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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Psychiatrie unter der Lupe

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Das aktuelle Heft des Kontext nimmt die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Psychiatrie unter eine kritische Lupe. Im Editorial heißt es: „Nach psychiatrischer Logik werden psychische Probleme nach einem medizinischen Modell verstanden und behandelt. Damit ist gemeint, dass, wie in ärztlicher Praxis längst üblich, erst eine Diagnose Aufschluss darüber gibt, was überhaupt für ein Problem vorliegt und dann ebenfalls festlegt, wie zur weiteren Behandlung dieses Problems vorgegangen werden muss. Nach diesem Modell sollen heute, jedenfalls nach offizieller Lesart, auch Psychotherapien funktionieren: evidenzbasiert und störungsspezifisch. Zweierlei lässt sich dazu wohl bei allen Kontroversen festhalten, ohne allzu großen Widerspruch zu erregen: Zum einen hat die Psychotherapie als in Deutschland über öffentliche Kassen finanzierte Gesundheitsleistung materiell ganz enorm von diesem Verständnis profitiert. Ihre Methoden gelten seither als »wissenschaftlich fundiert«; die Behandlungen werden aus den solidarisch organisierten Gesundheitstöpfen für alle finanziert, und dies zu einem Stundensatz, der jedenfalls in dieser Höhe und in diesem Umfang auf dem »freien Markt« kaum zu erreichen wäre. Zum anderen passt eine konstruktivistische Erkenntnistheorie, wie sie systemischer Therapien klassischerweise zu Grunde liegt, ziemlich schlecht zu diesem Modell. Und zu Gunsten dieser systemischen Perspektive sei hier noch die Anmerkung erlaubt: Auch die Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung hinterlassen zunehmend Risse in der Fassade störungsspezifisch-evidenzbasierter Psychotherapie – man lese hier nur die beachtenswerte Übersicht von Wampold und Imel zur »großen Psychotherapie-Debatte«. Nichtsdestotrotz ist seit nun schon mehr als zwei Jahren auch systemische Therapie Mitglied im Club der evidenzbasierten Therapieverfahren, die in Deutschland über eine sozialrechtliche Anerkennung verfügen – also prinzipiell mit den Kassen abrechnen dürfen, weil in Studien nach der beschriebenen medizinisch-psychiatrischen Logik ausreichend störungsspezifische Behandlungserfolge nachgewiesen wurden. Es spricht also einiges dafür, dass sich Psychiatrie und systemische Therapie seit den 1960er Jahren auch aufeinander zubewegt haben. Grund genug jedenfalls, diese Entwicklung noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und das Verhältnis zwischen Psychiatrie und systemischer Therapie, zwischen medizinischem Modell und brauchbarer Behandlung psychischer Probleme neu zu vermessen. (…) Tom Levold rekonstruiert für uns zunächst in historischer und gleichwohl sehr kritischer Perspektive die Entwicklungsprozesse von Diagnosemanualen from plato to nato, also von der Antike bis zum DSM-5. (…) Die Gegenwart psychiatrischer Praxis erhellt dann Stefan Weinmann für uns, der insbesondere das »medizinische Modell« der Psychiatrie als eine Selbsttäuschung entlarvt. Anschließend an sein unlängst erschienenes und höchst empfehlenswertes Buch »Die Vermessung der Psychiatrie« analysiert er die fundamentalen Mechanismen, die den oft biologisch orientierten Behandlungen psychosozialer Auffälligkeiten zu Grunde liegen und die sich mehr über einen kulturell gewachsenen Konsens erklären lassen als über die »Natur« der zu Grunde liegenden Sachverhalte (…) Daran knüpft unmittelbar der Beitrag von Volkmar Aderhold an, der sich ebenfalls als Psychiatriekritiker einen Namen gemacht hat. Auch sein Blick in die Zukunft fällt insgesamt eher pessimistisch aus. Auf unseren besonderen Wunsch hin hat er aber einige Perspektiven aufgezeigt, wie sich die heutige Psychiatrie zum Positiven hin entwickeln könnte, wenn sie denn wollte. Wie schon bei Weinmann angedeutet, wünscht sich auch Aderhold eine Abwendung vom medizinischen Modell mit all seinen Implikationen und stellt die größtmögliche individuelle Autonomie von Patienten sowie eine Behandlung des Einzelnen über basale Prinzipien menschlicher Beziehungsgestaltung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.“

Mit einer Vielzahl von ausführlichen Rezensionen als Add-On ist ein spannendes Heft daraus geworden, dessen bibliografischen Angaben mit allen abstracts hier gelesen werden können.

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