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systemagazin Adventskalender: „Siehe, ich verkündige euch grosse Freude”

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Martin Rufer, Bern: „Siehe, ich verkündige euch grosse Freude, denn euch ist heute ein Kind geboren“: Systemische Therapie sozialrechtlich anerkannt!

Maria, Joseph und die drei Weisen aus dem Morgenland stehen zusammen bei der Wiege und diskutieren heftig darüber, wer denn nun die Eltern dieses Kindes seien:

Maria: Ich weiss nur eins: ich habe dieses Kind nicht zur Welt gebracht.

Caspar: Wer denn sonst? Es wird euch wohl nicht einfach so in die Wiege gelegt worden sein.

Melchior: Warum nicht, möglich ist heute alles, denn bis vor kurzem waren wir ja drei ja gar nicht da, sondern weit weg und in warmen Stuben.

Balthasar: Ich auf jeden Fall bin ich nicht der Vater, das sieht man ja von blossem Auge. Dieses Kind ist weisser als weiss.

Josef: Ich übrigens auch nicht, denn seit mehr als einem Jahr sind wir, Maria und ich, als Fremdlinge unterwegs von Tür zu Tür auf der Suche nach Anerkennung.

Melchior zu Caspar (flüsternd): …wahrscheinlich meint er „fremd gegangen“ und hat nun das Kuckucksei heute Nacht in die Wiege gelegt und es seiner kinderlosen Frau untergejubelt…

Melchior: Ist es überhaupt wichtig zu wissen, wer der Erzeuger ist, wenn nicht mal klar ist, wer die Mutter ist. Und schliesslich sind wir drei ja nicht Pharisäer oder Schriftgelehrte, die darüber richten und entscheiden müssen, wessen Kind dies ist.

Josef: Wer denn sonst, ausser Maria und mir, wäre überhaupt da und bereit die Fürsorge zu übernehmen, auch dann noch, wenn es älter und nicht mehr schutzbedürftig ist?

Maria: Ja, genau, Pharisäer hin oder her: wir brauchen die rechtliche Anerkennung, wenn unsere und später die Stimme des Kindes selber dereinst auch ernst genommen werden soll.

Balthasar: In der Tat, es könnte ja sein, dass nicht einer von uns, sondern später andere die Gunst der Stunde erkennen und Elternschaft im Rahmen einer schon bestehenden Familie beantragen.

Josef: Da würde ich dann noch ein Wörtchen mitreden wollen!

Balthasar: Ach, was soll das. Ich auf jeden Fall bin auch so gross geworden. Meine Eltern waren kaum da, die Amme bald einmal weg und das, was ich heute bin und kann, hab ich mir selber geholt.

Melchior: Du hast gut reden, denn trotz deiner Hautfarbe waren es, aus gutem Hause stammend, die günstigen Lebensumstände, die den Unterschied machen, der einen Unterschied macht.

Caspar: Ach Du mit deiner Wortakrobatik. Du tust nun so, als wäre Balthasar etwas ganz Besonderes, etwas, das ihn von uns allen abhebt. Und wenn Du Josef, zusammenmit Maria, diesem Kind liebevoll zur Seite stehen möchtest, spielen doch weder Hautfarbe, das Recht, die Lebensumstände oder Mutter- oder Vaterschaft eine Rolle, oder?

Josef: Danke. Trotzdem: das mag zwar weise sein, aber das Leben draussen ist ganz anders. Da kann ich Dir ein Liedchen von singen.

Melchior: Heisst dies, dass wir nun gehen können und jetzt, wo wir nicht wissen, wessen Kind es ist und bleibt, auch unsere, doch sehr wertvollen Geschenke vorläufig wieder mitnehmen?

Maria: Das überlass ich euch. Wir, Josef und ich, auch wenn wir nicht wissen, wie es mit diesem Kind weiter geht, nehmen es als „Weih-Nacht-geschenk“ und tragen es, solange es nicht auf eigenen Beinen stehen kann. Wohl wissend, dass es bald einmal andere findet, die ihm genauso viel bedeuten werden…

Josef: Ja, und vielleicht auch ein bisschen als Zeichen der Anerkennung für den langen und steinigen Weg, den wir bisher gegangen sind ..

Derweil drinnen im Stall Ruhe einkehrt und ein Stern über dem Stall erscheint, sind von draussen Töne, Engelsstimmen gleich, vernehmbar: „Fürchtet euch nicht. Sie ich verkündige euch grosse Freude, denn euch ist heute ein Kind geboren“. Und genau zu dem Zeitpunkt in dieser Weih-Nacht bewegt sich langsam ein Hirte, ein „Therapeutes“ auf die Hütte zu, weil er vernommen hat, dass daselbst Weise aus dem Morgenland angekommen sind, die ihm Antworten zur Zukunft seines Daseins geben können. Fragen über Fragen, die er sich und seinen andern „therapeutes“ immer wieder, so auch in diesem Jahr, stellt:
„Unser Label („systemisch“) ist überall zu finden, aber ist auch immer („systemisch“) drin, wenn („systemisch“) drauf steht? Und wohin führt uns das? Mich würden Ihre Ideen, Hypothesen und Prognosen interessieren, wohin sich das (systemisch) Feld in den kommenden Jahren entwickeln wird. Welche Konzepte werden Bestand haben, welche kommen unter die Räder (des Mainstreams, des Fortschritts, des Rückschritts)? Was bleibt in Erinnerung, was wird vergessen? Was geschieht mit den Verbänden, Instituten und Interessengruppen? Mit welchen Auflösungen, Spaltungen, Fusionen und Neuformationen wird zu rechnen sein? Was wird man in 10 Jahren unter „systemisch“ verstehen? Wie schätzen Sie Ihre eigene Zukunft unter diesen Prämissen ein? Angenommen, Sie schauen 2028 auf 10 turbulente Jahre zurück, was ist alles an erfreulichen und deprimierenden Ereignissen geschehen? usw.
So stösst er nun sachte die nur leicht angelehnte Türe auf, wo er, wie verkündet, in dieser Weih-Nacht, eine Futterkrippe und darin ein in Windeln gewickeltes Kind vorfindet. Daneben stehend aber keine Weisen, sondern zwei eher ärmlich gekleidete Menschen, von denen er annimmt, dass es wohl die Eltern sind. Einem Wunder gleich wirkt er zwar etwas verstört, verspürt aber mit Erleichterung auch einen gewissen Stolz, wenn auch nicht der Vater, aber eben doch irgendwie Teil davon zu sein und es scheint fast , als ob im Anblick dieses Kindes unter diesem hellen Stern all die Fragen, die er mit sich getragen zwar nicht gelöst, aber nun einem andern Lichte erscheinen und sich damit neu und anders stellen…

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3 Kommentare

  1. Kopp sagt:

    “Das mag zwar weise sein, aber das Leben draussen ist ganz anders”, das wird, lieber Martin, wie du Joseph sagen lässt, in Zukunft manifester werden, wenn sich der systemische Ansatz nicht breiter abstützen kann, ich meine kulturkritisch, gesellschaftskritisch und wertekritisch.
    Weiterhin eine kreative Jahresendzeit.
    Wale

  2. Arist von Schlippe sagt:

    Klasse! Danke Martin, Deine Geschichte hat mir sehr gefallen.
    Herzliche Grüße
    Arist

  3. Clemens Lücke sagt:

    Vielen Dank nach Bern für diese AD-VENT-Geschichte
    Clemens Lücke

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