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systemagazin Adventskalender: Eine systemische Dekade voraus – je zwei Szenarien zu drei Themenkomplexen – und was wir (vielleicht) beitragen könnten

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Enno Hermans, Essen: Eine systemische Dekade voraus – je zwei Szenarien zu drei Themenkomplexen – und was wir (vielleicht) beitragen könnten

Mich hat die Fragestellung von Tom Levold für den diesjährigen Adventskalender im systemagazin sehr angesprochen und das hat vor allem auch persönliche Gründe.
Im nächsten Jahr endet nach dann neun Jahren meine Vorstandszeit in der DGSF – die abgelaufene „systemische Dekade“ habe ich also verbandspolitisch sehr umfangreich begleitet. Auf mich wartet eine echte Zäsur und da ist es natürlich besonders spannend, den Blick in die Zukunft auf die nächsten zehn Jahre zu richten.
Wenn ich priorisieren sollte, dann würde ich drei Themen als zentrale Herausforderungen identifizieren und nicht überraschend sind alle drei schon im Toms Aufruf zum Adventskalender genannt:

1. Entwicklung vor/nach und während sozialrechtlicher Anerkennungen
2. Verbandsentwicklungen in einem weiter wachsenden Feld
3. Konsensbildung, was denn „systemisch“ ist und „Qualitätssicherung“

Wie schon beschrieben, möchte ich jeweils zwei Szenarien anbieten, wie es im Advent 2028 aussehen könnte…

1.a. Systemische Therapie ist als psychotherapeutisches Verfahren sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche Teil der kassenfinanzierten psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland. Es werden primär an originär systemischen Instituten mehr systemische Psychotherapeuten aus- und weitergebildet. Durch das Psychotherapiestudium an den Universitäten und die entsprechende Besetzung von Lehrstühlen mit Systemikern findet vermehrt systemische Forschung statt. Durch die systemische Therapie im Versorgungssystem verändern sich zunehmend auch Sichtweisen im Gesundheitssystem im Hinblick auf die Beachtung von Wechselwirkungsphänomenen etc.

1.b. Systemische Therapie wird bisher nur für Erwachsene von den Krankenkassen finanziert und das Verfahren der Anerkennung für Kinder und Jugendliche ist noch nicht zum Abschluss gekommen. Dadurch und durch die geringe Zahl der Therapeuten ist eine Versorgungsrelevanz kaum gegeben. Die Ausbildungen und Weiterbildungen in systemischer Therapie finden vorwiegend an Instituten statt, die nicht zu den Verbänden gehören und die aus dem Spektrum der anderen Therapieverfahren kommen. Systemische Therapie wird stark als Methode verstanden, die sich ansonsten den klassischen Logiken des Gesundheitssystems unterordnet.

2.a. Basierend auf den guten Erfahrungen nach der sozialrechtlichen Anerkennung ist es den Verbänden gelungen, alle Systemiker*innen weiterhin unter einem Dach zu vereinen und den wechselseitigen Profit unterschiedlicher Grundberufe und Anwendungsfelder zu sichern. Die vielen Kolleg*innen aus der Jugendhilfe und Sozialen Arbeit erleben dies ebenso wie die Psychotherapeut*innen aus dem Gesundheitswesen als große Bereicherung. Nach intensiven Diskursen auf allen Ebenen ist der Beschluss gefasst worden, dass eine verbandliche Einheit die systemische Idee in Deutschland noch weiter stärken könnte und in einem mehrstufigen Verfahren werden die beiden Verbände SG und DGSF zu einer Einheit zusammengeführt. Der Abschluss dieses Prozesses steht gerade unmittelbar bevor.

2.b. Vor einigen Jahren kam es bereits zu einer Abspaltung von beiden Verbänden, so dass es nun einen Berufsverband Systemischer Psychotherapeuten gibt und das Gesundheitswesen in SG und DGSF nahezu keine Rolle mehr spielt. Diese Entwicklung haben die nicht im psychosozialen Feld tätigen Systemiker*innen zum Anlass genommen, einen Systemischen Verband für Supervision, Coaching und Organisationsentwicklung zu gründen, so dass in SG und DGSF die Vielzahl der aus der Profession der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik stammenden Mitglieder verblieben sind. Zwischen den neuen Verbänden gibt es viel Konkurrenz und Widerspruch. Nach außen hin wird die systemische Szene als zerrissen erlebt. Trotz aller Diskurse ist das Thema der Zusammenführung von SG und DGSF bereits Jahre zuvor ohne eine klare Antwort wieder versandet.

3.a. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben eine Verstärkung des theoretischen Diskurses in den Weiterbildungen und Verbänden mit sich gebracht. Es ist nicht mehr einfach alles „systemisch“ und die Entwicklung geht weg von einer Fokussierung auf Tools und Methoden – hin zu der wieder auflebenden Erkenntnis, dass es im Vergleich mit anderen theoretischen und psychotherapeutischen Zugängen um unterschiedliche Epistemologien geht und dass die konkrete methodische Intervention nur das „letzte Glied in der Kette“ eines Prozesses ist, der theoretischen Paradigmen und einer systembezogenen Hypothesenbildung folgt. Dieser theoretische Diskurs findet durch die Präsenz systemischer Psychotherapeuten nun auch verstärkt in den Einrichtungen des Gesundheitswesens statt.

3.b. Vor lauter inflationärer Verwendung ist eigentlich unabhängig vom Anwendungsfeld kaum noch zuzuordnen, was denn eigentlich „systemisch“ ist oder sein könnte. Die Verwechslungen reichen dabei vom reinen Settingsbezug („die mit der Familie“) bis hin zur Überzeugung mit dem Stellen einer einzigen zirkulären Frage auf jeden Fall schon „richtig“ systemisch gearbeitet zu haben. Überhaupt spielen plötzlich Kategorien von „richtig“ und „falsch“ eine große Rolle bei der neuen systemischen Betrachtung von Fallkonstellationen und im Grunde sind auch die systemischen Therapeuten nun immer häufiger diejenigen, die den Klienten sagen, was der Weg zur Lösung ist.

Zugegeben – das alles ist durchaus zugespitzt und jeweils sehr dichotom dargestellt. Eigentlich fühle ich mich beim Schreiben an die beiden Beschlussvorlagen A und B im Gemeinsamen Bundesausschuss erinnert und positioniere mich hier wie da dann gerne eindeutig für die Variante(n) A.
Nun sind komplexe Systeme bekanntermaßen eben nicht linear von außen instruierbar und dessen bin ich mir bewusst. Dennoch glaube ich, dass gemeinsam an vielen Stellen viel beigetragen werden kann, was eine gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion in Richtung der unter A beschriebenen Szenarien wahrscheinlicher macht. Dafür braucht es Mut, Entschlossenheit, aber auch einen Blick aufs Ganze. Es erfordert, eigene Interessen auch einmal zurückzustellen und das Vertrauen darauf, dass es gut werden wird – wenn auch vielleicht ganz anders als hier oder anderswo erdacht.
Konstruktive und kritische Diskurse über all das und viele spannende Entwicklungen wünsche ich der systemischen Szene für die nächsten zehn Jahre und bin selbst ganz gespannt, an welchen Stellen ich mich einbringen kann und werde.

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Ein Kommentar

  1. Martin Rufer sagt:

    Lieber Enno

    Lass mich Dir hier mit Meister Kodo Sawaki (Zen ist die grösste Lüge aller Zeiten, 2005) antworten:

    “Du hast überhaupt keine Wahl. Tue einfach, was Du tun musst. Lass sein, was Du sein lassen musst. Je mehr Du von Dir gibst, desto gelassener wirst Du sein. Hierin liegt das Geheimnis.”

    Mit herzlichem Gruss und besten Wünschen in das kommende Jahr
    Martin

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