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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender (Nachschlag 1): Exklusivinterview mit der Systemischen Therapie zum 10jährigen!

| 2 Kommentare

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Autorinnen und Autoren des diesjährigen Adventskalenders,
die Adventszeit ist vorbei und ich möchte mich ganz herzlich bei allen bedanken, die in diesem Jahr zum Gelingen des Adventskalenders beigetragen haben. Offenbar war das Thema so aktuell und interessant, dass ich dieses Mal schon sehr schnell wusste, dass der Kalender voll sein würde. Der Vorteil bei einem Online-Kalender besteht darin, dass man beliebig viele Türchen aufmachen kann. Weil ich Ihnen auch die weiteren eingegangenen Beiträge nicht vorenthalten möchte, kommen hier noch einige Nachschläge in den Kalender. Ich wünsche viel Vergnügen bei der Lektüre!
Mit herzlichen Grüßen
Tom Levold
Herausgeber systemagazin

Sebastian Baumann, Berlin: Exklusivinterview mit der Systemischen Therapie zum 10jährigen!

Dem Redaktionsteam der Systecxt, dem Mitgliedermagazin des neu gegründeten systemischen Dachverbandes DSG, in dem DGSF und SG zusammen aufgegangen sind, ist etwas Besonderes gelungen: Exklusiv und erstmalig gibt die Systemische Therapie im Kassenkontext ein großes Weihnachtsinterview und damit einen Einblick in ihr Seelenleben. 

Systecxt:Liebe ST, 2018 ging man davon aus, dass zehn turbulente Jahre auf dich zukommen würden. Für die Weihnachtsfeiertage hast du dich an einen geheimen Ort zurückgezogen, an dem wir dich besuchen dürfen. Wie geht es dir heute? 

ST:Das waren schon terra Zeiten, die letzten Jahre. Ein bisschen ist mir immer noch schwindlig. Die paradoxen Einflüsse und Anforderungen, Hoffnungen und Befürchtungen von allen Seiten haben mich etwas müde gemacht. Die gute Nachricht ist: I’m alive.

Systecxt:Schon deine Geburt hatte ja etwas Sagenumwobenes, Mystisches.

ST:Zu diesem Kontext bin ich in Deutschland ein bisschen wie die systemtheoretische Jungfrau zum evidenzbasierten Kinde gekommen. Zeugung und Schwangerschaft waren ein extrem langer Prozess.

Mir ist damals viel mit in die Wiege gelegt worden: Für manche war ich der Messias, der das psychotherapeutische Gesundheitssystem retten sollte, andere sagten mir einen schnellen Tod oder eine heftige Metamorphose voraus. Delegationen noch und nöcher. Wem ich da die Treue halten sollte, war schwer auszumachen. Ich flitzte nur so hin und her zwischen den Attraktoren.

Richtig berührt hat mich, wie viele Leute sich für mich eingesetzt haben, egal ob sie mich in dem Kontext gesehen haben oder nicht. Alle wollten das Beste für mich. Da kriege ich heute noch eine Gänsehaut. Manchmal hatte ich den Eindruck, die haben das selbst gar nicht gemerkt. Später habe ich erfahren, dass sich viele für mich stark gemacht haben, obwohl sie wussten, dass sie selbst mit mir gar nicht viel anfangen könnten, sondern erst ihre Kinder und Kindeskinder. 

Systecxt:Du sagst, du bist still alive. Was hat dir geholfen? 

ST:Mir wurde das irgendwann zu heftig mit den vielen Ideen für mich und ich habe ein Coaching im Ausland gemacht, da kannten die das schon. Da habe ich beschlossen, mich auf die Leute mit deren Umfeld zu konzentrieren, die zu mir kommen und die ich bei irgendwas begleiten sollte. Das hat mir gut getan. Ich hatte den Eindruck, wieder am richtigen Platz zu sein, ob ich nun streng genommen ein Psychotherapieverfahren sein konnte oder nicht. Ich war halt nun mal da.

Systecxt:Systemikerinnen haben ja ein feines Gespür für Paradoxien. Sind dir ein paar begegnet?

ST: Etliche! Effektiv und effizient sollte ich sein und je mehr ich das versuchte, desto weniger klappte es. Inzwischen ist mir das Wurscht und ich geb dem Kaiser, was des Kaisers ist. Das wirkt ganz schön effektiv und effizient. 

Ein anderes Beispiel: Ich sollte genau beschreiben, woran die Leute leiden, mich dann aber auf das konzentrieren, was sie an Grundlagen und Erfahrungen von besseren Lösungen mitbringen. In solchen Momenten war ich froh, dass ich meine Geschwister fragen konnte, die in der Jugendhilfe arbeiten und die auch Berichte schreiben mussten, aus denen Hilfebedarfe erkennbar wurden. Oder die, die in anderen Ländern arbeiteten oder die schon länger zum Teil unter anderer Flagge im Gesundheitssystem segelten. Und vor allem die, die gewollt oder ungewollt im System unterwegs waren, aber andere Finanzierungsmöglichkeiten gefunden haben. 

Finanzierung ist eh so ein Stichwort. Ganz verschämt strichen die ersten Kassentherapeutinnen das mit mir eingenommen Honorar ein. Denen wurde wohl gesagt, dass in Selbstzahlerpraxen, Hochschulen, Familienunternehmen, Beratungsstellen, Supervisionen, SPFHs, Schulen, Gemeinden, Firmen etc. sauberes Geld verdient würde, während es mit mir Fleischtöpfe waren, an die sie heranwollten. Hab ich nie verstanden. Hab denen gesagt, sie sollen sich den Schuh nicht anziehen, jetzt sind sie da selbstbewusster und verschweigen nichts mehr. 

Eine ganze Zeitlang wusste ich auch nicht, wie ich damit umgehen sollte, dass ich zum Mainstream wurde. Aus den anderen Bereichen, in denen meine Geschwister längst Mainstream waren, kamen warnende Hinweise, ich solle bloß nicht Mainstream werden. Am Anfang bin ich deswegen noch durch die Straßen gezogen und habe laut ausgerufen: „Es gibt nichts zu sehen! Ich bin kein Mainstream. Keine Angst. Ich bin kein Mainstream!“ Fand ich mit der Zeit aber albern. 

Systecxt:Was wäre eigentlich aus dir geworden, wenn der G-BA deine Geburt aufgehalten hätte?

ST:Ach, in mancher Stunde wünsche ich mir das sogar. Stressfreier wäre es schon gewesen. Da war auch schon alles für vorbereitet. In den Spielregeln mancher Ärztekammern z.B. tauchte ich vor zehn Jahren auf der Stufe von Muskelrelaxation und Psychoedukation auf und wurde mal der Verhaltenstherapie, mal der psychodynamischen Therapie zugeschlagen. Jeder hätte über mich gedacht: So dolle hilft die ja doch nicht. Und wenn ich mir das dann wieder vorstelle, bin ich doch ganz zufrieden damit, wie es gekommen ist.

Hätte mich sonst wahrscheinlich noch viel mehr verbiegen müssen. 

Systecxt:Erkennst du dich noch wieder, wenn du heute in den Spiegel schaust? 

ST:Um ehrlich zu sein: Nur bedingt. Und das ist auch gut so. Ich lerne so viele neue Ausprägungen von mir kennen. Ich bin froh, dass wir eine Lösung dafür gefunden haben, dass ich nicht den ganzen Tag alleine in einer Kassenpraxis zur Anwendung komme. Macht einen über die Jahre doch ganz schön fertig. Ich bin stolz darauf, wo ich herkomme und was ich da mitbekommen habe. Das eine oder andere mahnende Wort wurde sicherheitshalber gleich in meine DNA geschrieben und ich reagiere ziemlich stark darauf, wenn das jemand antippt. 

Systecxt:Auch heute noch wird viel über dich gesprochen. Wie geht es dir damit?

ST:Ich gebe zu, ich genieße es inzwischen auch, wenn so viel über mich nachgedacht und mit mir ausprobiert wird. Ich freu mich immer, wenn die Leute mit Respekt kontrovers über mich sprechen und dabei miteinander in Kontakt bleiben. Sind jetzt auch viel mehr Frauen. 

Ich versteh es, dass meine Geschwister und ich uns für unterschiedliche Dinge interessieren. Wir haben ja auch unterschiedliche Arbeitsstätten. Aber wir sind doch auf die gleichen Schulen gegangen. Ich hab manchmal Sehnsucht nach ihnen und freu mich, wenn ich sie nicht nur zu Weihnachten sehe. Was es da immer zu erzählen gibt!

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2 Kommentare

  1. Wolfgang Loth sagt:

    Lieber MMG Sebastian,
    aus Anlass Deines Beitrags weise ich auf ein kürzlich wieder aufgetauchtes Gedicht von Hieronymus Heveluk hin, Entstehungszeit noch nicht geklärt.
    Der Titel des Gedichts lautet (im Abgleich mit bislang vorliegendem Material) vermutlich:

    „Die alte Linde“

    Als erste Strophe wurde entziffert:

    In Anbetracht diverser Winde
    beugte sich die alte Linde
    in die je gewünschte Richtung –
    im Sinn den festen Stand in einer Lichtung.

    VG: W.

  2. Martin Rufer sagt:

    Liebe ST

    Wie das so ist, wenn man nach einer langen Wanderung müde aber voll mit inneren Bildern schliesslich ankommt. Man setzt sich gerne nieder, wenn möglich mit der letzten Abendsonne, trinkt ein Bier und schaut zurück auf den langen Weg. Meist, so meine Erfahrung, geht es nicht lange bis man die Karte nimmt und schaut, wo es denn morgen weitergehen soll. Und der Aufbruch zu Neuem, am nächsten Tag, noch bevor die Sonne fest am Himmel steht, das ist das, was das Unterwegssein (zu Fuss) so einmalig macht zu wissen, Karte hin oder her, “es gibt keinen Weg. Der Weg entsteht beim Gehen.”
    In diesem Sinne, liebe ST in Deutschland, beneide ich Dich in der Tat. Hat doch bei uns (Schweiz) nach Jahrzehnten der Anerkennung das Label den meisten Klebstoff verloren, all die Fragen, die einmal so wichtig schienen, interessieren nur noch ein paar Wenige, denn man surft inzwischen schon längst auf einem neuen Brett die 3. (oder 4.?) Welle der Psychotherapie. Wenn man aber wie ich das Surfen nie gelernt hat, dem Wellenspiel zwar gerne zuschaut, besinnt man sich auf das, was man gerne tut und gut kann: schwimmen (im Wasser) ode eben “Gehen. Weiter Gehen… Einen Fuss vor den anderen setzen, Grenzen erforschen und überschreiten.” (Kagge E., 2018). Ob daraus wie bei Old Bob eine “never ending tour” wird, weiss ich nicht. Was ich aber weiss und “was bleibt ist die Erfahrung, die Erfahrung, dass es sich lohnt zu vertrauen.” (aus dem Film “Weit”)

    MIt solidarischem Gruss auf den weiteren Weg
    Martin Rufer

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