen die Diskussion um Dinge und Objekte, Räume und Körper zurück zu Überlegungen, die Luhmann in Die Kunst der Gesellschaft angestellt hat.

Broquet, Julien (2011): Political deparadoxification through structural coupling in the EU: a reinterpretation of the Stability and Growth Pact. In: Soziale Systeme 17 (2): S. 373-397.

abstract: Der Aufsatz schlägt vor, auf der Basis der Luhmannsschen Theorie eine Reinterpretation des Stabilitäts- und Wachstumspakts der EU vorzunehmen. Die Argumentation basiert auf theoretischen Weiterentwicklungen, die innerhalb der neueren Systemtheorie im Zuge der Beschäftigung mit europäischen Studien vorgenommen worden sind. Es wird argumentiert, dass „ungleiche Europäisierung“ sozialer Systeme (Jachtenfuchs) als ein anderer Ausdruck für funktionale Differenzierung zu strukturellen Änderungen innerhalb sozialer Systeme führt und zu einer Redefinition von Kopplungsprozessen in Europa. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist ein besonders augenfälliges Beispiel dafür. Deshalb wird der Eurostabilitätspakt im vorliegenden Text als eine strukturelle Kopplung von ökonomischem und politischem System analysiert. Ein genauerer Blick auf seine Entstehung führt dabei zu einer Verteidigung der Ansicht, dass es fruchtbar sein könnte, ihn aus einer polykontexturalen Perspektive zu betrachten, wie es im europäischen Kontext generell sinnvoll erscheint, strukturelle Kopplungen verstärkter in den Blick zu nehmen. Auf der Basis des Luhmannsschen Konzepts der Entparadoxierung sozialer Systeme durch die Bezugnahme auf ihre Umwelt wird eine Interpretation des Eurostabilitätspakts vorgenommen, nach der der Ausgangspunkt des Pakts trotz einer vermeintlichen ökonomischen Intention im Wesentlichen in dem politischen Prozess einer Entparadoxierung durch die Bezugnahme auf das ökonomische System liegt.

Rapior, Ralf (2011): Globalisierung der Funktionssysteme. Rezension von Philip Thelen (2011): Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik. Bielefeld (transcript). In: Soziale Systeme 17 (2): S. 398-401

Baecker, Dirk (2011): Interaktion mit Bildern. Rezension von Inge Hinterwaldner (2010): Das systemische Bild: Ikonizität im Rahmen computerbasierter Echtzeitsimulation. München (Wilhelm Fink). In: Soziale Systeme 17 (2): S. 401-404

Cevolini, Alberto (2011): Der Preis der Zukunftsbeobachtung. Rezension von Albert Schug (2011): Der Versicherungsgedanke und seine historischen Grundlagen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht). In: Soziale Systeme 17 (2): S. 404-407