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systemagazin Adventskalender – Westberliner Erinnerungen

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Barbara Bräutigam, Stralsund:

In den 80iger Jahren wurde ich bei Urlaubsreisen mit meinen Eltern immer wieder von anderen westdeutschen Jugendlichen gefragt, ob wir uns in Berlin nicht eingesperrt fühlen würden. Mir und meinen Westberliner Freunden ist diese Frage immer unglaublich auf die Nerven gegangen. Wir hegten eine gewisse Verachtung für das provinzielle und kapitalistische Westdeutschland, wo man zum Wehrdienst musste und stundenlanges Telefonieren sehr teuer war. Im Fach politische Weltkunde verteidigte ich die DDR als das eindeutig humanistischere System und fand die Mauer zwar bedauerlich, aber nun ja …

In den letzten Wochen habe ich des Öfteren voller Scham an meine Empathielosigkeit und meine ziemlich bornierte erste Reaktion auf den Mauerfall vor 30 Jahren gedacht und fand mich bei Jutta Dittfurths Einstellung wieder, die nach dem November 1989 in erster Linie wieder ein mächtiges, womöglich kriegstreibendes Deutschland befürchtete.

Für den Osten begann ich mich trotz ostdeutscher Verwandtschaft erst zu interessieren, als ich Mitte der 90iger Jahre im Land Brandenburg zu arbeiten und leben begann. Ich lernte bei Begrüßungen konsequent die Hand zu geben und entwickelte eine gehörige Portion Demut angesichts heftiger biographischer Brüche und Verluste im Zuge der Wende.

2003 zog ich mit Mann und Kind nach Stralsund und verstand einerseits zunehmend die Abneigung vieler ostdeutscher Menschen gegenüber den Wessis und hatte andererseits immer mehr die Nase voll davon, mich scheinbar für meinen Geburtsort entschuldigen zu müssen. Erst als ich ein paar Jahre später im Rahmen einer Paartherapie von dem westdeutschen Mann für eine Westdeutsche und von der ostdeutschen Frau für eine Ostdeutsche gehalten wurde, hatte ich das Gefühl, diesem Dilemma ein wenig entronnen zu sein. Inzwischen bin ich als Lehrende an der Hochschule Neubrandenburg immer öfter mit Menschen konfrontiert, die entweder unsäglich unter der DDR und deren System der Bespitzelung und Repression gelitten haben oder denjenigen, die es immer noch nicht fassen können, dass alles falsch sein soll, was einmal richtig war. Eine konstruktivistische Sichtweise auf die Vergangenheit scheint zwar dabei die einzig mögliche, hilft aber nur bedingt, da Leid validiert werden will. Ich glaube nach wie vor, dass es mir als westsozialisiertem Menschen nicht zusteht, darüber zu entscheiden, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht. Aber die Frage treibt mich zunehmend um.

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