Heft 1
Retzer, Arnold & Fritz B. Simon (1997): Editorial: Forschung – Antworten, die zu Fragen führen, die zu Antworten führen, die zu Fragen führen …. In: Familiendynamik, 22 (1), S. 1-4.
Abstract: Man mag sich darüber streiten, was eher war: die Frage oder die Antwort. Wo immer gefragt wird, werden Antworten ge- (oder er-)funden, und wo immer Antworten gegeben werden, provozieren sie neue Fragen. Wenn dieser Prozeß systematisiert betrieben wird, nennt man das Ganze Forschung (das aus dem 8. Jahrhundert bezeugte althochdeutsche forscon und das mittelhochdeutsche vorschen, die beide »erfragen, erkunden« bedeuteten, bilden hier die begriffliche Ahnenreihe). Forschung erscheint als eine Art Dialog, bei dem irgendwer oder -was irgendwen oder -was befragt und Antworten erhält. Forschung kann – sehr allgemein – als Verfahren zur Herstellung von Fragen und Ant- worten definiert werden.
Von diesem Thema handeln die Beiträge in diesem Heft. Es werden Antworten gegeben, wo es Antworten gibt, und Fragen gestellt, wo sich Fragen stellen: Fragen der Forschung und Fragen an die Forschung und Antworten aus der Forschung. Natürlich ist hier ist die Psychotherapieforschung gemeint, genauer: die paar- und familientherapeutische Ergebnis- und Wirksamkeitsforschung.
Shadish, William R., Kevin Ragsdale, Renita R. Glaser & Linda M. Montgomery (1997): Effektivität und Effizienz von Paar- und Familientherapie. Eine metaanalytische Perspektive. In: Familiendynamik, 22 (1), S. 5–33.
Abstract: Diese Arbeit faßt die Hauptergebnisse einer Metaanalyse über die Wirksamkeit von Paar- und Familientherapie zusammen. Über 163 Studien hinweg zeigt Paar- und Familientherapie eine mittlere, statistisch und häufig klinisch signifikante Wirksamkeit. Weder zeigt sich dabei eine bestimmte therapeutische Orientierung als nachweisbar überlegen zu anderen Orientierungen noch ist Paar- und Familientherapie der Einzeltherapie überlegen. Informationen über die Kosteneffizienz sind in den analysierten 163 Studien zwar nur vereinzelt zu gewinnen, stützen aber die Annahme der Kosteneffizienz von Paar- und Familientherapie. Studien mit Zufallsstichproben unterscheiden sich in ihren Ergebnissen deutlich von Studien ohne Zufallsstichproben, so daß die Vermischung beider Studientypen in Sekundäranalysen in Frage zu stellen ist. Es werden weitere Unterschiede in der Art und Weise wie Ergebnisstudien durchgeführt werden dargestellt, die wiederum die Frage aufwerfen, ob unterschiedliche Studien sinnvoll miteinander zu vergleichen sind. Schließlich wird gefragt, ob die Psychotherapieforschung – einschließlich der Paar- und Familientherapieforschung – schon ausreichend Information darüber gesammelt hat, ob und wie Forschungsergebnisse aus einem Laborkontext auf die alltägliche klinische Praxis übertragbar sind.
Ochs, Matthias, Arist von Schlippe & Jochen Schweitzer-Rothers (1997): Evaluationsforschung zur systemischen Paar- und Familientherapie. Methodik, Ergebnisse und Kritik von Sekundäranalysen. In: Familiendynamik, 22 (1), S. 34–63.
Abstract: In diesem Artikel werden die Effizienz und die Effektivität systemischer Paar- und Familientherapie diskutiert. Dazu wird ein Überblick der relevanten Sekundäranalysen bezüglich der Effekte systemischer Paar- und Familientherapie gegeben. Einige in der Psychotherapieforschung gebräuchliche Designs und zwei sekundäranalytische Methoden, die Metaanalyse und der »Box-Count«-Ansatz, werden beschrieben und aus einer systemischen Perspektive heraus kritisch beleuchtet. Vor diesem Hintergrund wird eine Antwort auf die Frage versucht, als wie nützlich systemische Paar- und Familientherapie einzuschätzen ist.
Frei, Robert, Astrid Riehl-Emde & Jürg Willi (1997): Verbessert die Technik der Konstruktdifferenzierung die Ergebnisse der Paartherapie? Eine vergleichende Untersuchung. In: Familiendynamik, 22 (1), S. 64–82.
Abstract: Die vorliegende Studie untersuchte die Effekte der Technik der Konstruktdifferenzierung in der Paartherapie. Es wurde vermutet, daß die einmalige Anwendung der Konstruktdifferenzierung in fünf Sitzungen die Ergebnisse der Therapie in bezug auf die gesamte Beziehungsqualität sowie auf die emotionale Qualität der Partnerschaft verbessert, verglichen mit einer gleichlangen Paarbehandlung ohne Konstruktdifferenzierung. Es wurden zwei randomisierte Gruppen von 21 bzw. 20 Paaren, die sich selbst für eine Therapie angemeldet hatten, mit einander verglichen, unter Anwendung des Fragebogens zur Beurteilung einer Zweierbeziehung, FBZ (deutsche Version der Dyadic Adjustment Scale, DAS), der Relationship Inventory, RI und einem selbstkonstruierten Veränderungsfragebogen, ZVFB. Zu Beginn der Therapie unterschieden sich die beiden Gruppen in keiner der untersuchten Variablen von einander. Nach fünf Therapiesitzungen zeigten die mit der Konstruktdifferenzierung behandelten Paare signifikant höhere Werte im Gesamtmaß für die Ehequalität, insbesondere in der dyadischen Übereinstimmung, sowie in den Maßen, welche die emotionale Beziehungsqualität messen. Zudem sind Unterschiede in der gegenseitigen Akzeptanz zugunsten der Paare der Experimentalgruppe festgestellt worden.
Schumacher, Bernd (1997): Kommunikation in Beratungssituationen als balancierte Unterschiedsproduktion. In: Familiendynamik, 22 (1), S. 83–113.
Abstract: Ausgehend von der Sprachphilosophie Wittgensteins, der Systemtheorie Luhmanns und der Interpretation von Bewußtsein und Kommunikation als Erzählung werden vier Gebrauchsdimensionen der Sprache auf ihren Zusammenhang zu dieser Erzählung untersucht. Es sind dies die Dimensionen Zeitform, thematisierter Kontext (Raum), Sprachmodus und Aufmerksamkeitsfokus entsprechend der Unterscheidung Problem/Lösung. Unter den Aspekten Hypothetisieren, Zirkularität, Neutralität und Neuigkeitswert von Beratung wird zunächst theoretisch für eine Balance der Sprache auf diesen Dimensionen plädiert. Der Gebrauch dieser Dimensionen in 25 Beratungs- und 17 Supervisionsgesprächen wird dann mit Hilfe von Prozeßanalysen im Markov-Modell untersucht. Die Ergebnisse werden schließlich für die sprachliche Praxis der Beratung konkretisiert.
Kowalczyk, Achim (1997): Rezension – Gillian Walker (1994): Systemische Therapie bei AIDS. »In the Midst of Winter…«. Dortmund (modernes lernen). In: Familiendynamik, 22 (1), S. 114-115.
Rohmann, Josef A. (1997): Rezension – A. Napp-Peters (1995): Familien nach der Scheidung. München (A. Kunstmann). In: Familiendynamik, 22 (1), S. 115-116.
Hargens, Jürgen (1997): Rezension – Joyce C. Mills und Richard J. Crowley (1996): Therapeutische Metaphern für Kinder und das Kind in uns. Heidelberg (Carl-Auer). In: Familiendynamik, 22 (1), S. 116-116.
Buchholz, Michael B. (1997): Rezension – Rosmarie Welter-Enderlin & Bruno Hildenbrand (1996): Systemische Therapie als Begegnung, Stuttgart (Klett-Cotta). In: Familiendynamik, 22 (1), S. 117-117.
Rohmann, Josef A. (1997): Rezension – J. Huinink (1995): Warum noch Familie? Zur Attraktivität von Partnerschaft und Elternschaft in unserer Gesellschaft. Frankfurt a.M./New York (Campus). In: Familiendynamik, 22 (1), S. 118-118.
Heft 2
Retzer, Arnold & Fritz B. Simon (1997): Editorial: Familientheorien. In: Familiendynamik, 22 (2), S. 133-135.
Stierlin, Helm (1997): Verrechnungsnotstände: Über Gerechtigkeit in sich wandelnden Beziehungen. In: Familiendynamik, 22 (2), S. 136–155.
Abstract: Rationalisierungsprozesse in der Moderne, wie sie von dem Soziologen Max Weber formuliert und erforscht wurden, bringen eine Berechnungs- und Verrechnungsdialektik in den Blick, die sich auf das Gerechtigkeitsempfinden von Beziehungspartnern auswirkt. Dabei spielt eine der ökonomischen Sphäre entlehnte Metaphorik eine sowohl zentrale als auch problematische Rolle. Diese Dialektik kommt auch zunehmend in Gerechtigkeitsvorstellungen, Erwartungen und Problemen zum Ausdruck, die zu Verrechnungsnotständen Anlaß geben können und dann zu Themen einer systemischen Therapie werden. Beispiele aus der systemischen Praxis des Autors illustrieren diesen Sachverhalt.
Spengler, Christian (1997): Koordination – Entwurf eines systemischen Normalitätskonzeptes. In: Familiendynamik, 22 (2), S. 156–179.
Abstract: Zunächst werden soziologische, anthropologische und psychoanalytische Begriffe von Normalität referiert. In einem zweiten Schritt wird eine bisher in der Literatur nicht bekannte Aussage Gregory Batesons zur Frage der Normalität wiedergegeben. Bateson äußerte bei einem Seminar, Normalität sei als Zustand der Koordination zu verstehen. In einem dritten Abschnitt wird die Batesonsche Idee weitergedacht, eine systemische Sicht von Normalität formuliert und mit Beispielen verdeutlicht.
Betta, Michela (1997): Von der Reorganisation der Familie. Auf dem Weg zur Geschlechtergesellschaft? In: Familiendynamik, 22 (2), S. 180–199.
Abstract: In ihrem Beitrag analysiert die Autorin jene theoretischen Ansätze, die in der heutigen Gesellschaft eine zunehmende Tendenz zur Individualisierung festzustellen glauben. Dabei kritisiert sie die diesen Ansätzen zugrundegelegte Annahme, der Individualisierungsprozeß sei ein Kennzeichen der Moderne so wie die Ehescheidung inzwischen ein Bestandteil der bürgerlichen Existenzform und ein Beweis des eingetretenen Wandels der Familie sei. Die Autorin stellt hingegen eine Krise des bislang geltenden Familienmodells fest, die u. a. auch individualisierende Tendenzen hervorbringt. Diese bilden aber keine Dynamik, sondern bestätigen lediglich die Überwindung der kulturellen Hegemonie der bürgerlichen Familie. Die Autorin versucht, die heutige Gesellschaftsordnung mit dem Begriff der »Geschlechtergesellschaft« zu beschreiben. Sie geht dabei von der Annahme aus, daß Liebe, Körper (als biologische Entität) und Genealogie hier eine sekundäre Rolle spielen.
König, Oliver (1997): Geben und Nehmen. Soziologische Anmerkungen zu einem psychotherapeutischen Konzept. In: Familiendynamik, 22 (2), S. 200–223.
Abstract: Aus soziologischer Sicht stellt sich der in den letzten Jahren bekannt gewordene psychotherapeutische Ansatz Bert Hellingers, der u. a. an die kontextuelle Therapie von Boszormenyi-Nagy anschließt, als Austauschtheorie dar. Die zugrundeliegenden Annahmen spielen eine zentrale Rolle in den Arbeiten der Ethnologen bzw. Soziologen Marcel Mauss und Claude Lévy-Strauss, sowie dem mikrosoziologischen Ansatz von George C. Homans sowie den daran anschließenden Rational-Choice Theorien. Beide Varianten von Austauschtheorien sind in der Soziologie sowohl auf das Generationen- wie auf das Geschlechterverhältnis angewandt worden. Zum Abschluß werden die Überlegungen von Hellinger auf dem Hintergrund der dargestellten soziologischen Beiträge interpretiert.
Roderburg, Sylvia (1997): Rezension – Michael B. Buchholz (1996): Metaphern der ›Kur‹ – Eine qualitative Studie zum psychotherapeutischen Prozeß. Opladen (Westdeutscher Verlag). In: Familiendynamik, 22 (2), S. 224-225.
Schwertl, Walter (1997): Rezension – Günter Schiepek (1991): Systemtheorie der klinischen Psychologie. Wiesbaden (Vieweg u. Sohn). In: Familiendynamik, 22 (2), S. 225-227.
Pirschel, Frank-Otto (1997): Rezension – Wolfgang Eberling & Jürgen Hargens (Hrsg.) (1996): Einfach kurz und gut. Zur Praxis der lösungsorientierten Kurztherapie. Dortmund (borgmann publishing). In: Familiendynamik, 22 (2), S. 227-227.
Ritscher, Wolf (1997): Rezension – Jochen Schweitzer & Bernd Schumacher (1995): Die unendliche und die endliche Psychiatrie. Heidelberg (Carl-Auer). In: Familiendynamik, 22 (2), S. 227-229.
Heft 3
Retzer, Arnold & Fritz B. Simon (1997): Editorial: Supervision. In: Familiendynamik, 22 (3), S. 237-239.
Abstract: Liest man neben der Zeitschrift »Familiendynamik« auch andere Zeitschriften und die einschlägigen Stellenanzeigen aus dem psychosozialen Kontext in den Tages- und Wochenzeitungen, findet man in den letzten Jahren gehäuft neben der Stellenbeschreibung und dem zu erwartenden Gehalt den Zusatz, daß einem Bewerber in der inserierenden Institution die Möglichkeit zur Teilnahme an »regelmäßiger Supervision« (intern oder gar extern) geboten wird. Was bedeutet das?
Es wird, so scheint es zunächst, neben der allmonatlichen Überweisung auf das Girokonto eine Art Lohnersatz- oder Lohnzusatzleistung versprochen. Nach längerem Nachdenken könnte aber die regelmäßige Bereitstellung von Supervision auch als ein Angebot betrachtet werden, welches das leidige Schicksal der Helfer erträglicher gestalten soll: auf das Schmerzensgeld gibt es noch eine Staubzulage. Vielleicht böswillig, aber immer noch im Bereich des Denkbaren, wäre der Gedanke, daß dies ja merkwürdige Institutionen sein mögen, bei denen man von vornherein davon ausgehen sollte, und die wohl selbst auch davon ausgehen, daß Supervision zur Bewältigung des beruflichen Alltags in diesen Institutionen nötig sei, oder aber daß man es höchstwahrscheinlich nur mit Bewerbern zu tun hat, die selbst wohl kaum in der Lage sein werden, ihren zugewiesenen Aufgaben gerecht zu werden. Wie man auch immer die Angebote von oder die Wünsche nach Supervision verstehen will, Supervision scheint selbst inzwischen eine Institution geworden zu sein, auf die in psychosozialen Institutionen sowohl von Leitungs- als auch von Mitarbeiterseite ungern verzichtet wird.
Retzer, Arnold, Bernd Schumacher, Gunthard Weber & Hans Rudi Fischer (1997): Zur Form systemischer Supervision. In: Familiendynamik, 22 (3), S. 240–263.
Abstract: Es werden Funktionen von Supervision für Institutionen, Teams, Supervisanden und Supervisoren beschrieben. Ausgehend von der Theorie sozialer Systeme und der Unterscheidung unterschiedlicher Phänomenbereiche menschlichen Lebens wird dann der Ort systemischer Supervision auf Kommunikation eingeschränkt. Verstehen innerhalb von Supervisionsprozessen wird auf Ausdrucksverstehen von Kommunikation beschränkt. Die Form von Supervision wird als Übergangsritual beschrieben, das aus drei Teilen besteht: Erzeugung von Unterschieden, Balancierung von Unterschieden und einer Schlußintervention in Form eines Vorschlags zum Vollzug oder zur Unterlassung von Handlungen.
Herwig-Lempp, Johannes (1997): Die Ressourcen der Teilnehmer nutzen – Handwerszeug für die systemische Supervision in der Gruppe. In: Familiendynamik, 22 (3), S. 264–287.
Abstract: Systemische Supervision greift immer auch auf die Lösungsvorstellungen und -ideen der Supervisanden zurück. Soweit es sich um Gruppen und Teams handelt, lassen sich die Ressourcen der Teilnehmer für die Supervision erschließen, d. h. die Teilnehmer selbst stellen entscheidende Ressourcen für die Supervision dar. Wie diese Ressourcen genutzt werden können, dafür werden in dem folgenden Artikel einige methodische Vorgehensweisen beschrieben.
Petzold, Hilarion G. & Francisca Rodriguez-Petzold (1997): Anonymisierung und Schweigepflicht in supervisorischen Prozessen – ein methodisches, ethisches, klinisches und juristisches Problem. In: Familiendynamik, 22 (3), S. 288–311.
Abstract: Anhand der Frage der Weitergabe persönlicher Geheimnisse und Daten in der Supervision werden Grundprobleme der Supervision in Methodik und Theorienbildung angesprochen: Arbeit im Mehrebenenmodell (Supervisor, Supervisand, Klient), Anonymität, Entfremdung durch Anonymisierung, die zu »Schäden durch Supervision« führen könnte. Hierzu werden Daten aus einer Pilotstudie mitgeteilt. Gegen Supervision ohne »informierte Einwilligung« (informed consent) der Klienten werden vier Argumente: ein rechtliches, ethisches, klinisches und supervisionsmethodisches geltend gemacht, die eine jüngst ergangene obergerichtliche Entscheidung in dieser Sache untermauern.
Schumacher, Bernd (1997): Ist Ihr Supervisor verkehrssicher? – Pläne für einen Supervisor-TÜV. In: Familiendynamik, 22 (3), S. 312–315.
Abstract: Im psychosozialen Feld, aber nicht nur dort, ist viel von knappen Ressourcen und der Notwendigkeit scharfer Kalkulation die Rede. Gleichzeitig läßt sich eine Verteilung bestimmter Leistungen nach dem Gießkannenprinzip beobachten. So werden in manchen Institutionen Supervisionen ohne Überprüfung deren Nützlichkeit gestrichen, während in anderen Institutionen von Leitungsseite für alle Abteilungen verbindliche Supervisionen vereinbart werden, ohne daß deren Nützlichkeit plausibel begründet wird. Vielerorten scheint eine gewisse Beliebigkeit im Zusammenhang mit dem Vorenthalten oder der Gewährung von Supervision Raum zu greifen, die gelegentlich auch mit einer gewissen Beliebigkeit von Supervisorenverhalten korrespondiert.
Angesichts dessen erscheint es sinnvoll, über Sinn und Zweck von Supervision nachzudenken, und sich zu fragen, was Supervision eigentlich leistet, leisten sollte und was nicht. Die Instanz, die über die Leistungsfähigkeit zu entscheiden hätte, wären zunächst die Käufer dieser Art von Dienstleistung. Wenn der Kunde nicht der Käufer ist, also beispielsweise dort, wo staatliche oder kirchliche Träger psychosozialer Einrichtungen Supervision zwar finanzieren, selbst aber nicht in Anspruch nehmen, mag es sein, daß deren Interesse darin liegt, den derzeitigen Stellenkürzungen etwas entgegenzusetzen, also, wie es Jochen Schweitzer formulierte, mit Supervision »Opium für das Volk« zu gewähren, um durch dessen sedierende Wirkung offene Revolutionen abzuwenden. Anzumerken wäre hierzu allerdings, daß die Häufigkeit, mit der bisher Revolutionen im psychosozialem Kontext stattgefunden haben oder gar aus ihm hervorgegangen sind, derartige Befürchtungen recht unbegründet erscheinen lassen.
Für die Kunden von Supervision, also denjenigen, mit denen schließlich Supervision stattfinden soll, gilt, daß diese mangels halbwegs verläßlicher Qualitätsstandards häufig vor dem selben Problem wie Klienten auf der Suche nach einem Therapieplatz stehen: Sie wissen eben nicht im voraus, worauf sie sich einlassen werden. Wo man bei Therapie eventuell noch auf publizierte Effektivitätsstudien zurückgreifen kann, fehlen diese für Supervision fast gänzlich und nur wer mehrere Supervisoren über einige Sitzungen hinweg erleben durfte, wird in der Lage sein, sich vielleicht selbst ein auf Vergleich basierendes Urteil zu bilden.
Herwig-Lempp, Johannes (1997): Rezension – Wolf Ritscher (1996): Systemisch-psychodramatische Supervision in der psycho-sozialen Arbeit. Theoretische Grundlagen und ihre Anwendung, Eschborn (Dietmar Klotz). In: Familiendynamik, 22 (3), S. 316-317.
Hargens, Jürgen (1997): Rezension – Karin Egidi & Marion Boxbücher (Hrsg.) (1996): Systemische Krisenintervention. Tübingen (dgvt.). In: Familiendynamik, 22 (3), S. 317-318.
Hargens, Jürgen (1997): Rezension – Steven Friedman (Hrsg.) (1995): The Reflecting Team in Action. Collaborative Practice in Family Therapy. New York (Guilford). In: Familiendynamik, 22 (3), S. 318-319.
Pflüger, Hans-Georg (1997): Rezension – Harald Pühl (1994): Handbuch der Supervision 2. Berlin (Edition Marhold). In: Familiendynamik, 22 (3), S. 319-320.
Heft 4
Retzer, Arnold & Fritz B. Simon (1997): Editorial: Konzeptuelles. In: Familiendynamik, 22 (4), S. 329-331.
Abstract: Eigentlich braucht man keine Theorien, um in einer Familie zu leben oder mit ihr zu arbeiten – man muß nur wissen, was man jeweils zu tun hat. Doch das ist das Dilemma: Weiß man, was man zu tun hat, so hat man meist auch eine Theorie darüber, wie Familien und ihre Mitglieder funktionieren oder funktionieren sollten. Meist sind es stillschweigende, nicht näher reflektierte Vorannahmen, die unsere selbstverständlichen Erwartungen an die Spielregeln familiären Zusammenlebens, an das Verhalten ihrer Mitglieder, ihr Fühlen und Denken steuern. »Selbstverständlich« sind diese Erwartungen nicht etwa, weil ihre Grundlagen – die »inneren Landkarten«, die Konzepte und Alltagstheorien, die unsere Deutung der Welt leiten – von jedem verstanden werden, sondern weil jeder, der sie verwendet, damit rechnen kann, daß andere sie auch verwenden. Wenn man »weiß«, was alle »wissen«, dann kann man sich in seinem Handeln relativ sicher sein: Man kennt die Spielregeln des jeweiligen sozialen Kontextes und wird nicht unangenehm auffallen; man kennt die Sprache, die zu sprechen ist, man weiß, wann welcher Begriff mit welcher Bedeutung zu verwenden ist, man kann mitreden. Wer eine andere, fremde (innere) Landkarte verwendet, läuft Gefahr, sich zu ver- laufen. Er wird nicht mehr verstanden, fällt aus der Kommunikation heraus, wird ex-kommuniziert. Auf diese Weise entsteht eine (mehr oder weniger) von allen Mitspielern – in ihren Köpfen und tat-sächlich – geteilte soziale Realität. In der Interaktion und Kommunikation miteinan- der werden Theorien, »innere Landkarten«, Konzepte, Modelle entwickelt, die Auswirkungen auf das jeweils individuelle und kollektive Handeln haben, was wiederum eine bestätigende oder verändernde Wirkung auf die Theorien hat, was wiederum …, was wiederum …
Simon, Fritz B. (1997): Ent-Lernen – Einige konstruktivistische Grundlagen der Psychotherapie. In: Familiendynamik, 22 (4), S. 332–347.
Abstract: Wissen und Lernen sind keine direkt beobachtbaren Phänomene, sondern Erklärungsprinzipien für das Verhalten bzw. die Veränderung des Verhaltens von Individuen oder sozialen Systemen. Versucht man zu erfassen, welche intrasystemischen Prozesse mit diesen von außen beobachtbaren Phänomenen verbunden sind, so läßt sich Lernen als Entwicklung von Interaktionsmustern (auf intraindividueller Ebene z.B. von Nervenzellen, auf sozialer Ebene z.B. von Rollenträgern etc.) definieren. Die Aktivierung solcher Netzwerke erscheint dann als Nutzung von Wissen. Dieser Zusammenhang kann erklären, warum therapeutische Prozesse häufig so schwer zu induzieren und nicht einfach als Lernprozesse zu verstehen sind. Wo bereits erlernte Muster zur Verhaltenssteuerung (z.B. Prozeduren zur Problemlösung) zur Verfügung stehen, braucht nicht mehr gelernt werden. Es bedarf daher zunächst des Ent-lernens, d.h. der Blockierung dieser immer irgendwie erfolgreichen und das Überleben bisher sichernden Strategien, um neue Muster lernen zu können.
Stierlin, Helm (1997): Zum aktuellen Stand der systemischen Therapie. In: Familiendynamik, 22 (4), S. 348–362.
Abstract: Seit ihren Anfängen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg haben sich die Familien- und systemische Therapie stürmisch und in z. T. unterschiedlichen Richtungen entwickelt. Das Feld zeigt sich immer unübersichtlicher, und eine Bestandsaufnahme gestaltet sich dementsprechend schwierig. Der folgende Beitrag bemüht sich um einen Überblick, indem er sich Elemente der insbesonders von Hegel entwickelten dialektischen Methode bedient: Er zeichnet eine Entwicklung nach, worin bestimmte Trends und Positionen innerhalb der Familien- und systemischen Therapie dazu tendieren, Gegentrends und Gegenpositionen auszulösen, was dann wiederum nach einer »Aufhebung der Gegensätze« in dem dreifachen Sinne verlangt, den schon Hegel dem Begriff Aufhebung gab.
Spengler, Christian (1997): Psychische Systeme. In: Familiendynamik, 22 (4), S. 363–395.
Abstract: Auf der Grundlage systemtheoretischer Ansätze, besonders der Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann zeigt der Autor Möglichkeiten, Konzepte einer Theorie psychischer Systeme zu denken. Muster und Prozesse psychischer Aktivität werden im Rahmen einer systemischen Neuformulierung der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie diskutiert. Die Konzepte der Selbst- und Objektrepräsentationen und Objektbeziehungen werden als Subsysteme psychischer Systeme beschrieben. Diese werden ergänzt durch den Begriff Kontextrepräsentation, der von Gregory Batesons Ideen über Kontexte abgeleitet ist. Der Diskurs führt zu einer Integration psychoanalytischer Überlegungen über Affekte in eine systemische Sichtweise.
Fisek, Güler Okman & Renate Schepker (1997): Kontext-Bewußtheit in der transkulturellen Psychotherapie: Deutsch-türkische Erfahrung. In: Familiendynamik, 22 (4), S. 396–413.
Abstract: In der vorliegenden Arbeit erfolgt zunächst eine Analyse von möglichen Therapeuten-Positionen (Alpha- und Beta-Bias), die die Therapeut-Klient-Interaktion beeinflussen. Im Anschluß daran wird ein konzeptueller Rahmen für ein Verständnis des Klienten-Kontextes dargestellt und an der traditionellen türkischen Kultur expliziert. Dadurch gelingt es, die Migrationserfahrung von einem kontextuellen Standpunkt aus zu begreifen. Schließlich werden wesentliche Merkmale eines kontextsensiblen therapeutischen Standpunktes für deutsche Therapeuten entwickelt, die mit Klienten aus der Türkei arbeiten.