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„Vorsicht! Frisch gestrichen!“?

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Selbstorganisation – ein Paradigma für die Humanwissenschaften, so lautet ein aktueller Band, der von Kathrin Viol, Helmut Schöller und Wolfgang Aichhorn „zu Ehren von Günter Schiepek und seiner Forschung zu Komplexität und Dynamik in der Psychologie“ herausgegeben wurde, wie der Untertitel lautet. Erschienen ist der Band im Springer-Verlag. Ausgangspunkt der Beiträge war eine internationale Konferenz in Salzburg, die anlässlich des 60. Geburtstags von Günter Schiepek 2018 in Salzburg stattfand. Andreas Manteufel hat das Buch für systemagazin besprochen.

Andreas Manteufel, Bonn:

Vor zwei Jahren fand in Salzburg, dem beruflichen Wirkungsort von Günter Schiepek, ein Symposium zu seinem 60. Geburtstag statt. Nun erschien das Buch zum Symposium bzw. zum runden Geburtstag. Zu einem großen Teil decken sich die damalige Referentenliste und die Autorengruppe. Schiepek selbst, der Vielschreiber, dessen umfangreiches Oevre auf den letzten dieser über 600 Seiten aufgelistet ist, darf sich zurücklehnen und anschauen, was alte und neuere Weggefährten in ihren jeweiligen Fachgebieten zu einer synergetischen humanwissenschaftlichen Forschung beitragen.

Was da vor dem Auge des Lesenden vorbeizieht ist eine beeindruckende Parade von Arbeiten aus den unterschiedlichsten Disziplinen, geschrieben von Theoretikern, Forschern und Methodikern, klinischen oder beratenden Praktikern, zusammengehalten durch das Band der Synergetik und den Rahmen dessen, was im einleitenden Artikel des Mitherausgebers Helmut Schöller „Humanwissenschaften“ genannt wird, als hätte man diesen Terminus erfinden müssen, um der bunten Mitarbeiterschar des Geburtstagskindes einen Vereinsnamen zu verleihen. „Wie lassen sich alte, ungewünschte Strukturen aufbrechen, wie kann man selbstorganisatorische Prozesse unterstützen, wie ,steuern’?“ (S. 12) skizziert Schöller die abstrakte, aber allen gemeinsame Fragestellung.

Für Theoretiker zeigt das Prinzip der Selbstorganisation stets die Grenzen von Machbarkeits- und Kontrollphantasien auf. Klaus Mainzer erläutert dies in Bezug auf die boomende KI-Forschung, sicherlich fern davon, der Selbstorganisation die Rolle eines „göttlichen Prinzips“ zu zu sprechen, wie es andererseits Hans Menning in seinem Beitrag genussvoll in den Raum wirft. Uwe An der Heidens Parforceritt durch die Philosophie zeigt die Allgegenwart des Selbstorganisationsbegriffs dort, enttarnt damit natürlich auch jede Neuheitsrhetorik. Felix Tretter, ein Universalgelehrter, stets unzufrieden mit dem metaphernlastigen “State-of-the-art” psychologischer Modellbildungen, möchte dieses Manko mit Hilfe der komplexen Systemtheorien überwinden. Und doch scheinen mir am Ende seiner elaborierten Ausführungen immer noch alte, vielleicht auch neue “Black-Boxes” unbeantwortet zu bleiben. Mehrere Artikel geben Einblick in den mittlerweile gut erprobten Ansatz des Synergetischen Navigationssystems (SNS). Dieses kombiniert das psychotherapeutische Feedbackgespräch mit der Erfassung und Auswertung therapeutisch relevanter Verlaufsdaten. Die permanente Beobachtung solcher Verlaufsdynamiken bietet, darauf weisen Praktiker aus den verschiedenen Therapieschulen hin, Chancen zur zeitnahen Prognose kritischer Dynamiken, etwa Suizidalität (Clemens Fartacek und Martin Plöderl). Längst arbeiten Therapeuten und Kliniken mit dem SNS, das auf ausgefeilten und komplexen methodischen Kennwerten und Auswertungsprozeduren beruht. Sich damit auseinander zu setzen kostet Zeit und Hirn, ist dann aber durchaus nachvollziehbar. Mit der Orientierung an sogenannten Therapieschulen hat das alles nichts zu tun, wie die heterogene Zusammensetzung der Autoren aus dem Bereich Psychotherapie beweist.

Teilweise mühsam nach zu vollziehen sind für Nicht-Insider die strenger naturwissenschaftlichen Artikel, z.B. zu Hirnforschung und Physiologie. Artikel über Beratungs-, Organisations- und Führungsthemen (Marion Walz): „Fahren im Nebel auf sehr kurze Sicht“, S. 555) würdigen die von Schiepek formulierten „generischen Prinzipien“ als gute Orientierungshilfe im Umgang mit Komplexität. Zum Thema Koordination und Kooperation wird in mehreren Artikeln der Bogen von der Physiologie zur Sozialpsychologie geschlagen.

Der Eindruck am Ende dieser Lektüre ist der einer reinen Freude am interdisziplinären Denken und Forschen, wie sie dem Geburtstagskind eigen ist. Teilweise muss man sich „durchbeißen“, stößt auf harte methodische Nüsse, dann wieder auf augenscheinliche Plausibilitäten, die jeder Praktiker in seinem Bereich täglich bestätigen kann. Man muss den „Blick über den eigenen Tellerrand“ lieben, dann wird man auch dieses Buch lieben, das auf höchstem Niveau geschrieben und gestaltet ist. Immer noch bleibt zu bedauern, wie wenig die akademische Mainstream-Psychologie diesen modernen Anstrich einer psychologischen Theorienbildung und (nichtlinearen) Methodik aufgreift, als stünde darauf: „Vorsicht! Frisch gestrichen!“.

Kathrin Viol, Helmut Schöller & Wolfgang Aichhorn (Hrsg.)(2020): Selbstorganisation – ein Paradigma für die Humanwissenschaften. Zu Ehren von Günter Schiepek und seiner Forschung zu Komplexität und Dynamik in der Psychologie

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Hermann Haken.

Softcover, 614 S.
ISBN: 978-3-658-29905-7
Preis: 69,99 €

e-book
ISBN: 978-3-658-29906-4
Preis: 54,99 €

Verlagsinformation:

Dieser Sammelband zeichnet ein umfassendes Bild der Selbstorganisation in den Humanwissenschaften und stellt sich den folgenden Fragen: Was ist Selbstorganisation? Welche Prozesse in den Humanwissenschaften sind selbstorganisiert? Was sind die Merkmale solcher Prozesse und wie kann man sie identifizieren? Welche Möglichkeiten der Steuerung gibt es? Wie können Prozessmonitoring und Prozessfeedback auch in Therapie und Beratung unterstützend helfen? Die Beiträge befassen sich mit einem breiten Spektrum an Themen, Methoden und Konzepten der Selbstorganisation komplexer Systeme, u.a. aus der Synergetik, nichtlinearen Dynamik und Chaostheorie.

Über die Herausgeber:

Dr. Kathrin Viol und Dr. Helmut Schöller sind langjährige Mitarbeiter von Univ.-Prof. Dr. Günter Schiepek. Der Schwerpunkt der Forschung liegt auf der Erfassung und Analyse von Veränderungsprozessen in Psychotherapie und Beratung.
Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Aichhorn ist Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und stellvertretender Leiter des Instituts für Synergetik und Psychotherapieforschung der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg.

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Ein Kommentar

  1. Martin Rufer sagt:

    Einen schöne Rezension hast Du da geschrieben, lieber Andreas, auch wenn ich davon ausgehe, dass diese Farbe wohl noch lange nicht trocknet…
    Mit liebem Gruss aus Bern
    Martin

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