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Ulrich Sollmann: Dem erlebten Gedanken schreibend Ausdruck verleihen

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Ich war keine Leseratte. Meine Vorliebe galt der damals so genannten „Schundliteratur“. Diese war in meiner Jugend  der pädagogische Gattungsbegriff für Mickey-Mouse-Hefte, Fix & Foxi, Sigurd, Nick der Weltraumfahrer oder Jerry Cotton. Ich favorisierte die eher kürzeren, heute würde man sagen „bildgestützten“ Texte, deren Lektüre mich durch das Zusammenspiel von lustigen Bildchen, kurzen Texten und plakativen, daher umso spannenderen Inhalten lockte.
Diese meine spezielle Vorliebe begleitet mich seitdem im Leben auch als Schreiberling. Anfangs versuchte ich mich im akademischen Schreiben, später musste ich für die Krankenkassen Berichte schreiben:  Psychotherapieanträge, Verlängerungs- und Abschlussberichte. Diese gehörten zu meiner Abrechnungspraxis im Rahmen der Kostenerstattung (lange vor Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes). Leider wurden die Berichte durch die Kassen nicht bezahlt. Wie also, so dachte ich mir damals, könnte man die Verpflichtung der Krankenkasse gegenüber, die Verantwortung den Klienten gegenüber, aber auch die Lust auf meine eigene Freizeit sinnvoll miteinander verbinden?
Im Rahmen von Weiterbildungs-Workshops wurden damals einige meiner Kommentare zu Konzepten von Körperpsychotherapie und Gruppenprozessen  auf Tonband festgehalten. Ich war also ein wenig vertraut mit Tonband und Diktiergerät, auch wenn sich die auf dem Tonband festgehaltenen Diskussionen anfangs doch eher kryptisch anhörten.
Die Hemmschwelle einem solchen Gerät gegenüber war also niedrig und verbunden mit der Not, Effizienz im Rahme der Abfassung von Berichten walten zu lassen, ermöglichte mir das einen Zugang zum eleganten Schreiben, anfangs im Bereich Psychotherapie, später dann im Bereich Populärliteratur, bis hin zu meiner heutigen Schreibe im Blog oder Kolumne. Einen Zugang, der eher kurz und bildhaft ist, „plakativ wirkend“ und spannungsvoll. Heute weiß ich, dass ich hierdurch ganz unterschiedliche Lesergruppen erreichen kann.
Damals hatten wir gerade unsere beiden Kinder bekommen, was meine Zeit zum Abfassen solcher Berichte natürlich noch schmälerte. Lediglich in der Zeit, wenn meine Frau und die Kinder mittags schliefen, bot sich mir die Möglichkeit, überhaupt Berichte zu schreiben.
Allmählich entwickelte ich bei den gesprochen-geschriebenen Texten eine gewisse Fertigkeit. Meine Sekretärin tippte die Berichte und legte sie mir zur Korrektur vor. Im Laufe der Jahre verfeinerte ich Konzept, Struktur und Stil meiner „Schreibe“:  den Therapieprozess nachzuerleben, nach-zu-denken und gestützt durch meine stichwortartigen Aufzeichnungen ins Mikrofon des Diktiergeräts zu sprechen. Im Laufe der Zeit verringerte sich der Diktier-Aufwand erheblich. Gleichzeitig machte es mir sichtlich Spaß, die Berichte zu verfassen.
Ich gewann Zeit. Dies wirkte sich auch ökonomisch aus. Und ich bekam Lust auf mehr. Mehr zu diktieren, mehr diktierend auszuprobieren, mehr mich selbst diesbezüglich zu entwickeln, sowie mehr Lust, über Klienten und mich in der Therapie zu schreiben.
Der Umstand, dass die Berichte in der Regel kommentarlos vom medizinischen Dienst der Krankenkassen, sprich vom Gutachter, akzeptiert wurden, machten mir Mut, meine Berichte schließlich nur noch so abzufassen.
Um nahe genug auch am Klienten zu sein, gab ich vor Abfassen des Berichtes einen Fragebogen aus, um mich später auch auf die konkreten (Selbst-) Aussagen der Klienten stützen zu können. Insoweit machte ich die Erfahrung, dass ich die wesentlichen „Anspruchsgruppen“ befriedigte: Krankenkasse, medizinischer Dienst, Klienten, mich selbst.
Anfang der 90-er Jahre begann ich dann in dieser Form ausführlich, differenziert, bildhaft und „professionell unüblich“ über Körperpsychotherapie, über Klienten und mich zu schreiben, was wiederum einen wesentlichen neuen Einfluss auf meinen Umgang mit Klienten in der Therapie und mit mir selbst ausübte. Während ich zuvor über Fälle schrieb, kam es mir vor, dass ich nun therapeutische Geschichten schrieb.
Psychotherapie ist eine gemeinsame soziale Aktion von Klient und Therapeut. Ein Dialog, der die vergangene Wirklichkeit, die Lebensgeschichte erinnern und erleben lässt sowie durcharbeiten hilft – auf eine Weise, dass das Früher und das Heute miteinander vereinbart sind.
Dieser Rekonstruktion von Wirklichkeit in der Therapie steht das aktuelle Geschehen in der Therapiesituation, in der Therapiebeziehung selbst gegenüber. Klient und Therapeut erschaffen gewissermaßen gemeinsam ihre lebendige Wirklichkeit. Diese Konstruktion von Wirklichkeit ist ein kreativer, einmaliger Vorgang, in den die Selbst-Erfahrung sowohl zur Selbst-Findung als auch zur Selbst-Erfindung wird. Das Geschehen in der Psychotherapie, die Therapiebeziehung, ist somit immer Beschäftigung mit der Vergangenheit und situationsspezifische, neue Gestaltung zugleich. Etwas, an dem Klient und Therapeut gleichermaßen beteiligt sind.
Das Zusammenspiel der von mir gelebten, unterschiedlichen Rollen kann m.E. am Besten als ein narratives Geschehen beschrieben werden. Bin ich doch zugleich immer als Therapeut, als „Vertreter“ der Krankenkasse, als Mensch, als Mann, als Vater oder Schreiberling mit im Spiel. Narrativ zu schreiben meint m.E. gerade in der Körperpsychotherapie auch über noch-nicht-bewusste, nicht bewusste, unbewusste Dinge zu schreiben, die nicht selten wie ein Geheimnis wirken. Therapie wird zur gemeinsamen Spurensuche von Klient und Therapeut, zu einer Entdeckungsreise ins Unbekannte.
Die therapeutische Geschichte ist also keine Fallgeschichte im herkömmlichen Sinne. Sie zeigt wie ich Therapie mache und wie das wirkt, was da wirkt. Sie ist ein Ausschnitt aus einem oft jahrelangen, hochkomplexen Prozess einer Therapiebeziehung, die sowohl durch Übertragungselemente, reale körperliche Begegnung als auch andere Formen der Realerfahrung zugleich gespeist wird. Die therapeutische Geschichte kann m.E. besonders subtil dynamische, atmosphärische und nicht-bewusste Aspekte des Therapiegeschehens spiegeln. Dies ist in herkömmlichen Fallschilderungen, sogenannten Fall-Vignetten so nicht möglich, sind diese doch eher anonym, abgespalten, zu stark eingegrenzt, seziert.
Ich hoffe, durch die therapeutische Geschichte in einen „Zwischenbereich“ vordringen zu können und diesen zu beschreiben. Gemeinsam mit den Klienten den Ort „magischer Geheimnisse“ zu betreten, das dort wirkende Unbekannte, die Spannung, die Aufregung oder gar die irritierende Langeweile zu erleben, um dann diesem Zwischenraum, diesen Zwischentönen menschlichen Lebens Gestalt zu verleihen. Indem ich Vergangenes und Zukünftiges in der therapeutischen Geschichte verknüpfe, hilft diese, zu verstehen, schafft aber gleichzeitig auch etwas Neues, indem sie eine Wirkung beim Klienten, bei mir und bei möglichen Lesern hervorruft.
Anfang der 90er Jahre habe ich in zwei Büchern zahlreiche solcher therapeutischen Geschichten erzählt. Habe zuvor die Klienten um Erlaubnis gebeten, ihnen anschließend den Text zur Lektüre und Korrektur vorgelegt. Sie hatten nach der Lektüre des endgültigen Textes  immer noch die Möglichkeit, ihre Einwilligung zurückzuziehen. Eindrucksvoll war dabei, wie die Lektüre der therapeutischen Geschichte durch den Klienten sich wiederum auf den Therapieprozess selbst auswirkte.
Insoweit schließt sich für mich der Kreis in der Begegnung zwischen Klient und Therapeut. Hierüber auf diese Weise zu schreiben wurde zu einer der wichtigsten „lessons learnt“ in meinem persönlichen und beruflichen Leben.
Auch wenn einige die therapeutischen Geschichten für „professionelle
Schundliteratur“ halten möchten, so stehe ich weiter zu meiner schon in der Kindheit entwickelten Vorliebe zu eben jenem Zugang zum Lesen, zum Schreiben und zum Menschen.

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