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systemagazin Adventskalender – „Wundern mit Luhmann“

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Torsten Groth, Münster: „Wundern mit Luhmann“

Zum 90. Geburtstag von Niklas Luhmann sind kürzlich zwei Tagungen organisiert worden und zwei Bücher erschienen. Eines zur „Systemtheorie der Gesellschaft“, das auf einem Manuskript aus den 70er Jahren basiert, und eines zur „Kontrolle von Intransparenz“, das – herausgegeben von Dirk Baecker – einige seiner letztveröffentlichten Aufsätze zusammenführt. Ich nehme all dies zum Anlass, die Diskussion um „Systemisches Engagement“ mit einigen soziologisch-systemtheoretischen Ideen zur Gesellschaftsberatung zu verknüpfen.

Zunächst mag diese Verknüpfung verwundern. Luhmann ist sicher nicht hervorgetreten als Prediger eines gesellschaftlichen Engagements. Vielmehr nahm er die Rolle des Mahners vor zu viel gut gemeintem Engagement (und zu viel Veränderungseuphorie) ein. Mit seiner skeptischen Haltung positionierte er sich in der noch fühlbar aufgeheizten Post-68er Zeit gegen eine Vielzahl emanzipatorischer Ansätze. Diese Haltung wurde Luhmann oftmals charakterlich zugeschrieben, obgleich er seine nüchterne Einschätzung stringent aus seiner Theorie abgeleitet hat. Eine Theorie, die sich auch fast 20 Jahre nach dem Tod Luhmanns ironischerweise gerade bei all jenen Ansätzen einer großen Beliebtheit erfreut, die sich professionell mit Veränderungsbemühungen beschäftigen, v.a. der systemischen Organisationsberatung.

Torsten Groth

Drei Schlaglichter möchte ich werfen, die auch mich in meiner praktischen Tätigkeit begleiten.

Erstens stellt Luhmann – wie so viele Systemtheoretiker – den Begriff der Komplexität in den Mittelpunkt. Komplex sind die Verhältnisse, wenn nicht mehr alles mit allem verknüpft werden kann, so die klassische Definition. Vielfach wird unter Systemikern diese Kurzdefinition übernommen, um die Unmöglichkeit direktiver Intervention zu begründen. Eine der wichtigsten Folgerungen aus der Luhmann’schen Definition wird jedoch oft übersehen. Die Komplexität ist keineswegs als Ende der Interventionschancen, sondern als Beginn aller Systembildung zu sehen (in der es vielfältige Interventionsmöglichkeiten gibt): Komplexität heißt Überforderung, Überforderung heißt Selektionszwang, Selektionszwang heißt Risiko der Fehlentscheidung, Risiko der Fehlentscheidung heißt Notwendigkeit der Unsicherheitsabsorption. Mit dieser vierfachen Überleitung wird das Risiko falscher Entscheidungen bzw. die ex ante Absicherung von Entscheidungen für den Fall, dass diese sich ex post als Fehleinschätzungen herausstellen sollten, in den Mittelpunkt gerückt. Die oftmals und sicher auch zurecht bemängelte Trägheit (der Gesellschaft, der Politik, der Bürokratie – Stichwort LAGeSo in Berlin) erfährt durch diese Wendung ein Re-Framing. Kann es sein, dass das Festhalten am bestehenden Routinen erklärbar wird, da hierdurch die Unsicherheitsabsorption „besser“ funktioniert? – Ein solches Denken hilft, ein Verständnis für Verhältnisse zu erlangen, über die man sich oftmals nur empören kann. Aber Empörung allein hilft nicht (auch wenn man sich auf diese Weise als moralisch überlegen ausweisen kann oder auch leichter Gesinnungsgenossen findet). Veränderung wird wahrscheinlicher, wenn man nachvollziehen kann, welche Probleme diejenigen für sich zu lösen (versuchen), die am Weiter-wie-bisher festhalten. Ich kann mich fürchterlich darüber aufregen, dass wir es als ohnehin schon reiche Gesellschaft in einer Zeit sprudelnder Steuereinnahmen nicht schaffen, nachhaltige Konzepte für den Umweltschutz, das Flüchtlingselend, die schichtenunabhängige Bildung oder auch die Breitband-Infrastruktur zu finanzieren und zu entscheiden. Aber, wie lässt sich dies erklären, ohne dass man platt und unreflektiert über „die Politik“ schimpft?

Zweitens kombinierte Luhmann schon früh das Komplexitätsdenken mit dem Begriff der Funktion bzw. der daraus abgeleiteten funktionalen Analyse. Vereinfacht gesprochen und für den „Alltagsgebrauch“ in der Beratung ist es sinnvoll, sich bei allem, was wiederholt auftaucht, zu fragen, welche Funktion dieses übernehmen könnte. Auch hier wird mithilfe von Theorie eine Perspektive eingenommen, die der Alltagspraxis entgegenläuft. Diese funktionale Sicht, die in der systemischen Beratung fast schon routinehaft auf Krankheiten und Probleme angewendet wird, kann auch für gesellschaftliche Missstände oder politische Entwicklung angewendet werden. Wofür ist es gut, dass … ? – Systemtheorie lädt sicher nicht ein, mit Aktionismus und Optimismus gegen Missstände zu kämpfen, aber sie lädt zum permanenten Lernen ein: Was lernen wir über die USA daraus, dass sie erst mehrheitlich Trump gewählt und nun immer noch nicht wieder abgewählt haben (so sehr man es sich auch wünschen mag)? Was lernen wir über eine Weltgesellschaft, die nicht in der Lage ist, globale Probleme zu lösen (so sehr es auch notwendig erscheint)?

Drittens immunisiert Luhmanns Theorie gegen den Hang zum schnellen Erklären und Formulieren einfacher Lösungen. Gerade letzteres wird zuweilen auch unter Systemikern praktiziert (und ist in diesem Kalender auch schon zuvor angesprochen wurde). Aus einer systemtheoretischen Perspektive lassen sich keine „systemisch richtigen“ Vorgehensweisen ableiten (so sehr es zuweilen auch zu wünschen wäre). „Systemisch“ ist eine besondere Form, wie man mit Unterstützung von Theorie die Praxis anders beobachtet, andere Vergleiche mit vermeintlich fremden, aber strukturähnlichen Phänomen herbeiführt und ggf. – aber nicht zuerst – andere Erklärungen findet. In diesem Sinne ist alles, was passiert, systemisch (beobachtbar und erklärbar), ja, auch Trump ist systemisch, Hierarchie ist systemisch, Umweltverschmutzung ist systemisch. Man muss diese Phänomene nicht schätzen, kann jedoch andere Einschätzungen als nichtsystemische Beobachter abgeben in Bezug darauf entwickeln, worin die Funktionalitäten und Dysfunktionalitäten beobachtbarer Praktiken liegen, mit welchen Paradoxien zu rechnen ist, welche blinden Flecke wohin verschoben werden etc. Erinnert sei nur an den Bericht von Corina Ahlers, die mit einem systemisch informierten Blick eine Art „dichter Beschreibung“ liefert, mit welchen Freuden und Widrigkeiten die Aufnahme von Flüchtlingen verbunden ist.

Im Erzeugen einer produktiven Differenz liegt der Mehrwert, nicht in systemischer Besserwisserei, wie man als Systemiker zu handeln habe. Bleibt man damit nur Beobachter? Keineswegs, aus dieser Differenz werden sich – dies zeigt die Praxis der systemischen Beratung – auch Interventionsideen ergeben. „Wundern statt Empörung“ ist die Devise. Gerade in dem neuen, alten Buch des frühen Luhmann aus den siebziger Jahren finden sich viele Anregungen, wie man Systemtheorie als Ideenlieferant verstehen kann. Während Luhmann v.a. ab „Soziale Systeme“ im Jahre 1984 stärker an einer abstrakten Theoriearchitektur gearbeitet hat, finden sich in „Systemtheorie der Gesellschaft“ weit mehr kurze Schmunzelepisoden, die helfen, dem aktuell problematischen Weltgeschehen ein paar mehr Ideen abzuringen, als dieses uns anbietet.

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Ein Kommentar

  1. Matthias Ohler sagt:

    Danke!
    Wenn ich mir einen “Scherz” erlauben darf: In dieser Hinsicht kann man sogar seine Sicht auf die Weihnachtsintervention nochmal anders inStallieren.

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