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Systemischer Kinderschutz?

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Das Psychologischen Privatinstituts für Systemische Beratung (PPSB) in Hamburg hat im vergangenen Jahr ein „systemisches Kinderschutzprogramm“ unter dem Titel „Navigation in rauen Gewässern“ veröffentlicht, in dem die Einrichtung von „Lotsenstellen“ in Organisationen gefordert wird, die die Kinderschutz-Praxis der jeweiligen Organisation anleiten, beraten, kontrollieren und auch disziplinarisch überwachen sollen. In den Verlagsinformationen heißt es: „Im Kinderschutz begibt man sich oft in sprichwörtlich raue Gewässer – Untiefen, Brandung und Stürme sind keine Seltenheit und brauchen eine starke Navigation. Das Kinderschutzprogramm des Autor*innenteams des PPSB-Hamburg hilft, das Steuer in jeder Situation fest in der Hand zu halten.“ Martina Furlan vom DKSB Dortmund und Lehrtherapeutin (SG) am Institut an der Ruhr, hat das Buch gelesen und ist mit Vielem, wenngleich nicht Allem einverstanden. Ihre Rezension hat mich ebenfalls zur Lektüre gereizt, ich bin dabei aber zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen. Mir ist nicht richtig klar geworden, was das „Systemische“ an diesem Konzept sein soll. Zwei ausführliche Rezensionen und eine gute Gelegenheit für die Leserschaft, sich selbst ein erstes Bild zu machen!

Martina Furlan, Dortmund:

Ein Thema, das zu meinem beruflichen Alltag gehört und mich daher sofort neugierig gemacht hat! Was macht ein „systemisches Kinderschutzprogramm“ aus? Welche Gedanken und Ideen erwarten mich und bereichern im besten Fall meine Praxis? Mit Neugier und der Lust an Auseinandersetzung mit diesen Fragen habe ich mich mit diesem Buch beschäftigt, das natürlich auch gut in die aktuelle politische Situation passt. Spätestens in der Folge der Missbrauchsskandale von Lügde, Münster und Bergisch-Gladbach hat das Thema Kinderschutz und die Verpflichtung, Schutzkonzepte zu erarbeiten, Fahrt aufgenommen. Viele Einrichtungen der ambulanten und stationären Jugendhilfe, aber auch Kitas oder Sportvereine sind aktuell mit der Umsetzung befasst und auf der Suche nach Orientierung in diesem komplexen Prozess. Ich war also neugierig, ob und wie das vorgelegte Programm dabei anregen und unterstützen kann.

Das Autor:innenteam des PPSB-Hamburg legt sein Verständnis des systemischen Ansatzes zu Grunde, nämlich „die begründete Überzeugung, dass Kommunikation und die Qualität derselben ein Schlüssel für Entwicklung sind.“ (S. 11) Gerade im Kinderschutz gilt es, Sprachfähigkeit zu entwickeln, schwierige und unangenehme Themen besprechbar zu machen und damit eine Kultur von Transparenz und Beteiligung zu schaffen. In ihrem Programm nehmen die Kolleg:innen dafür alle Ebenen in den Blick: die Organisationsentwicklung – mit der spannenden und für das vorgestellte Programm zentralen Idee einer „Lots:innenstelle Kinderschutz“ –, den Schutz der Mitarbeiter:innen sowie die konkrete Arbeit mit Familien und deren Kontexten. 

Einleitend beschreiben die Autor:innen die Haltung und Grundgedanken, die ihrer Arbeit zugrunde liegen. Hier geht es um das diesem Band zugrunde liegende Verständnis von „Kindeswohl“ und „Kindeswohlgefährdung“, um das professionelle Selbstverständnis und die Haltung der im Kinderschutz involvierten Fachkräfte sowie die Auseinandersetzung mit damit verbundenen ethischen Fragen. Den Umgang mit diesem Themenfeld sehen die Autor:innen als Ergebnis gesamtgesellschaftlicher Entwicklungs- und Aushandlungsprozesse, den sie als „Kindeswohl-Kultur“ (S. 30 ff) bezeichnen. Diese Prozesse sind dynamisch und unterliegen ständiger Entwicklung und Veränderung. Sie sind gekoppelt bzw. stehen zum Teil in Konkurrenz zu Werten wie Privatheit und dem Recht der Erziehungsverantwortlichen, den Umgang mit den eigenen Kindern in eigenem Ermessen zu gestalten. Interessant ist hier die Frage nach den Tabus, die aktuell unsere „Kindeswohl-Kultur“ bestimmen: verwiesen sei beispielsweise auf das Tabu, Frauen als Täterinnen zu denken oder der historisch nachvollziehbar begründete besondere Schutz der Familie durch unser Grundgesetz, der dazu führt, dass „Familie der gefährlichste Ort für Kinder und Jugendliche“ ist (S.32). Daneben hat auch die Auseinandersetzung mit interkulturellen Aspekten Raum.

Jedes Kapitel enthält sehr praxisnahe Übungen und Anregungen zur Auseinandersetzung mit eigenen Haltungen und Vorstellungen, die das Übertragen in die berufliche Praxis ermöglichen.

Herzstück des Kapitels Systemisches Organisationskonzept zur Erstellung eines Schutzprogramms ist die Idee der Etablierung der eingangs erwähnten „Lots:innenstelle Kinderschutz“, die als unabhängige Position in der Leitungsebene verortet ist. Innerhalb der Organisation ist sie zuständig für Fachaufsicht, sie trägt die Verantwortung und hat Entscheidungskompetenz für die Entwicklung, Fortschreibung und Evaluation des Schutzprogramms. Die angemessene Beteiligung aller Organisationsebenen ist Voraussetzung für die Akzeptanz in der Organisation. Für alle Beteiligten eine Herausforderung: die Lots:innenstelle handelt im Auftrag – denn Schutzprogramm ist Leitungsverantwortung – aber unabhängig von Geschäftsführung und Leitung und ist mit allen notwendigen Ressourcen und Befugnissen – z.B. Durchführung personalrechtlicher Maßnahmen – ausgestattet. Sie organisiert Fortbildung, Beratung und Supervision und vertritt die Organisation nach außen in den entsprechenden Netzwerken. Die dargestellte Unabhängigkeit in alle Richtungen ist ein deutliches Statement, welche Bedeutung diesem Thema zugesprochen wird. Sie sorgt innerbetrieblich auch dafür, dass Abläufe und Verfahren im Kinderschutz für alle transparent sind und größtmögliche Handlungssicherheit entsteht. 

Es handelt sich also um eine äußerst komplexe, facettenreiche Aufgabe, die dem Thema Kinderschutz höchste Priorität einräumt. Ob sie in der beschriebenen und gewünschten Weise wirksam werden kann, scheint mir maßgeblich von der beschriebenen Unabhängigkeit und Ausstattung abhängig.

Auch wenn die Lots:innenstelle damit das Thema Kinderschutz prominent repräsentiert, muss es selbstverständlich von allen der Organisation Zugehörigen gelebt werden. Dafür empfehlen die Autor:innen die Etablierung eines regelmäßig tagenden Qualitätszirkels Kinderschutz, dem neben der Lotsenstelle Vertreter:innen der Leitung / Geschäftsführung und Delegierte aus allen Arbeitsbereichen angehören. Damit ist dafür gesorgt, dass die konkreten Anliegen und Bedarfe der verschiedenen Gruppen in die Qualitätsentwicklung und -sicherung einfließen.

Die Umsetzung von Schutzkonzepten und die Etablierung interner Abläufe braucht verlässliche und verbindliche Strukturen, die über die Arbeit mit Verträgen gewährleistet werden sollen.

Die Idee der Lots:innenstelle hat mich nachhaltig beschäftig und angeregt, weil damit viel Potential für Entwicklung verbunden ist. Gleichzeitig hat das für Reibung in meinen Ideen gesorgt: wie können gerade kleine(re) Organisationen das umsetzen und finanzieren? Ich wäre neugierig zu erfahren, ob es schon Einrichtungen gibt, die diese Idee umsetzen und erproben konnten. Schutzkonzepte gibt es nicht zum Nulltarif! Es lohnt sich daher sicher, diese Fragen auf politischer Ebene weiter zu verfolgen. Und die Schere im eigenen Kopf in Frage zu stellen, war für mich ein gutes Ergebnis.

Das folgende Kapitel widmet sich dem Schutzprogramm für Mitarbeiter:innen vor Überforderung in der Arbeit mit Kinderschutzfällen. Alle, die regelmäßig mit Fragen von Kindeswohlgefährdung befasst sind, kennen die enorme Belastung und die Sorge, Fehlentscheidungen zu treffen. Daher ist die Fürsorge für Mitarbeiter:innen ein äußerst relevanter Bestandteil eines Schutzprogramms, das meiner Erfahrung nach aber oft eher – passend zum Thema – vernachlässigt wird. Mir hat sehr gut gefallen, dass sich in diesem Kapitel sehr praxisorientierte Anregungen finden, die die Mitarbeiter:innenebene ebenso wie die Leitungs- und die organisatorische Ebene einbeziehen. So wird sensibilisiert für den Umgang mit Grenzen auf den verschiedenen Ebenen und für die Verantwortung und das Aufgabenspektrum von Leitung und Lots:innenstelle. Die Auseinandersetzung mit „nicht (mehr) hilfreiche(n) Konstruktionen und Handlungsstrategien“ (S. 108) wie Bagatellisieren, Vermeiden und Aufmerksamkeitsverlust für die Hilfesuchenden wird thematisiert. Persönlich würde ich diese Strategien vielleicht noch um den Punkt „Aktionismus“ erweitern. Daran schließen sich Vorschläge, Anregungen zur Selbstreflexion und methodische Vorschläge an, die die Leser:in dabei unterstützen, diese Hürden zu umschiffen und konstruktive Entwicklungsschritte anregen.

Die Autor:innen empfehlen die regelhafte Arbeit in Zweierteams zur Entlastung und zum Schutz von Mitarbeiter:innen in Kinderschutzfällen und regen an, Schutzverträge zu formulieren, die Vereinbarungen und Abläufe klar festhalten.

In dem Kapitel zur Umsetzung des Schutzprogramms innerhalb der Organisation befassen sich die Autor:innen mit der jeweils individuellen Ebene der einzelnen Mitarbeiter:innen und der Kooperation in Netzwerken: mit welchen Fragen und Herausforderungen müssen sie sich auseinandersetzen, um ihre jeweils eigene Rolle und Verantwortung innerhalb des Schutzkonzepts der Organisation auszufüllen? Wer muss wann mit wem kooperieren? Es geht um Aspekte wie Transparenz und Beschwerdemanagement, Macht, Partizipation, Grenzen setzen, Sexualität. Die Auseinandersetzung mit diesen im Kinderschutzdiskurs relevanten Themen wird durch konkrete Methoden und Reflexionsanregungen nachvollziehbar und umsetzbar. Hier zeigt sich die Erfahrung des Autor:innenteams aus Fortbildung und Supervision.

Besonders anregend waren für mich die Gedanken zur Vorbereitung und Gestaltung von sogenannten „Kinderschutzgesprächen“ und der Vorschlag, dafür einen einrichtungseigenen Gesprächsleitfaden zu entwickeln. Eine Idee, die ich in mein Team auf jeden Fall mitnehme!

Auch den Abschnitt über institutionelle Kindeswohlgefährdung und die Entwicklung eines Fahrplans für den meist gefürchteten Fall fand ich hilfreich und ich kann mich der Empfehlung nur anschließen, sich damit auseinander zu setzen und gut zu reflektieren, welche Vereinbarungen dafür getroffen werden und wie sie transparent für alle Mitarbeiter:innen kommuniziert werden können. 

Mit dem Beitrag zum Arbeiten mit Familien und ihrem sozialen Umfeld im Kontext von Kindeswohlgefährdung knüpfen die Autor:innen an ihr bewährtes Fortbildungskonzept „systemisch-pädagogische Kinderschutzfachkraft“ an, das im Sinne eines kooperativen, ressourcenorientierten Ansatzes davon ausgeht, dass auch in Gefährdungssituationen Ressourcen enthalten und für gelingende Veränderung nutzbar gemacht werden können. Daneben steht das Verständnis, dass klare Kommunikation und Entscheidungen zum Schutz in Gefährdungssituationen nötig sind, wenn Schutz (noch) nicht anders möglich ist. Wo immer möglich und vertretbar geht es um Stärkung und Kompetenzerweiterung von Erziehungsverantwortlichen. 

An dieser Stelle wird die Erstellung und Bedeutung des Schutzvertrags als Methode anhand von Beispielen ausführlich vorgestellt. Er dient als Instrument für kleinschrittig vereinbarte, transparente und partizipativ mit den Beteiligten entwickelte Vereinbarungen zu notwendigen Entwicklungsschritten. Das unterscheidet sich deutlich von den oft sehr allgemein gehaltenen Sätzen, die ich sonst aus Hilfeplänen kenne. Der Veränderungsprozess – ob gelingend oder stagnierend – wird dadurch sehr nachvollziehbar, ebenso wie mögliche Konsequenzen.

Ich habe mich besonders wieder gefunden in dem Abschnitt über Kooperation mit Kindern und Jugendlichen: Information, Transparenz und Beteiligung müssen von den Fachkräften gedacht, gewünscht, reflektiert und im Einzelfall umgesetzt werden. Die vorgeschlagenen Anregungen zur Selbstreflektion und Methoden sind hilfreiche Anker in stürmischen Gewässern. Die diskutierten Aspekte verdeutlichen auch noch einmal die enormen Herausforderungen, denen Fachkräfte im Spannungsfeld von Kindeswohlgefährdung ausgesetzt sind. Und welchen Einfluss eigene biografische und professionelle (Vor-)Erfahrungen haben. Weil eben – frei nach Maturana – alles Gesagte von einem Beobachter gesagt wird und wir als Fachkräfte nie „objektiv“ und „neutral“ beobachten, sondern in unseren Rollen immer auch Teil des Konstruktes sind. Das leitet über u.a. zur Frage der Loyalität: wie gehe ich als Fachkraft um mit Bereitschaft und Möglichkeiten zur Veränderung bzw. Nicht-Veränderung. Hier plädieren die Autor:innen aus ethischer Perspektive klar für Parteilichkeit mit den Kindern.

Diskussion

Leser:innen, die sich praxisnah und intensiv mit dem Thema Schutzkonzeptentwicklung auseinandersetzen, werden strukturiert und praxisnah durch die verschiedenen Ebenen geleitet. Das große Engagement der Autor:innen für das Thema spricht aus jedem Kapitel!

Das Programm ist geprägt von einer klaren parteilichen Haltung, die den Themen Kindeswohl und Kinderschutz höchste Priorität einräumt. Das wird durchdekliniert über den theoretischen Hintergrund, die Organisationsentwicklung, die Mitarbeiter:innen und die Arbeit mit den Nutzer:innen. Anregungen zur Selbstreflexion und Übungen runden die Kapitel ab und geben der Leser:in sofort umsetzbare praktische Instrumente an die Hand. Damit ist das Buch empfehlenswert sowohl für Praktiker:innen, die das eigene berufliche Handeln reflektieren und ihren Horizont erweitern möchten, als auch für Leitungskräfte, die einen Organisationsentwicklungsprozess in ihrer Einrichtung anstoßen möchten. Durch die übersichtlich und leicht nachzuvollziehenden Übungen und Anregungen lassen sich die einzelnen Schritte gut auf die eigene Einrichtung übertragen und mit dem jeweiligen Organisationsentwicklungsprozess abstimmen.

Sprachlich bin ich immer wieder „gestolpert“ über die synonyme Verwendung der Begriffe „Kindeswohl“ und „Kinderschutz“. Zumindest bei mir hat das an manchen Stellen für Verwirrung gesorgt und ich fände es eine Diskussion wert, diese Begrifflichkeiten klarer zu differenzieren. Zumal zwischen den verschiedenen beteiligten Professionen auch noch Unterschiede im Verständnis und in der Verwendung bestehen.

Einer Idee kann und will ich mich nicht anschließen: die, dass Familien der gefährlichste Ort für Kinder sind. In einigen Konstellationen ist das sicher richtig. Trotzdem möchte ich nicht aus dem Auge verlieren, dass der weitaus größte Teil der Kinder in Familienkonstellationen aufwächst, die liebevoll, unterstützend und förderlich sind. Die polarisierende Aussage, Familie als Gefährdungsort zu beschreiben, erscheint mir überzogen und wenig hilfreich für alle die Eltern(teile), die ihr Bestes geben. Selbstverständlich ist es für den kleinen Teil der Kinder, die in ihren engsten Bezügen Vernachlässigung und Gewalt erleben, nötig, dass Fachkräfte sich trauen, auch diesen anderen Blick zuzulassen und die Augen nicht davor zu verschließen, wenn Kindern und Jugendlichen Leid widerfährt. 

Am meisten beschäftigt hat mich die Idee der Lots:innenstelle. Vieles spricht meiner Meinung dafür, diese Position zu etablieren. Strukturell müsste gewährleistet sein, dass das Hinzuziehen einer externen insoweit erfahrenen Fachkraft damit nicht eingeschränkt wird oder wegfällt. Die externe Beratung, die das Gesetz im SGB VIII §8a vorsieht, halte ich für ein wichtiges Qualitätsmerkmal. Aufgabe und Stellung der externen Beratung wäre dann konzeptionell noch genau zu beschreiben. 

Ein kleines „ja -aber“ habe ich mir zwischendurch immer wieder verboten: vielleicht ahnen Sie es schon? Ja genau: die Frage der Finanzierung. In der augenblicklichen Struktur ist so eine Stelle, wenn überhaupt, nur für große Träger denkbar. Der finanzielle Spielraum für die vielen kleinen Träger gibt das einfach nicht her. Trotzdem ist es der richtige Weg, solche Strukturen selbstbewusst einzufordern. Kinderschutz ist und bleibt gesamtgesellschaftliche Verpflichtung und ist nicht umsonst und nebenbei zu bekommen. Von daher: Danke an die Autor:innen für diese mutige und innovative Idee.

Die aus ethischen Gründen bevorzugte Parteilichkeit für die Kinder birgt auch Fallen: hier spielen die eigenen Werte, Überzeugungen und Normen natürlich immer wieder mit rein. Die Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen, das Hinterfragen von scheinbaren Selbstverständlichkeiten und die trotz allem oft „not-wendige“ Positionierung ohne „sowohl-als-auch“ machen die Arbeit im Kinderschutz zu einer so komplexen Aufgabe. Die Überlegungen, Vorschläge und Gedanken der Autor:innen regen diese Prozesse sehr gewinnbringend an. Trotz allem bleibt es dabei: Arbeiten im Kontext Kinderschutz bedeutet „Navigieren in rauen Gewässern mit Ansage“. Eine ruhige See ist die Ausnahme. Die Matros:innen (gibt es hier die weibliche Form überhaupt?) brauchen all ihre Kräfte und Ressourcen und die aufmerksame Unterstützung der Kapitän:innen und müssen jederzeit darauf eingestellt sein, dass der nächste Sturm sie herausfordert. Dafür findet die Crew in diesem Buch auf jeden Fall nützliche und hilfreiche Instrumente.


Tom Levold, Köln: Ein systemisches Kinderschutzprogramm?

Die Frage nach dem Stellenwert von Kindern in unserer Gesellschaft und ihrem Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung, Ausbeutung und sexuellem Missbrauch markiert eines der großen Themen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten das Wohlfahrtssystem und die Soziale Arbeit maßgeblich beschäftigen und hat viele konzeptuelle, organisationale, praxeologische und rechtliche Entwicklungen angestoßen, die auch die Praxis des Kinderschutzes nachhaltig verändert haben.

Nun legt das Lehrtherapeut_innenteam des Psychologischen Privatinstituts für Systemische Beratung (PPSB) in Hamburg ein „systemisches Kinderschutzprogramm“ vor, in dem als Kernstück eine „Lotsenstelle Kinderschutz“ entworfen wird, die als Stabsstelle „in jeder Organisation“ eingerichtet werden soll, aber „nicht nur beratende Funktion, sondern auch personalrechtliche Entscheidungsbefugnisse“ haben soll (11). Auf über 260 Seiten präsentiert das „Autor_innenkollektiv“ Harald Ott-Hackmann, Heike Schader, Brigitte Ott und Tim Käsgen seine „Haltungen und Grundgedanken“, ein „Organisationskonzept zur Erstellung eines Schutzprogramms“, ein „Schutzprogramm für die Mitarbeiter_innen“ sowie praktische Hinweise für die Umsetzung dieses Programms innerhalb von Organisationen und in der Arbeit mit Familien.

Als systemischer Therapeut und Organisationsberater, der als Mitbegründer des Kölner Kinderschutz-Zentrums seit Anfang der 1980er Jahre am Aufbau eines systemischen, familienorientierten Kinderschutz beteiligt war und den Kinderschutz-Diskurs auch ab den 90er Jahren intensiv verfolgt hat, habe ich das Buch natürlich mit Interesse gelesen. Das Ergebnis meiner Lektüre ist allerdings ziemlich enttäuschend.

Kinder zu schützen ist ein zentraler Wert in jeder aufgeklärten Gesellschaft – dafür muss man nicht Systemiker sein. Von einem „systemischen Kinderschutzprogramm“ erwarte ich aber schon, dass die systemischen Grundlagen seiner Konzeption herausgearbeitet werden. Am Ende des Buches findet sich eine Reihe von Literaturhinweisen, von denen sich das Autorenkollektiv hat „inspirieren“ lassen – wenig zum Kinderschutz, ein paar Titel zu systemischen Methoden sowie Bücher der üblichen Verdächtigen: Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Niklas Luhmann, Kurt Ludewig, Paul Watzlawick, sogar Norbert Wiener. Worin aber die Inspiration bestanden haben könnte, ist dem Buchtext nicht zu entnehmen. Auf die Literatur wird praktisch nicht Bezug genommen.

Überhaupt kommt das Wort „systemisch“ in diesem Buch nicht allzu häufig vor – und wenn, dann vor allem in nichtssagenden Platitüden: „Aus systemischer Sicht geschieht nichts ohne Anlass“ (43), „aus systemischer Sicht gehen wir davon aus, dass alles mit allem zusammenhängt“ (46), „Systemisch gesprochen braucht es eine gewisse Viabilität, um hilfreich sein zu können“ (87), „Systemisch betrachtet wollen in einer Krise alle erst einmal überleben“, „Unsere systemische Haltung besagt, dass alle beteiligten Akteur_innen unterschiedliche Erwartungen an ein Thema mitbringen“ (176) usw. usf. Dafür finden sich aber im gesamten Band zahlreich eingestreute (und hübsch illustrierte) Moderations-Tools und Fragelisten, die im Feld der systemischen Beratung gerne eingesetzt werden und die hier Professionellen und Organisationen helfen sollen, sich mit den Themen des Buches auseinander zu setzen. Ob das ausreicht, um das label systemisch zu rechtfertigen, möchte ich bezweifeln – auch wenn es leider einem weit verbreiteten Trend entspricht.

Ein aus meiner Sicht zentraler Aspekt systemischen Denkens ist die Orientierung an den Kontexten des jeweilig beobachteten Phänomens oder Problems und die Verortung der eigenen Beobachtungen und Positionen innerhalb dieser Kontexte. In Anbetracht der Tatsache, dass sich seit den 1970er Jahren ein radikaler Wandel in der Jugendhilfepraxis vollzogen hat, welcher entscheidende Impulse der damals entstandenen Kinderschutzbewegung zu verdanken hat, ist schon bemerkenswert, dass im Buch mit keinem Wort auf diese Entwicklungen eingegangen wird. An einem Mangel an Quellen kann das kaum liegen. Auch die sozialen, ökonomischen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen und ihre Veränderungen über die letzten Jahrzehnte werden nicht berücksichtig – stattdessen stellt sich der Eindruck ein, dass die Notwendigkeit eines Kinderschutzkonzeptes gerade erst entdeckt worden ist.

Dabei bleibt völlig unklar, was denn eigentlich Kinderschutz praktisch sein soll, abgesehen davon, dass es um die Abwehr von Kindeswohlgefährdungen geht. Was genau eine Kindeswohlgefährdung ausmacht, bleibt im Dunkeln bzw. geht nicht über die Floskel „Abweichung von der Definition eines Kindeswohls“ (25) hinaus.

Zum Begriff des Kindeswohls gibt es allerdings ausführliche Erörterungen, die größtenteils den Stand der aktuellen politischen und fachlichen Diskurse (z.B. die UN-Kinderrechtskonvention) wiedergeben und die Grundlagen einer gedeihlichen Entwicklung (Überleben, Bindung, Sicherheit, Soziale Interaktion, Teilhabe, Dialog mit den Erziehungsverantwortlichen etc.) von der Zeugung bis zum 18. Lebensjahr zusammenfassen, kurz: alles, was man Kindern und Jugendlichen in einer prekären Welt nur wünschen kann.

Während der Positivwert Kindeswohl hier sehr detailliert beschrieben wird, bleibt der Negativwert der Kindeswohlgefährdung, der ja letzten Endes Grund für eine eventuelle Intervention ist, seltsam unbestimmt. Wenn jede „Abweichung“ vom Positivwert schon eine Kindeswohlgefährdung darstellt, sind Maßnahmen und Eingriffen keine Grenzen gesetzt. Ähnlich wie die Gesundheitsdefinition der WHO des „Zustands des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ letzten Endes impliziert, dass es nur wenige Menschen geben dürfte, die aus dieser Sicht nicht in irgendeiner Weise krank sind, führt die hier präsentierte Positivliste dazu, dass die Zahl der gefährdeten Kinder per definitionem erheblich sein muss, auch wenn nicht gleich eine Zwangsmaßnahme erforderlich sein dürfte.

Auch wenn die AutorInnen darauf hinweisen, dass „das Recht auf Kindeswohl (…) in unserer Gesellschaft glücklicherweise gesetzlich geregelt“ sei (23), ist die Frage nach einer praktisch vollziehbaren Grenze zwischen tolerierbaren und nicht tolerierbaren Abweichungen eine, die die Praxis der Wohlfahrts- und Hilfeorganisationen ebenso wie die Gerichte immer schon beschäftigt hat und auch in Zukunft beschäftigen wird. Das deutsche Recht hat eben keine genaue Definition für Kindeswohl, weder im Strafrecht noch im BGB, auch wenn die AutorInnen behaupten: „Das Wohl eines Kindes zu gefährden ist nicht legitim und eine Straftat. Veränderung hin zu einem dem Kindeswohl entsprechenden Zustand ist Vorschrift“ (199). Im Strafgesetzbuch ist von Kindeswohl allerdings nirgendwo die Rede, in § 171 heißt es vielmehr: „Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter sechzehn Jahren gröblich verletzt und dadurch den Schutzbefohlenen in die Gefahr bringt, in seiner körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, einen kriminellen Lebenswandel zu führen oder der Prostitution nachzugehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Der § 225 StGB behandelt die „Misshandlung von Schutzbefohlenen“. Andere Paragraphen betreffen den sexuellen Missbrauch, Kinderhandel und andere Verbrechen. Hier geht es also um die schwersten Fälle elterlicher und institutioneller Gewaltausübung und Vernachlässigung. Das Kindeswohl ist dagegen Gegenstand des Zivil- und Familienrechts – ein nicht unerheblicher Unterschied, der in diesem Band immer wieder verwischt wird. Wie auch immer: Als „unbestimmter Rechtsbegriff“ müssen das Kindeswohl und seine Verletzung immer im Einzelfall gewürdigt und eventuelle Hilfsangebote, Maßnahmen und Zwangseingriffe abgewogen und legitimiert werden.

Diese Grenze ist natürlich auch den AutorInnen klar. Unter der Überschrift „Die drei Kategorien von Kindeswohlgefährdung“ schreiben sie: „Wichtig ist die Definition der Grenze zwischen den unterschiedlich schweren Gefährdungsgraden einer das Kindeswohl gefährdenden Situation für das betroffene Kind und sein Bezugssystem. Mit einem Ampelmodell haben wir drei unterschiedliche Betroffenheiten definiert, die uns die nötigen Hilfemaßnahmen besser zuordnen lassen und die Gefahr von Willkür im System minimieren“ (25). Im entsprechenden Kapitel, auf das hier verwiesen wird, heißt es: „Um Orientierung und eine Basis für die gemeinsame Fallbetrachtung anzubieten, empfehlen wir die Einteilung der Kinderschutzfälle in drei Kategorien. Es ist sinnvoll, diese drei Kategorien genau zu benennen – auf der individuellen wie auch auf der Trägerebene. Dabei hilft die Annahme Niklas Luhmanns, dass jedes einzelne Mitglied zum gemeinsam diskutierten Kommunikationsergebnis eines Systems, in dem sie_er Mitglied ist, eine Differenz bildet“ (55). Wo eine solche – ungewöhnliche – Formulierung bei Luhmann zu finden sein soll, wird allerdings nicht verraten.

Wer sich vom „Ampelsystem“ nun verspricht, genauere Auskunft zu erhalten, woran denn nun eine Kindeswohlgefährdung festgemacht werden kann, wird enttäuscht. Es geht nämlich nur darum, die Fälle nach dem Kriterium der Kooperationsbereitschaft der Klientensysteme einzuordnen: „Grüne Fälle (grüner Pfeil) sind solche, in denen es mit professioneller Hilfe gut läuft. Die Erziehungsverantwortlichen sind kooperations- und lernbereit. Sie nehmen die angebotenen Interventionen an und arbeiten konstruktiv mit. (…) Orangefarbene Fälle (orangener Pfeil) sind solche, in denen es auch mit professioneller Hilfe eine labile Situation gibt. Möglicherweise ist die Kooperationsbereitschaft der Erziehungsverantwortlichen brüchig – mal klappt es sehr gut, mal weniger oder gar nicht. Die Gründe dafür sind noch unzureichend ermittelt. (…) Rote Fälle (roter Pfeil) sind solche, in denen trotz professioneller Hilfe eine akute Krisensituation vorliegt und das Kindeswohl gefährdet ist. Das kann beim Start einer professionellen Hilfe sein oder wenn eine aktuelle existenzielle Krise vorliegt, beispielsweise der Verlust des Arbeitsplatzes, der Ausbruch einer Krankheit, Beziehungskonflikte in der Partnerschaft, Tod eines Angehörigen, Wohnungsverlust u.ä., und dadurch [sic!] eine kindeswohlgefährdende Situation beobachtet wird. (…) Die Einstellung der Erziehungsverantwortlichen zu den Sorgen der Fachleute, fehlende Einsicht, mangelnde Reflexions- und Kooperationsbereitschaft oder Ablehnung von Verantwortung sollten dringendes und vorrangiges Thema in der Arbeit sein.“ (57f.)

Die zugrunde liegende Idee ist, dass jede Organisation in „Open Talks“ Beobachtungskriterien entwickeln soll, die eine Zuordnung zu den drei Ampelfarben und die Festlegung etwaiger Maßnahmen begründen können. „Die aktuelle Einschätzung der_des Fallzuständigen könnte in der kollegialen Beratung mithilfe einer Skalierung oder eines Spannungsbarometers operationalisiert werden. Es wird eine Skala mit den Werten +10 bis -10 gezeichnet: +10 bedeutet, das Kindeswohl ist wiederhergestellt und stabil; -10 bedeutet, das Kindeswohl ist akut gefährdet und es müssen sofort Maßnahmen ergriffen werden“ (59).

Zumindest bei letzteren, also den „roten“ Fällen, haben wir es mit einem Zwangskontext zu tun, in dem Maßnahmen auch gegen den Willen der Erziehungsverantwortlichen durchgesetzt werden können. Die vorliegende Literatur zum Thema Zwangskontext ist beachtlich, auch zur Frage, inwiefern auch in einem Zwangskontext systemische Therapie und Beratung sinnvoll und wirksam sein kann (sie kann!), gibt es im systemischen Feld gute und fallgestützte Literatur. Dennoch taucht das Wort Zwang bemerkenswerterweise nur ein einziges Mal im vorliegenden Buch auf (im Zusammenhang mit Zwangsheirat [178]), obwohl mit Zwang durchgesetzte und durchzusetzende Maßnahmen einen großen Raum einnehmen. Das gelingt mit einem interessanten Reframing, nämlich indem die auch die Arbeit im Zwangskontext durchweg als „Hilfe für Hilfesuchende“ etikettiert wird. Dazu ein längeres Zitat: „Für die Beschreibung der Dynamik zwischen Fachstelle und Mensch haben wir uns für den Begriff »Hilfesuchende« entschieden. Auch wenn dieser Begriff zu Recht diskutiert wird, erscheint er uns im Kontext unseres Denkens passend. Systemisch gedacht kann sich jeder Mensch jederzeit entscheiden, auch wenn die Entscheidungsspielräume unterschiedlich groß und die daraus folgenden Konsequenzen unterschiedlich massiv sein können. Wenn es zu einem Kontakt mit einer Fachstelle kommt, deren Aufgabe es ist, Hilfe anzubieten, dann kann es sich im Umkehrschluss nur um Hilfesuchende handeln [sic!]. Ansonsten wären sie an dieser Stelle nicht passend. Dabei ist noch nicht geklärt, wobei Hilfe gewünscht wird. Hilfe dabei, endlich in Ruhe gelassen werden, ist aus unserer Sicht ebenso ein Hilfeanliegen wie der Wunsch nach Hilfe für die Verbesserung der häuslichen Situation. Am Begriff »Hilfesuchende« gefällt uns außerdem, dass er auch impliziert, dass Hilfe angeboten, angenommen und umgesetzt werden muss, damit sich etwas verändert. Gerade im Themenkomplex Kinderschutz ist die Frage nach dem Veränderungswillen und der daraus folgenden Veränderung das zentrale Thema. Die Hilfe ist eine gesetzlich geregelte Pflicht [sic!]. Die Vorgehensweise beziehungsweise Spielregel zur Umsetzung der Hilfe Ist vertraglich geregelt, d.h. verpflichtend für die Vertragsparteien. Die Hilfeanbieter_jnnen sind durch fachliche Qualität gekennzeichnet [Sic!]. ln Fällen von Kindeswohlgefährdung sind die eigentlichen Hilfesuchenden die Kinder. Wenn die Erziehungsverantwortlichen sich selbst nicht als hilfesuchend definieren können, muss eine alternative Hilfe gefunden werden, die unter Umständen mit Unterstützung des Familiengerichts umgesetzt wird“ (14f.; hervorh. TL).

Die ganze Ambivalenz des Hilfebegriffs, die problematische Dynamik von Helfer-Klient-Beziehungen, die im Zwangskontext noch einmal dramatisch gesteigert wird, die Asymmetrie von Autonomie und Zugriff auf Ressourcen und die damit verbundenen Konflikte, all das wird hier nicht nur ausgeblendet, sondern auch semantisch invisibilisiert, indem es nur noch – „im Umkehrschluss“ – Hilfesuchende gibt, die deshalb Hilfesuchende sind, weil Fachstellen, deren Aufgabe es ist, Hilfe anzubieten, mit ihnen in Kontakt kommen. Und da „Hilfeanbieter_innen … durch fachliche Qualität gekennzeichnet“ sind, erübrigen sich weitere Fragen.

Das Controlling der Qualität, die eingestandenermaßen sich doch wohl nicht von alleine herstellt, soll dann der Lotsenstellevorbehalten sein, die das zentrale Element des hier vorgestellten Konzeptes darstellt und in die Organisationsstruktur eingebaut werden soll. Auch wenn gelegentlich von Unternehmen oder „Firmenphilosophie“ die Rede ist, sind der Einleitung zufolge „alle Organisationen [gemeint], in denen mit Kindern oder mit Menschen, in deren Haushalt Kinder leben, gearbeitet wird“ (11). Dabei dürfte es sich vorrangig um Organisationen handeln, in denen Kinder und/oder Erwachsene in irgendeiner Weise betreut, begleitet, erzogen, behandelt, beraten oder therapiert werden. 

„Die Lotsenstelle soll eine unabhängige Stellung innerhalb der Organisation haben und künftig den Prozess leiten, beraten und kontrollieren“ (50). Die Aufgabe einer solchen Stelle soll folgendes umfassen: Die Installation „verbindlicher Prozessabläufe und Arbeitskonzepte für ein Kinderschutzprogramm“, Installation und konsequente Verfolgung von „Kriterien, die am Kindeswohl ausgerichtet sind“ als „Orientierung zur Beurteilung von Gefährdungen im Rahmen eines Ampelsystems“, Angebote an Fortbildungen, Fachtagungen und themenzentrierten Veranstaltungen, „Controlling zum Verhalten der Mitarbeiter_innen gegenüber Kindern und Jugendlichen, gegenüber Hilfesuchenden und untereinander“, Überprüfung von Ressourcen in Kindeswohlgefährdungsfällen, Kontaktpflege zu Jugendamt, Bildungseinrichtungen, anderen Institutionen und Trägern, „Beratung in Kindeswohlgefährdungsfällen als standardisiertes Programm“, „Schutz von gefährdeten Mitarbeiter_innen“, Installation eines Beschwerdewesens, kontinuierliche Evaluation und Weiterentwicklung.

Ein strammes Programm. All das sind absolut sinnvolle Aufgaben einer Organisation mit psychosozialen Aufgabenbereichen. Fehler im Kinderschutz mit fatalen Folgen, die regelmäßig in der Medienöffentlichkeit skandalisiert werden, lassen sich oft darauf zurückführen, dass die genannten Bereiche (aus Ressourcenmangel, Nachlässigkeit, Schwächen in der Problemanalyse o.ä.) nicht ausreichend in der Organisationspraxis verankert waren[1]. Eine empirische Kritik an bestehenden Kinderschutz-Praktiken von Organisationen oder des Jugendhilfesystems fehlt aber in diesem Band völlig. Insofern kann man den Lotsen-Vorschlag auch nicht als eine Kritik an einer fehllaufenden oder unzureichenden vorhandenen Praxis lesen. Inwiefern ähnliche Einrichtungen, Positionen bereits schon vorhanden sind, ob sie sich bewährt haben oder nicht, ob diese Aufgaben in Organisationen an eine Person oder Abteilung delegiert werden oder als Programme im Querschnitt der Organisation implementiert sind, das alles bleibt im Dunkeln. Im Vordergrund des Vorschlags steht hier die Etablierung einer ausgesprochen machtvollen Position, die sowohl fachliche als auch disziplinarische Befugnisse ausüben soll: „An dieser Stelle ist es wichtig, sicherzustellen, dass die Lotsenstelle keine Alibifunktion hat. Die Effizienz und der Erfolg des Schutzprogramms hängen von der Autorisierung durch die Geschäftsführung und der Verantwortungsautonomie dieser Position ab. Eine reine Vorzeigefunktion nach dem Motto, »Seht her, wir tun was in dieser Organisation für den Kinderschutz, wir haben eine Lotsensteile eingerichtet«, während diese aber mit keinerlei eigenständiger Macht ausgestattet wäre, würde an dem hier angestrebten Schutzprogramm völlig vorbeilaufen und das Ziel konsequenten Kinderschutzes verfehlen. Die Installation der Lotsenstelle, ihre Ausstattung mit Befugnissen und eigenständigen Verantwortungsbereichen sowie Personalführungsautorität in ihrem Bereich ist von immenser Bedeutung für den Erfolg eines Schutzprogramms innerhalb der jeweiligen Organisation. Dazu gehört auch, dass die Lotsenstelle bei grober Vernachlässigung oder Verstößen gegen das Schutzprogramm die Möglichkeit zu Abmahnung, Suspendierung und Entlassung haben muss [sic]. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich unsere Lotsenstelle Kinderschutz von solchen im traditionellen Sinn. In kleinen Organisationen können Teilaufgaben an eine Mitarbeiter_in delegiert werden, die ansonsten andere Aufgaben erfüllt, von denen sie dann für bestimmte Zeiträume freigestellt wird. Eine Leitungsperson kann ebenfalls -bei entsprechender Qualifikation – die Aufgaben der Lotsenstelle übernehmen, um deren Wichtigkeit zu unterstreichen. Sie muss dafür andere Aufgaben an die Teamleitungen delegieren. In diesen Fällen muss jeweils gekennzeichnet werden, in welcher Funktion die Kolleg_innen auftreten“ (54; Hervorh. TL). 

Ich versuche mir eine Einrichtung vorzustellen, in der die Lotsin an der Geschäftsführung vorbei eine arbeitsgerichtlich relevante Abmahnung oder gar eine Kündigung ausspricht, womöglich auch gegen eine Kollegin, mit der sie vorher noch auf gleicher Ebene zusammengearbeitet hat. „ln manchen Fällen braucht es Entscheidungen, die Mitarbeiter_innen dahingehend begrenzen, dass sie z.B. für einen bestimmten Zeitraum keine neuen Fälle annehmen, das Gespräch mit Erziehungsverantwortlichen von jemand anderem führen lassen oder im Tandem arbeiten. Auch die Empfehlung, sich krankschreiben zu lassen, gehört zu diesen Begrenzungen. Hier müssen Leitungskräfte die Lotsenstelle umgehend als Stelle, die den Kinderschutz und den Schutz der Mitarbeiter_innen bezüglich dieses Themas im Blick hat, involvieren. Die Lotsenstelle kann diese Entscheidungen treffen, ohne sie von den Gesamtbelangen der Organisation abhängig machen zu müssen. Dadurch können Interessenkonflikte vermieden werden, da die oben beschriebenen Entscheidungen häufig mit Personalengpässen, dem Druck, Fälle zu übernehmen und anderen wirtschaftlichen Fragen der Organisation kollidieren“ (104).

Zwar wird immer wieder auf Kommunikation und Dialog als systemische Prinzipien Bezug genommen, letzten Endes haben wir es hier aber mit einem ziemlich autoritären Eingriffsprogramm zu tun, ohne dass die Implikationen einer Realisierung in tatsächliche Organisationen und ihre unterschiedlichen Strukturen überhaupt reflektiert würden. Da die „Bearbeitung von Beschwerden, die im Rahmen des Kinderschutzprogramms auftreten, … ebenfalls von der Lotsenstelle bearbeitet, konsequent verfolgt und zu einem Ergebnis gebracht werden (sollten)“ (65), stellt sich die Frage, wer denn dann noch die Lotsenstelle kontrollieren und evaluieren kann und soll. Sollte es je zu einer Implementierung einer solchen Stelle in der Praxis kommen, wäre ich an einer Evaluation unter organisationsdynamischen Gesichtspunkten sehr interessiert.

Am Ende des Bandes findet sich schließlich ein Kapitel zum „Arbeiten mit Familien und ihrem sozialen Umfeld im Kontext von Kindeswohlgefährdung“. Die Untersuchung der Familiendynamik, die mit den unterschiedlichsten Problemlagen verbunden ist, nimmt ja  nicht gerade einen kleinen Raum in der Geschichte des systemischen Ansatzes ein. Auch zur Familiendynamik von Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, die jeweils auch unterschiedliche Herausforderungen für die Arbeit mit Familien mit sich bringen, gibt es im Feld der systemischen Literatur ausreichend lesenswertes. Allerdings taucht das Wort Familiendynamik im gesamten Buch nicht ein einziges Mal auf. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass für das vorliegende Kinderschutz-Konzept eine differenzierte familiendynamische Betrachtung überhaupt von Bedeutung wäre. Überhaupt geht es wenig um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern als darum, was Eltern tun müssen bzw. nicht tun dürfen, um das Kindeswohl (s.o.) sicher zu stellen. Für Ambivalenzen und Differenzierungen bleibt da nicht viel Platz.

Viel Raum wird dem interessanten Thema der „Loyalität zum Kind als zentraler Leitgedanke“ gegeben (201ff.). Dass Loyalität ein zwiespältiger Begriff ist, wird schon in den einleitenden Bemerkungen deutlich. So wird Loyalität als „intensive Verbundenheit zu Personen oder Organisationen, die anhand einer verlässlichen Unterstützung auf der Handlungsebene zu erkennen ist“ definiert, gleichzeitig wird aber eingeschränkt, dass „Loyalität (…) nicht bedingungslos, sondern Ergebnis von Kommunikation und Reflexion [sei]. Damit bedeutet Loyalität für uns ausdrücklich nicht, allein aufgrund von Zugehörigkeit zu einem System ein bestimmtes Verhalten bzw. bestimmte Meinungen gutzuheißen oder nach außen zu verteidigen (…), wenn man sich selbst dem nicht vollumfänglich anschließen kann“ (201). Die Loyalitätskonflikte, in denen sich die Angehörigen von Familiensystemen und Organisationen befinden, werden dementsprechend auch ausführlich angesprochen.

Die Problematik des Loyalitätsbegriffs scheint mir hier in seinem Personen- bzw. Akteursbezug zu liegen, die eben im Einzelfall durchaus mit einer fachlichen Perspektive in Konflikt geraten kann. Im systemischen Feld hat sich dazu in Abgrenzung von der zunächst (in den 70er Jahren) proklamierten Neutralität der Professionellen der Topos der Allparteilichkeit entwickelt, der es erlaubt, weniger für Personen (gegen andere Personen) als für Anliegen, Bedürfnissen und Interessen aller Beteiligten Partei zu ergreifen, ohne deshalb Schutzbedürfnisse von denjenigen, die sich selbst nicht schützen können, zu ignorieren. Letzten Endes geht es doch vor allem um eine fachliche Haltung im Umgang mit Anliegen und Bedürfnissen, die das  Handeln der Professionellen in jeder Phase des Hilfeprozesses leiten muss, als um ein personalisiertes Loyalitätsversprechen, das im unguten Fall in einem komplexen Prozess womöglich gar nicht durchgehalten werden kann. Auch in einem Zwangskontext mit klaren Auflagen kann eine allparteiliche Haltung helfen, Kooperation mit den Erziehungsverantwortlichen zu herzustellen. Hier wird Kooperationsbereitschaft aber weniger als Ziel eines Prozesses denn als Voraussetzung für die Arbeit betrachtet: „Gegenüber den Erziehungsverantwortlichen kann Loyalität gelebt werden, wenn sie über Ressourcen zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung verfügen und sich einsichtig und kooperativ zeigen. Das Angebot zur gemeinsamen Arbeit an Veränderung und Entwicklung (…) kann auf der einen Seite immer als ein Angebot an Loyalität verstanden werden. Auf der anderen Seite ist diese Loyalität – anders als die Loyalität den Kindern und Jugendlichen gegenüber – kein stabiler Zustand und keine selbstverständliche Haltung“ (204).

Auch wenn im gesamten Buch viel über Kooperation, Dialog und Augenhöhe die Rede ist, liegt die Emphase durchgehend auf der Familie als gefährlichem Ort für Kinder und Jugendliche: „Dankenswerterweise hat Bundesjustizministerin Christine Lambrecht am 18.06.2020 in der Talkshow von Marcus Lanz mit der gesellschaftlich weit verbreiteten Annahme aufgeräumt, dass Kinder und jugendliche immer in der Familie zu halten seien, weil sie dort sicher und gut aufgehoben wären. Vielmehr wies Lambrecht darauf hin, dass die Familie in Fällen von Kindeswohlgefährdung der gefährlichste Ort für Kinder und jugendliche sein kann. In diesen Fällen dürfen die herausnehmenden Fachkräfte, Richter_innen und Pädagog_innen, nicht fälschlich beschuldigt werden, das Glück des Kindes oder der Familie zu zerstören“ (200). Und: „Wie wichtig die veränderte Sichtweise vom angenommenen Schutz der Kinder in ihrer Familie hin zu »Die Familie kann der gefährlichste Raum für Kinder sein« ist, haben wir mehrmals betont“ (255).

Dass trotz aller institutionellen Fälle von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch, die in den letzten Monaten und Jahren die Öffentlichkeit beschäftigt haben, in den meisten Kinderschutzfällen die Familie als Lebensraum der Kinder der Ort der Kindeswohlgefährdung ist, ist ja trivial. Und dass auch Herausnahmen aus der Familie in manchen Fällen angebracht sind, dürfte längst nicht mehr im Gegensatz zu „gesellschaftlich weit verbreiteten Annahmen“ stehen. Dass aber gerade die Familie wie auch die Paarbeziehung strukturell schon immer im Spannungsfeld von Liebe und Gewalt, von Fürsorge und Vernachlässigung, von Grenzüberschreitung und Kontaktlosigkeit steht, ist eben der Dynamik von Familien- und Paarbeziehungen geschuldet, von der in diesem Band nicht die Rede ist. Nun kann man argumentieren, dass es beim Schutz von Kindern nicht um die Bearbeitung von Beziehungen geht, sondern um die Definition von Eingriffsnotwendigkeiten bzw. um die Festlegung von Kriterien der Eingriffsvermeidung. Für eine solche Sichtweise braucht es kein systemisches Konzept. Ob ein Kinderschutz-Konzept ohne ein tieferes Verständnis der Systemdynamik das Label systemisch in Anspruch nehmen kann, wage ich zu bezweifeln.

Das „Standardinstrument“ (137) der Familienarbeit soll der „Schutzvertrag“ sein, der mit den Erziehungsverantwortlichen „zur Herbeiführung einer Rechtsfolge“ (191) geschlossen wird. Beispielhaft wird ein solcher Vertrag abgedruckt. In der Präambel dieses Vertrages heißt es: „Dieser Vertrag soll die Zusammenarbeit an einer Verbesserung des Kindeswohles verlässlich regeln. Sollten sich die Erziehungsverantwortlichen nicht an diese Vereinbarung halten und sich nicht sofort Besserung für die Situation des Kindes/der Kinder einstellen, sehen wir das als eine Kündigung des Vertrages an. Wir werden Meldung an das Jugendamt machen und eine Herausnahme des Kindes anstreben, um das Kind/die Kinder zu schützen und um die Erziehungsverantwortlichen vor weiteren, strafbaren Handlungen zu schützen“ (193).

Gegenstand der Vereinbarung sind nachvollziehbarerweise die Einstellung jedweder körperlicher oder psychischer Gewalt, darüber hinaus aber auch „mindestens eine halbe Stunde pro Tag und pro Kind, mit mindestens einem Erziehungsverantwortlichen“, „Bei steigender Emotion zieht sich der Vater in einen anderen Raum der Wohnung zurück, bis er sich beruhigt hat. Zum Stressabbau wird eine Atemübung zur Beruhigung trainiert“, „J. benutzt keine Schimpfwörter mehr gegen Mutter, Vater und Geschwister“ usw. „Bei Vertragsbruch erfolgt sofort eine Meldung an das zuständige Jugendamt, mit der Empfehlung eine Herausnahme des Kindes einzuleiten, um die gesamte Familie vor strafbaren Handlungen zu schützen“ (195). Auch wenn solche Vereinbarungen nicht nur sinnvoll, sondern auch gängige Praxis in der Arbeit mit Familien sein dürfte, stellt sich doch die Frage, ob nun eine Herausnahme des Kindes tatsächlich in Gang gebracht werden soll, weil die Eltern nicht die 30 Spielminuten am Tag schaffen oder Atemübungen nicht trainiert werden. Das würden wohl die wenigsten Jugendämter mitmachen, zumal sie mit diesem Anliegen ja auch das Familiengericht überzeugen können müssten. Eine Reflexion der Angemessenheit von Eingriffen und der Eingriffshöhe in Bezug auf die unterschiedlichen Vereinbarungen ist nicht zu finden – der autoritäre wenn-nicht-dann-Gestus der Maßnahme als „Rechtsfolge“ wird mehr oder weniger stolz als konsequente Verfolgung und Umsetzung des Kinderschutzes präsentiert.

Ein wichtiger Aspekt jeder Kinderschutz-Arbeit ist die Kooperation im Hilfesystem. Neben den Professionellen mit unterschiedlichen fachlichen Hintergrund sind unterschiedlichste Organisationen als Akteure mit eigenen fachlichen Kompetenzen, Aufträgen und Interessen (oft als Konkurrenten um den Problembesitz am Kinderschutz) an vielen Fällen beteiligt. Gemeinsame Kommunikation im Problemsystem ist nicht immer einfach, erwünscht oder strukturell ermöglicht – und damit potentiell konflikthaft[2]Die Notwendigkeit der Kommunikation und Kooperation im Hilfesystem wird auch im vorliegenden Band gesehen und angesprochen, gleichzeitig wird aber oft unterstellt, dass Fachlichkeit als solche schon eine eindeutige Legitimität besäße: „Fachkräfte beobachten mithilfe ihrer eigenen Strukturen familiäre Wirklichkeit und sorgen sich, dass Erziehungsverantwortliche kindeswohlgefährdend handeln könnten. Abgesichert durch die trägerinternen Verfahrensweisen zur Risikoeinschätzung bei Kindeswohlgefährdung reflektieren sie sich dazu. Kommen sie zu der Einschätzung, dass es sich um Kindeswohlgefährdung handelt, geht es nicht mehr um die Frage »Was ist denn das Problem?«, sondern um die klare Aussage »Das ist das Problem«. Die Sorge um das Kindeswohl wird von den Fachkräften als dringlichstes Thema definiert. Für Kooperationen zu anderen Themen muss zunächst diese Sorge ausgeräumt werden. Die Beobachtung der Fachkräfte steht an dieser Stelle nicht zur Verhandlung, sie darf nicht abgeschwächt oder bagatellisiert werden“ (177). Gerade angesichts der Unklarheit, was denn hier genau die Kindeswohlgefährdung sein soll, öffnet sich in der Praxis regelmäßig der Raum für ganz unterschiedliche Einschätzungen, die jeweils durchaus Fachlichkeit für sich in Anspruch nehmen können. Die Frage „Was ist denn das Problem?“ erweist sich gerade dann als Notwendigkeit, wenn die Diagnose Kindeswohlgefährdung gestellt wird.  Es geht dabei eben gerade nicht um Bagatellisierung, wie in diesem Buch gelegentlich nahegelegt wird, sondern um Kontextualisierung und kritische Selbstevaluation.

Auf diesem Weg sind zweifellos noch viele Schritte zu machen. Das vorliegende Kinderschutz-Konzept habe ich dabei als wenig hilfreich empfunden. Sein leidenschaftliches Plädoyer für den Schutz von Kindern und die Forderung nach stärkerer Reflexion und Kommunikation von Kinderschutzfragen innerhalb und zwischen Organisationen sowie unter Professionellen teile ich. Leider ist das Konzept aber – auch wenn sicherlich gut gemeint – ein eher autoritäres Eingriffskonzept geworden: sowohl in Hinsicht auf die Arbeit mit Familien als auch auf die Installation einer Machtposition in Organisationen, für die es kein Gegengewicht gibt. Wenngleich diese Eingriffslogik mit einer Fürsorge- und Schutzsemantik bemäntelt wird, fehlt doch dafür angesichts einer mangelhaften Definition, was denn überhaupt eine Kindeswohlgefährdung sein soll, die inhaltliche Basis und öffnet normativen Eingriffen in Familien Tür und Tor.

Ich bin nicht sicher, ob das die Absicht des Autorenkollektivs war oder ob es sich hier nur um das Ergebnis einer großen sprachlichen und argumentativen Nachlässigkeit handelt. Nicht immer wird ein Text dadurch besser, dass mehrere Menschen gleichzeitig daran schreiben. Begriffliche Unschärfen, definitorische Mängel, Platitüden und Allgemeinplätze durchziehen das ganze Buch. Die Sprache hat häufig eher etwas von Selbstdarstellungen, wie man sie in Flyern finden kann. Auch wenn es kein Fachbuch ist, sondern nur ein Konzept, kann man auf über 260 Seiten doch mehr an historischer Kontextualisierung, Einbettung in vorhandene Diskurse und Problemanalysen, Hinzuziehung und Nutzung von Quellen, Einbeziehung empirischer Befunde zum Hilfesystem und argumentativer Klarheit erwarten als hier eingelöst wurde.

Wer an einem umfassenderen Blick auf die Problemlage und Praxis des Kinderschutzes bekommen möchte, sollte sich vielleicht den Band „Kinderschutz in der Demokratie – Eckpfeiler guter Fachpraxis. Ein Handbuch“ (Opladen/Barbara Budrich) anschauen, in dem es um Versuche von Antworten auf die Fragen geht, die im vorliegenden Konzept ausgeblendet werden.


[1] vgl. Kay Biesel & Reinhart Wolff. (2014): Aus Kinderschutzfehlern lernen: Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie. Bielefeld (transcript). Zur Rezension: https://systemagazin.com/aus-kinderschutzfehlern-lernen/

[2] Levold, Tom. (2021): Organisationen als Akteure im Kinderschutz. In Kira Gedik & Reinhart Wolff (Hrsg.), Kinderschutz in der Demokratie – Eckpfeiler guter Fachpraxis (153-165). Opladen/Berlin/Toronto (Verlag Barbara Budrich).

PPSB-Hamburg (2021): Navigation in rauen Gewässern. Ein systemisches Kinderschutzprogramm. Weimar (verlagdasnetz)

264 Seiten, kart. mit Abbildungen
ISBN 978-3-86892-175-5
Preis: 32.90 €

Verlagsinformation:

Im Kinderschutz begibt man sich oft in sprichwörtlich raue Gewässer – Untiefen, Brandung und Stürme sind keine Seltenheit und brauchen eine starke Navigation. Das Kinderschutzprogramm des Autor*innenteams des PPSB-Hamburg hilft, das Steuer in jeder Situation fest in der Hand zu halten. Um gefährdeten Kindern ein sichernder Anker zu sein, muss ein Schutzprogramm von allen Beteiligten gemeinsam entwickelt und gestaltet sein. Der Einsatz von Kinderschutz-Lotsen ist dabei sehr bedeutsam. Dieses Werkstattbuch bietet ein Modell für die systemische Auseinandersetzung mit Kinderschutz und die Entwicklung eines effizienten Schutzprogramms in Organisationen. Es enthält zahlreiche Ansätze und Methoden, um einen Kooperationsprozess im Kinderschutz konstruktiv und zielführend zu gestalten.

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