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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Soziale Systeme 2008

Rasch, William (2008): Introduction: The Form of the Problem. In: Soziale Systeme 14(1): S. 3-17.

abstract: Indem Luhmann die Frage stellt, ob es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen gibt, sucht er nicht nach einer normativen Antwort, sondern untersucht die “Form des Problems.” Diese Einleitung in den Band stellt Luhmanns Erörterung von Unentscheidbarkeit und die Aporien der Kommunikationsmedien der verschiedenen Funktionssysteme in den Zusammenhang mit der Form des Problems der modernen Gesellschaft, d.h. die Trennung von Vernunft und Moral. Innerhalb dieser Auslegung der Luhmannschen Sicht der Moderne gibt die Einleitung dann kurz die wesentlichen Argumente der Beiträge des Bandes wider.

Luhmann, Niklas (2008): Are There Still Indispensable Norms in Our Society? In: Soziale Systeme 14(1): S. 18-37.

abstract: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? (zum Volltext) In seiner Heidelberger Universitätsrede von 1992 führt der Autor uns ein heutzutage allzu bekanntes Folterungs-Szenario vor Augen, um die Funktion und angebliche Unverzichtbarkeit von Normen in der modernen Gesellschaft zu untersuchen. Sich auf die “Normativität von Normen” oder auf “Werte” zu verlassen, erweist sich im Ausnahmezustand als vergeblich, da sich alle Normen und Werten als unentscheidbar erweisen. Innerhalb des Rechtssystems bleibt die Geltung der Normen unbezweifelbar; aus der Sicht der Gesellschaft (z.B. der Soziologen) sind Normen dagegen Tatsachen, also diskutierbar. Der Autor stellt verschiedene Versionen des Szenarios dar; nicht, um eine normative Antwort auf die titelgebende Frage zu geben, sondern um die Unmöglichkeit der begründeten Erwartung aufzuzeigen, dass jede Rechtsnorm normativ unverzichtbar ist.

Luhmann, Niklas (2008): Beyond Barbarism. In: Soziale Systeme 14(1): S. 38-46.

abstract: Jenseits von Barbarei. Der Autor behandelt die Frage nach dem Verhältnis von Barbarei und Moderne als ein Thema der Beziehungen zwischen Semantik und Gesellschaftsstruktur. Die altgriechische Unterscheidung von „Hellenen“ und „Barbaren“ repräsentiert das allgemeine, asymmetrische Differenzschema von „Inklusion“ und „Exklusion“, wie es für stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften kennzeichnend ist. Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft hebt diese Unterscheidung auf: Hier soll schließlich niemand mehr ausgeschlossen, vielmehr eine „All-Inklusion“ vollzogen werden. Aber diese All-Inklusion erweist sich als eine bloße Selbstbeschreibung der modernen Funktionssysteme. In Wahrheit finden sehr wohl Exklusionen statt; in manchen Fällen werden bestimmte Personen sogar aus sämtlichen Funktionssystemen ausgeschlossen, während der systemische Inklusionsbereich, davon unberührt, stabil weiteroperiert. Daraus schließt der Autor, dass Inklusion/Exklusion als eine Art Supercodierung die Leitdifferenz der modernen Weltgesellschaft werden könnte.

Thornhill, Chris (2008): On norms as social facts: A view from historical political science. In: Soziale Systeme 14(1): S. 47-67.

abstract: Normen als soziale Fakten. Die Perspektive der historischen Politikwissenschaft. Der Aufsatz befasst sich mit dem Begriff der Normen und mit dem Zusammenhang zwischen Normen, Gesellschaftsstruktur und Politik in den Werken Niklas Luhmanns. Dabei werden zwei Thesen vertreten: Erstens wird behauptet, dass in politischer Hinsicht Luhmanns Theorie der Gesellschaft einen eindeutig normativen – oder sozio-normativen – Gehalt hat. Sie Theorie impliziert, dass Regierungssysteme, deren Verfassung der pluralistisch differenzierten Form der modernen Gesellschaft angemessen ist oder wenigestens den evolutionären Prozess der sozialen Differenzierung nicht gefährdet bzw. rückgängig macht, höhere Aussichten auf Legitimation (oder Selbstlegitimation) haben als Regierungsformen, die die Differenzierung der verschiedenen Funktionssysteme der Gesellschaft nicht beachten oder sogar in Frage stellen. Zweitens wird argumentiert, dass bei Luhmann die Frage der Normen oder der Werte nie explizit erhoben werden kann. Moderne Gesellschaften sind polynormative Gesellschaften: Normen sind höchst variabel in die Gesellschaftsstruktur eingebettet und können nicht einfach durch theoretische Fragestellungen aus dieser semantischen Struktur herausgelöst oder zur Debatte gestellt werden. In der modernen Gesellschaft hängt also die normative Funktion der Normen davon ab, dass sie durch ihr Schweigen die Differenzierung der Gesellschaft befördern und die eventuelle Konzentration der Gesellschaft auf normative oder politisch umstrittene Kontroversen verhindern. Luhmanns Frage, ob es unverzichtbare Werte gebe, kann also nicht entschieden und eigentlich gar nicht sinnvoll gestellt werden. Sie schreibt der Gesellschaft eine politisch zentrierte oder sogar exzeptionelle Gestalt zu, die sie tatsächlich nicht mehr annehmen kann.

Paterson, John (2008): The Fact of Values. In: Soziale Systeme 14(1): S. 68-82.

abstract: Das Faktische der Werte. Basierend auf Luhmanns Bemerkungen hinsichtlich der Probleme, die für das Gesetz durch unverzichtbare Normen und insbesondere durch Konflikte zwischen zweien oder mehreren von ihnen entstehen, befasst sich dieser Artikel mit einigen Lösungsvorschlägen der Gesetzestheorie, bevor er sich mit verschiedenen neueren Theorien, die von den Gerichtshöfen selber stammen, beschäftigt. Da weder die Theorie noch die Praxis in der Lage zu sein scheinen, die von Luhmann aufgezeigten Probleme zu überwinden, werden Schlussfolgerungen gezogen, die darauf hinweisen, dass Luhmanns Analyse keineswegs Anlass zum Bedauern gibt, sondern vielmehr die praktischen Grenzen dessen aufzeigt, was in Bezug auf Werte erwartet werden kann. Darüber hinaus identifiziert seine Untersuchung den Punkt, an dem die mit dem Schutz der Werte Betrauten ihnen ihre volle Aufmerksamkeit schenken sollten.

Werber, Niels (2008): A Test of Conscience. Without Indispensable Norms: Niklas Luhmann’s War on Terror. In: Soziale Systeme 14(1): S. 83-101.

abstract: Ein Gewissenstest. Ohne unverzichtbare Normen: Niklas Luhmann Kampf gegen den Terror. In der Soziologie Niklas Luhmanns kommt der Ausnahmezustand nicht vor. Die großen Monographien gehen vom „normalen“ Funktionieren der Kommunikation in der Weltgesellschaft aus; dies bedeutet, dass die Grenzen der Funktionssysteme und die Unterschiede zwischen Medien und Codes intakt sind: Politik ist Politik, Recht ist Recht, etc. Gilt dies aber auch im Fall von Terroranschlägen großen Ausmaßes? In seiner in Heidelberg gestellten Frage an Juristen, ob auch dann „unverzichtbare Normen“ gälten, reißt Luhmann in die Normalität eine Lücke. Am Beispiel des Szenarios einer „tickenden Bombe“ werden die Aporien der Funktionscodes vorgeführt. Der Ausnahmefall ist normativ unentscheidbar, muss aber entschieden werden. Es geht um „hard cases“ und „tragic choices“. Der Aufsatz führt das Entscheidungsdilemma an mehreren Szenarien für moralische, juristische, politische und massenmediale Kommunikationen vor Augen und zeigt, dass Luhmanns Plädoyer für ein „prinzipienloses Manövrieren“ im Falle von Ausnahmefällen die Systemtheorie erstaunlich nahe an amoralische Theorien heranrückt, wie sie in den USA besonders seit „9-11“ Konjunktur haben.

Scheuermann, William E. (2008): “Against Normative Tone-Deafness“. In: Soziale Systeme 14(1): S. 102-109.

abstract: „Wider die normative Ton-Taubheit“. Luhmanns Aufsatz nimmt auf eine fast schon unheimliche Art und Weise die nach dem 11.9.2001 entstandene – und inzwischen in den USA weitverbreitete – These vorweg, dass selbst das grundlegende moralische Verbot von Folter keineswegs unantastbar ist. Obwohl Luhmanns Kritik auf den ersten Blick wie eine Beleidigung der traditionellen Formen moralischen Denkens erscheinen muss, basiert sie selbst implizit auf den traditionellen Formen schwacher (und vermutlich utilitaristischer) moralischer Argumentation. Luhmann behauptet, dass wir die Existenz unkontrollierbarer “tragischer Entscheidungen” einräumen müssen, aber gleichzeitig macht seine eigene, unübersehbare (und dennoch keineswegs beständige) Ablehnung des “alten europäischen” moralischen Rationalismus es ihm unmöglich, die Beschaffenheit dieser tragischen moralischen Situationen vollkommen zu begreifen.

Douzinas, Costas (2008): Torture and Systems Theory. In: Soziale Systeme 14(1): S. 110-125.

abstract: Folter und Systemtheorie. Niklas Luhmanns gegen die Rhetorik der Brigade der ‘unverzichtbaren Werte’ gerichteter Angriff ist wichtig und aktuell. Selbstverständlich haben gute Normen einen politischen Nutzen, aber sie besitzen keinerlei philosophischen Wert. Indem Werte durch Rechte ersetzt und Entscheidungen Anwälten überlassen werden, wird das Problem der Unbestimmtbarkeit und der Konflikte von Gesetzen und Rechten jedoch nicht behoben, sondern nur verschoben. Die (falsche) asketische Verpflichtung allein zur Beschreibung, verbunden mit der Akzeptanz der bestehenden Gesellschaftsordnung, macht die Systemtheorie zu einem wertlosen Werkzeug in einem Prozess der Verbesserung der Gesellschaft. Die Philosophie überbrückt die Kluft zwischen dem natürlich und sozial Gegebenen und dem ewigen Streben, ihr zu widerstehen und sie zu überwinden durch die Erforschung sowohl der dem Gesetz innewohnenden Gerechtigkeit und der Gerechtigkeit, die das Gesetz als Ganzes zur Verantwortung zieht.

Moeller, Hans-Georg (2008): “Human Rights Fundamentalism”. The Late Luhmann on Human Rights. In: Soziale Systeme 14(1): S. 126-141.

abstract: “Menschenrechtsfundamentalismus”. Menschrechte im Spätwerk Luhmanns. Der Aufsatz behandelt zunächst die Frage, ob die Auseinandersetzung zwischen Luhmann und der ‘linken’ Gesellschaftstheorie primär ideologischer Natur war oder nicht. Es wird die These aufgestellt, dass Luhmann in dieser Debatte nicht primär an einem politischem Dialog interessiert war, sondern vielmehr daran, die theoretische Unzulänglichkeiten seiner Opponenten offenzulegen, um einen Paradigmenwechsel in der Gesellschaftstheorie herbeizuführen. Dieser Versuch der “Dekonstruktion” seiner intellektuellen Widersacher wird am Beispiel der Behandlung des Themas Menschenrechte in Luhmanns Spätschriften veranschaulicht. Dabei wird ersichtlich, wie Luhmann durch eine semantisch-historische und funktionale Analyse die Paradoxien dieses politisch so erfolgreichen Konzepts sichtbar macht und es allein als ein “wertfundamentalistisches” rhetorisches Konzept erscheinen lässt, mit dem die Utopie einer sozialen All-Inklusion aufrecht erhalten wird.

Philippopoulos-Mihalopoulos, Andreas (2008): On Absence: Society’s Return to Barbarians. In: Soziale Systeme 14(1): S. 142-156.

abstract: Über Abwesenheit. Die Rückkehr der Gesellschaft zur Barabarei. Die Inklusion der Exklusion in die Autopoiesis des Systems ist ein weitreichender Schritt, der eine Überarbeitung des Konzepts der autopoietischen Gesellschaft erfordert. Basierend auf der Anerkennung der Unmöglichkeit von Kommunikation mit den Ausgeschlossenen, schlägt dieser Artikel eine Radikalisierung des Konzepts vor. Diese Anerkennung prägt die Gesellschaft von innen. Sie gründet auf der Luhmannschen Beschreibung des Barbarismus als einschließender Exklusion und wird als deren Exzess, als ein ‚Raum der Abwesenheit‘, zusammengefasst. Innerhalb der Autopoiesis wird Abwesenheit eher als eine aporetische denn als eine paradoxale Struktur beschrieben, ein memento vanitas, der das System von innen reizt, indem er ihm ständig seine Grenzen vorhält.

Farzin, Sina, Sven Opitz & Urs Stäheli (2008): Editorial: Inklusion/Exklusion: Rhetorik – Körper – Macht. In: Soziale Systeme 14(2): S. 167-170

Bohn, Cornelia (2008): Inklusion und Exklusion: Theorien und Befunde. Von der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft zur inkludierenden Exklusion. In: Soziale Systeme 14(2): S. 171-190.

abstract: Der Beitrag sucht nach einer sozialwissenschaftlichen, historisch informierten Analytik der Inklusion und Exklusion, die sich unter problemgeschichtliche Anforderungen stellt. Es werden Konzepte wie „ghetto poor“ (Wilson), surnuméraire, Ausschluss-Einsperrung (Castel) vorgestellt. Genauer werden die Theorietypen: Soziale Schließung und Ungleichheit (Weber, Bourdieu), Devianz (Foucault) und Inklusion und Exklusion als innergesellschaftliche Struktur und Differenzierung (Luhmann) diskutiert. Der Text schlägt ein devianztheoretisch informiertes differenzierungstheoretisches Konzept von Inklusion und Exklusion vor. Dazu entwickelt die Autorin im Anschluss an das Foucaultsche „Kerkersystem“ die Kategorie der inkludierenden Exklusion, behandelt diese Figur als eine über Devianzphänomene hinausgehende generalisierbare Einsicht für Inklusions- und Exklusionsprozesse und trägt sie in eine Gesellschaftstheorie ein. Beim Durchgang durch historisch-empirisches Material fällt allerdings Präzisierungs- und Modifikationsbedarf der Theoriebestände auf: Inklusionen und Exklusionen generieren eigenlogische Strukturen, die durchaus gegenläufig auf den verschiedenen Ordnungsniveaus operieren; das ungeklärte Verhältnis von Sozialstruktur/Semantik/Diskurs und Praktiken; das „underlife“ der Exklusionsbereiche; das Problem der Verschränktheit, Ununterscheidbarkeit und des Kontinuums von Inklusion und Exklusion, schließlich die zeitliche, sachliche Limitierung und Reversibilität von Inklusionen und Exklusionen.

Farzin, Sina (2008): Sichtbarkeit durch Unsichtbarkeit: Die Rhetorik der Exklusion in der Systemtheorie Niklas Luhmanns. In: Soziale Systeme 14(2): S. 191-209.

abstract: Der vorliegende Beitrag setzt am Befund der theoretischen Unterbestimmung des Exklusionsbegriffs in der Soziologie an. Während ich die Diagnose des Theoriedefizits der Exklusionsdebatte in der folgenden Argumentation teile, werden die Ursachen hierfür jenseits der diskursiven Vorgeschichte des Begriffs gesehen. Vielmehr nehme ich an, dass eine stringente Konzeptualisierung von Exklusion theorieintern auf Widerstände auflaufen muss, da sie die Frage nach der Grenze des Sozialen aufwirft. Am Beispiel des systemtheoretischen Exklusionsbegriffs wird mit Hilfe einer rhetorischen Analyse aufgezeigt, wie das Sprechen über soziale Exklusion von den grundlegenden systemtheoretischen Metaphern des Beobachters und der Grenze geformt wird und zugleich den Rahmen der herkömmlichen theoretischen Begriffsbildung verlässt. Vielmehr vollzieht sich eine Irritation der theoretischen Sprachroutine durch den Einsatz von Metaphern und Exempla zur Beschreibung von Exklusionsphänomenen, die eine Öffnung der Theorie für systematisch ausgeschlossene Wissensbestände ermöglicht, wie am Beispiel der Grenzmetaphorik gezeigt wird.

Ruda, Frank (2008): Alles verpöbelt sich zusehends! Namenlosigkeit und generische Inklusion. In: Soziale Systeme 14(2): S. 210-228.

abstract: Problematisiert die Systemtheorie die Exklusion, so tut sie dies, indem sie von einem Bereich spricht, dem alle Bestimmungen abgehen, in dem sich alle Attribute ausgesetzt finden. Die folgenden Überlegungen lassen sich von dieser Grundannahme leiten, um zunächst zu zeigen, inwiefern Luhmann daraus Argumente generieren kann, die andere mögliche Erklärungsmodelle der Exklusionsmechanismen so verstehen, dass diese ihre Radikalität verharmlosen. Jedoch bedeutet Exklusion als absolute Privation zu denken, wie ich im Folgenden zeige, dass es möglich wird eine theoretische Linie von Hegel zu Luhmann zu ziehen, die deutlich machen kann, dass beide von einer ihnen gemeinsamen ontologischen ‚Grundstellung’ ausgehen. Aus dieser Diagnose werde ich entwickeln, dass sich in Luhmann ein theoretisches Problem wiederholt, das in der Hegelschen Philosophie mit dem Namen ‚Pöbel’ verbunden ist, um in einem letzten Schritt nachzuweisen, dass die Hegelsche Pöbel-Tragödie und die Luhmannsche Exklusions-Farce den Blick freigeben auf einen Denker, dessen Zeit auch für die Frage nach der Exklusion noch nicht abgegolten ist: auf Karl Marx und dessen frühe Entwürfe zur Subjekt-‚Form’ des Proletariats.

Opitz, Sven (2008): Die Materialität der Exklusion: Vom ausgeschlossenen Körper zum Körper des Ausgeschlossenen. In: Soziale Systeme 14(2): S. 229-253.

abstract: Der Begriff der Exklusion ist für die Soziologie eine Herausforderung. Indem er auf eine Sozialität jenseits des Sozialen verweist, führt er die Disziplin an die Grenze ihres Gegenstands. Konfrontiert mit diesen Grenzen beschreibt die Soziologie den Exklusionsbereich regelmäßig als Raum, der nur noch bloße, auf ihre Materialität zurückgeworfene Körper beherbergt. Der vorliegende Artikel möchte den Körper der Ausgeschlossenen befragen: Warum erfolgt der Körperbezug innerhalb der Exklusionsdebatte in derart wiederkehrender Form und welche Funktion hat er? Wie lässt sich die hier behauptete Körperlichkeit gesellschaftstheoretisch einholen, wie kann dabei die in den Körperbezug eingeschriebene Materialität der Exklusion erfasst werden? Und welchen Zugang eröffnet eine derartige Operation zu der Grenzsozialität des Exklusionsbereichs? Die Gliederung des Artikels folgt der Reihenfolge dieser Fragen. Erstens wird die soziologische Exklusionsdebatte einer rhetorischen Analyse unterzogen. Gegen die hier vorherrschende Tendenz, den Körper als präsoziales Substrat zu behandeln, soll zweitens der Vorschlag erarbeitet werden, die Materialität der Exklusion als Effekt der Selbstproduktion des Sozialen zu verstehen. In Auseinandersetzung mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns und der Diskurstheorie Judith Butlers erscheint der Körper des Ausgeschlossenen in zwei Dimensionen: als semantisch entwerteter Körper sowie als gespenstischer Körper, der den Inklusionsbereich in seiner Heterogenität heimsucht. Die Theorielektüren münden drittens in die Formulierung einiger Eckpunkte für eine poststrukturalistisch revidierte Sozialtheorie der Inklusion/Exklusion.

Balke, Friedrich (2008): Homo homini rex. Infamie und Demokratie bei Rousseau. In: Soziale Systeme 14(2): S. 254-271.

abstract: Für Rousseaus politischen wie für seinen autobiographischen Diskurs ist der Zugriff der Macht auf das gewöhnliche Leben der Menschen, also auf das, was in der Kultur Alteuropas als nicht berichtens- und aufschreibenswert aus dem Bereich des Sag- und Wissbaren ausgeschlossen wurde, konstitutiv. Vor dem Hintergrund der von Michel Foucault beschriebenen Produktion infamer Menschen in den lettres de cachet des 18. Jahrhunderts zeigt der Aufsatz, wie Rousseau das dort bereitgestellte diskursive Formular nutzt, um die exemplarische Rechtfertigung eines ‚unwürdigen Subjekts’ vorzunehmen, das selbst das Wort ergreift und so seine minutiös dokumentierte Existenz sowohl der Nachwelt zur Erinnerung als auch den entstehenden Humanwissenschaften zur systematischen Auswertung überantwortet. Während Rousseau seine politische Theorie auf den allgemeinen Willen des Volkes gründet, muss er sein eigenes Schicksal der Macht des Souveräns anvertrauen, weil er aufgrund seiner konstitutionellen Einzigartigkeit von vornherein außerhalb der Allgemeinheit des Gesetzes stellt. Damit realisiert der Diskurs Rousseaus die polare Struktur des modernen Volks, das zwischen dem integralen politischen Körper der Demokratie und den ordinary people, den tendentiell ausgeschlossenen oder ‚prekären’ Existenzen oszilliert.

Tellmann, Ute (2008): Figuren der Exklusion: Das (nackte) Leben in der Ökonomie. In: Soziale Systeme 14(2): S. 272-293.

abstract: Die Debatte um Biopolitik hat den politischen Bezug auf das Leben als Signatur der Moderne problematisiert. Während dort der souveräne und gouvernementale Zugriff auf das Leben im Vordergrund steht, geht es in diesem Artikel um den Zusammenhang von Biopolitik und Ökonomie. In einer genealogischen Argumentation wird gezeigt, wie der prominente Rekurs auf die Figur des Lebens das ökonomische Denken formiert. Anhand einer Analyse der Texte von T.R. Malthus lässt sich plausibel machen, dass das Leben in der Ökonomie eine Figur der politischen Exklusion und kolonialen Hierarchisierung ist. Dieses (nackte) Leben wird in der Folge zum epistemischen Grund des ökonomischen Denkens und legt das ökonomische Imaginäre auf eine zivilisatorische Subjektivierungsnorm fest. Die politische Kulturgeschichte des homo oeconomicus ist, so zeigt der Artikel auf, mit dieser biopolitischen Verfasstheit des ökonomischen Denkens verknüpft.

Scheu, Johannes (2008): Wenn das Innen zum Außen wird: Soziologische Fragen an Giorgio Agamben. In: Soziale Systeme 14(2): S. 294-307.

abstract: Im Fokus des Beitrags steht ein erklärtermaßen soziologischer Verortungsversuch der Politischen Theorie Giorgio Agambens. Agambens mit Blick auf das ›nackte Leben‹ entwickelte Argumentationsfigur des ›einschließenden Ausschlusses‹ wird hierbei zunächst mit Exklusionskonzepten der Systemtheorie, der neueren Armutsforschung sowie der poststrukturalistischen Gesellschaftstheorie kontrastiert und auf ihre soziologische ›Brauchbarkeit‹ hin überprüft. Vor dem Hintergrund der Strukturanalogie zwischen dem ›nackten Leben‹ und der ›Souveränität‹ wird in einem weiteren Schritt aufgezeigt, dass sich der von Agamben gebrauchte Begriff der ›politischen Gemeinschaft‹ allein als ›Exklusionsgemeinschaft‹ ausformulieren lässt, auf die – sofern jegliche Inklusion immer nur als Attribut eines allumfassenden Ausschlusses fungiert – ein biopolitisches Erklärungsmuster anzuwenden unmöglich ist. Im Schlusskapitel wird die in der deutschsprachigen Soziologie bislang weitgehend unbeachtete Sündenbocktheorie René Girards vorgestellt. Diese erlaubt einen nuancierten sozialtheoretischen Blick auf das Wechselverhältnis von Inklusion und Exklusion, mit Hilfe dessen Agambens Politische Theorie konstruktiv zu erweitern wäre.

Gertenbach, Lars (2008): Ein »Denken des Außen«: Michel Foucault und die Soziologie der Exklusion. In: Soziale Systeme 14(2): S. 308-328.

abstract: Der Aufsatz bringt Michel Foucault mit der gegenwärtigen Exklusionsdebatte in Verbindung. Obwohl von Foucault materialreiche Untersuchungen zu Phänomenen des sozialen Ausschlusses vorliegen, blieb er in der bisherigen Diskussion nahezu unberücksichtigt. Vor dem Hintergrund der bestehenden theoretisch-konzeptionellen Unklarheiten ist dies umso erstaunlicher, da deren genaue Gestalt einen Rekurs auf Foucault nahe legt. In einem ersten Schritt skizziert der Text die Themenfelder und Problembereiche der derzeitigen Exklusionsforschung. Das Ziel des Aufsatzes besteht im Folgenden darin, die Stellung des Exklusionsbegriffs wie auch die Zugriffsweisen Foucaults auf Phänomene sozialer Exklusion zu systematisieren und auf die bestehende Forschungsdebatte zu beziehen. Dazu wird vorgeschlagen, innerhalb des Foucaultschen Werkes zwischen drei Mechanismen bzw. Typen von Exklusion zu unterscheiden. Diese lassen sich nicht nur mit verschiedenen Machtformen (Souveränität, Disziplin, Gouvernementalität) in Verbindung setzen, mit ihnen können auch sozialhistorisch divergierende Exklusionspraktiken identifiziert werden. Besondere Bedeutung für die aktuelle Diskussion erlangt der noch weitgehend unausgearbeitete dritte Typus, der für Foucault mit der Formierung einer Sicherheitsgesellschaft verknüpft ist. Dies ist auch der Punkt, der eine Hinwendung zu Foucault für die gegenwärtige Exklusionsdebatte besonders ertragreich erscheinen lässt.

Tsianos, Vassilis & Serhat Karakayali (2008): Die Regierung der Migration in Europa: Jenseits von Inklusion und Exklusion. In: Soziale Systeme 14(2): S. 329-348.

abstract: Der Ausgangspunkt des Artikels ist die Beobachtung, dass das Paradigma der Exklusion innerhalb der Border Studies tief verankert ist. Gemäß diesem Paradigma wird die Gesellschaft als ein Container konzipiert, der als Apparatur zur Distribution gleicher Rechte firmiert. Der in diesem Ansatz implizite Normativismus wird gewöhnlich in der Behandlung von Migrationsphänomenen auf die transnationale Ebene übertragen. Unter Rückgriff auf die Ergebnisse einer Feldstudie zu Grenz- und Migrationsregimen, welche die Autoren in der Ägäis durchgeführt haben, entwickeln sie einen alternativen Ansatz. Dieser soll in der Lage sein, die Recodierung von Grenzpolitiken zu erfassen, welche die Praxis der Migration selbst bewerkstelligt. Die These ist, dass die Migrationsbewegung konstitutiv an der Herausbildung der liminalen Institutionen einer „Porokratie“ beteiligt ist.

Eberl, Oliver (2008): Zwischen Zivilisierung und Demokratisierung: Die Exklusion der „Anderen“ im liberalen Völkerrecht. In: Soziale Systeme 14(2): S. 349-369.

abstract: Die von Derrida ausgemachte Formierung der internationalen Politik anhand der Figur des „Schurkenstaates“ ist Teil der liberalen Revolution des Völkerrechtsdiskurses. Die Stigmatisierung vormals formal gleicher Staaten als nunmehrige „Schurkenstaaten“ wird geradezu zur Signatur des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung. Ein historischer Vergleich kann zeigen, dass die Exklusion der jeweils „Anderen“ aus dem Geltungsbereich des Völkerrechts immer dazu diente, koloniale Praktiken der europäischen Expansion zu gestatten und diese selbst zu rechtfertigen: Der Ausschluss von Individuen aus dem Völkerrecht diente der Landnahme in Amerika, der Ausschluss von „anderen“ staatlichen Gemeinschaften als „unzivilisiert“ der Okkupation Afrikas. In der „Epoche der Schurkenstaaten“ werden die betroffenen Staaten vom gleichen Zugang zu den Partizipations- und Schutzrechten des Rechts ausgeschlossen, das ihnen nunmehr als imperiales Recht der liberalen Staaten entgegentritt. Zeigt sich in diesem Prozess liberaler Ausgrenzung nun die paradoxale Struktur des Liberalismus, der Universalismus immer auch mit Exklusion verbinden muss oder ist dies auf diesen speziellen Diskurs beschränkt, der demnach als pathologischer auszuweisen wäre?

Marchart, Oliver (2008): Ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit: Exklusion und Antagonismus bei Lévi-Strauss, unter Berücksichtigung von Lacan, Laclau und Luhmann. In: Soziale Systeme 14(2): S. 370-396.

abstract: Der Artikel geht von der Überlegung aus, dass zwei Formen der Exklusion voneinander unterschieden werden müssen. Zum einen jene Formen der Exklusion, die für das exkludierende System nicht konstitutiv sind, zum anderen ein Modus von Exklusion, der für das System eine sehr wohl konstitutive, d.h. notwendige Funktion erfüllt und daher als dessen Möglichkeitsbedingung zu gelten hat. Die Laclau’sche Diskurstheorie belegt diese Form eines radikaleren Ausschlusses, der Gesellschaft als solche überhaupt erst ermöglicht, indem er paradoxerweise die vollständige Konstitution von Gesellschaft verunmöglicht, mit dem Konzept des sozialen Antagonismus. Im Abgleich der Diskurstheorie mit der strukturalen Anthropologie Lévi-Strauss’ erweist sich, dass der Gesellschaftseffekt aus einer strukturell unüberschreitbaren Heterogenitätsregel hervorgeht (bei Lévi-Strauss das Inzestverbot), die zugleich die selbstidentitäre Schließung von Gesellschaft strukturell verhindert. Soziale Exklusion und Antagonismus – und damit die Frage nach Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Gesellschaft – können aber nicht allein aus dieser Heterogenitätsregel heraus erklärt werden, die zu sehr dem Erklärungsmodell eines „Gründungsmythos“ verhaftet bleibt, sondern müssen differenztheoretisch abgeleitet werden. Eine Relektüre der Lévi-Strauss’schen Interpretation dualer Organisationen erweist dessen Kategorie der „Null-Institution“ als diskurstheoretisch anschlussfähig und vergleichbar der Laclau’schen Kategorie des leeren Signifikanten, dessen Funktion gleichfalls darin besteht, Systematizität zu garantieren und letztlich Gesellschaft zu possibilisieren.

Demirović, Alex (2008): Reibungen an der Normalität: Exklusion und die Konstitution der Gesellschaft. In: Soziale Systeme 14(2): S. 397-417.

abstract: Im ersten Teil des Beitrags wird diskutiert, dass eine moralphilosophische und demokratietheoretische Forderung nach mehr Inklusion von durch Exklusion betroffenen Individuen theoretisch unzulänglich und politisch hilflos ist. Das grundlegende Problem, daß sich moderne Gesellschaft nur in der Binarität von Inklusion und Exklusion konstituieren kann, wird dabei ignoriert. Dort, wo diese Einsicht zur Geltung gelangt – in der Theorie von Luhmann -, fehlt allerdings der herrschaftssoziologische Aspekt. Erst eine kritische Wendung, der die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion selbst in Frage stellt, führt weiter. Ob eine solche Infragestellung überhaupt möglich ist, ist Gegenstand der Auseinandersetzung mit der Theorie von Laclau, der ebenfalls einen die Gesellschaft konstituierenden Ausschluss annimmt. Es wird, gestützt auf Überlegungen Freuds und Adornos, der Nachweis geführt, dass Laclaus Argumente für die konstitutive Notwendigkeit von Exklusion Ergebnis von Naturalisierungen sind, die theoretisch nicht begründet werden können. Die These ist, dass Laclaus ontologisierende Argumentation durchaus den realen Gehalt der modernen Gesellschaft trifft und Gesellschaft als ökonomisch, politisch und kommunikativ erzeugte Totalisierung mit ihren ausschließenden Folgen als Form menschlichen Zusammenlebens selbst zur Disposition gestellt werden muss.