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systemagazin Adventskalender – 30 Jahre sind schon ne Hausnummer

| 2 Kommentare

Katrin Bärhold, Heikendorf:

Hm, 30 Jahre sind schon ne Hausnummer dachte ich als erstes

Damals war ich in Berlin und wohnte direkt an der Mauer. Oderberger Strasse – direkt an den Wedding geklebt im Osten. Nachts 2 Uhr hatte mein alter Freund Harry an die Tür gewummert, um mir nach sehr kräftigem „Öffnen“ derselben mitzuteilen, dass er ein Bier hatte. Er war/ist Tischler und hat sie wieder repariert. 
Noch bevor ich Augenrollend denken konnte, dass er das immer tue – das mit dem Bier – antwortete er mit glänzendem Ganzkörper – „auf‘m Kudamm“. Seine einzige Angst damals war, dass sie ihn nicht wieder „reinlassen“. Ich hatte die Wende verschlafen und bewunderte das riesen Loch in der Mauer am nächsten Tag. Da wollte ich nicht durch … nee – wie geht das – nach Westberlin gehen in die Bernauer Strasse … erst 2 Tage später – in der Invalidenstrasse wagte ich das. Befremdlich. Beschämend. Was tue ich hier … obwohl ich demonstriert hatte damals für mehr Freiheit, fühlte sich das nur wie das nächste System an. Unfrei. Laaangweilig. Aufregend?

Ich hatte mich resigniert arrangiert ohne all diese Möglichkeiten. Wenn es keine Bananen gibt – ess ich eben Kohl oder nix. Jetzt wurde ich damit beworfen – vermeintlich begrüsst. Tja – woher sollten sie‘s auch wissen. Wie es uns geht, was wir denken und fühlen, was uns ausmacht. Was mich ausmacht. „Ihr hättet euch doch wehren können, was machen …“ – nein hätten wir nicht! Ich hätte gefragt werden können damals, macht aber vielleicht Mühe. Stattdessen wurde mir die Überzeugung übergestülpt, dass es besser war – sein muss im Westen. Anders war es. Sehr anders. 

Ergriffen war ich und ergriff alles an Möglichkeiten – nochmals studieren – diesmal das Richtige, nochmals wohnen mit den Möglichkeiten – meinen! Von denen ich mich bis heute schwer traue sie zu nutzen, zu ergreifen. Respekt vor und zu sich selbst haben dürfen. Ich weine immer noch, wenn ich die Bilder sehe und nun nach dieser langen Zeit weiss und fühle, was mir/uns angetan wurde und wird. In den Nischen und Ecken und öffentlich. Verrückt. „Der Hass auf die Liebe“ war mir ein gutes Buch, um zu verstehen, was da vor sich gegangen war. „Die Masken der Niedertracht“ ein weiteres. Es gilt in meinen Augen weltweit.

Das systemische Denken und das Wissen um transgenerationale Konflikte lässt mich bestürzt zur Kenntnis nehmen, wie lange es braucht, um dieses Perverse zu bearbeiten. Und das sind nur die, die kommen – zu mir, zu Therapeuten. Und das bin nur ich.

Das tiefenpsychologische und analytische Arbeiten ergänzte diese Suche. Auch meine. Es kommt mir wie ein ewiger Kampf vor. Eingesperrt werden. In Diktaturen aufwachsen müssen. Und ich kenne nun beide Systeme und habe einen doppelten Erfahrungsschatz. Es lohnt sich, sich darum zu bemühen. Meiner Erfahrung nach sind es die Mütter, die gestärkt werden und gewertschätzt werden müssen. Bei ihnen findet die nächste Generation Sicherheit. Meiner Erfahrung nach sind es die Väter, die lernen sollten, was Vater sein bedeutet, Mann sein. Mit ihnen wagen es die neuen Menschen, über ihren Tellerrand zu hüpfen. Und es ist Liebe und Verständnis was fehlt und was den Fingerzeig – die Entwertung macht, wenn sie fehlt.

Es hat lange gebraucht, mich von einer Scham zu befreien, die nicht meine war. Ich hatte mich zu schämen. Erst für meinen freien Willen, dann für mein Anderssein, Provinzler, Ossi, Psycho, Tusse, Punk, Hausfrau, Therapeutin usw. 

Scham ist der am meisten versteckte Affekt. Hilflosigkeit, Wut und Schuld liegen sehr oben auf. Scham nicht. Beschämt werden macht unfrei, weil man sich dann wegduckt, zweifelt seine eigenen Gefühle an. Scham schützt unsere Intimität – wirklich?

Was ich in den 30 Jahren lernen konnte, war, dass Scham einer der wichtigsten übersehenen Affekte überhaupt ist. Angst und Aggressionen liegen oben auf. Hinter der Scham wartet die Ehrlichkeit, vor allem zu sich selbst. Das braucht Mut und das schätze ich an denen, die es angehen.

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2 Kommentare

  1. Katrin Bärhold sagt:

    Hallo nach Bern! Und danke für den Tipp! Ich hatte gestern im Regal geschaut, was ich dazu habe. Einiges. Dann käme dieses noch dazu.
    Katrin Bärhold

  2. Martin Rufer sagt:

    Schöner Text, liebe Kollegin. Dazu noch ein Buchtip des Schweizer Psychiaters Daniel Hell (Lob der Scham, psychosozial, 2018)

    Martin Rufer, Bern

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