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(Noch mehr) Ukrainische Episoden

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Nachdem gestern Rudolf Klein mit uns seine Impressionen aus der Weiterbildungsarbeit in der Ukraine geteilt hat, gibt es heute noch einen zweiten Blick auf diese Zeit von Barbara Schmidt-Keller, die gemeinsam mit ihm diese Zeit in Ivano-Frankivsk erlebt und gestaltet hat:

Ukrainische Episoden

Einige Episoden während unserer verschiedenen Aufenthalte in der Ukraine sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Vassily hatten wir ja bereits in Deutschland kennen gelernt. Igor, sein Freund und Kollege und unser Chauffeur, hatte uns in Lemberg vom Flughafen abgeholt (Die Abenteuer der transukrainischen Autofahrten sind schon gestern an dieser Stelle ausführlicher behandelt worden). Am nächsten Tag lernten wir den Rest der Kerngruppe kennen, die zusätzlich aus  Viktor und Ira, beides Psychiater, und Oleg, der als Dolmetscher für uns arbeitete, bestand. Ira, eine attraktive Frau um die 40, hatte in der Vorbereitungsphase neben ihrer Tätigkeit in der Klinik und an der Uni zusätzlich Sekretariatsarbeit für das Systemische Projekt übernommen  und unsere ins Ukrainische übersetzten Handouts und Arbeitsblätter gestaltet.
In den ersten Kontakten mit ihnen und auch mit der Gesamtgruppe sind mir die Rituale der Begrüßung und Kontaktaufnahme am Anfang ein Rätsel geblieben.Während Rudi von den einzelnen Teilnehmern der Gruppe mit großer Höflichkeit und sehr respektvoll begrüßt wurde, nickte man mir eher aus der Ferne zu.
Ich überprüfte kurz, ob ich einen Stenoblock in der Hand und einen Bleistift hinter dem Ohr hatte, dem war nicht so. Auf den nächsten Würdenträger, der uns vorgestellt wurde, es war der Chefarzt der Klinik, der uns die Räume für das Seminar zur Verfügung gestellt hatte, trat ich dann auch entschlossen zu und schüttelte ihm die Hand. Er schien etwas überrascht, reagierte aber souverän.
Oleg, unser  Dolmetscher, erklärte mir anschließend, dass es in der  Ukraine als unhöflich angesehen werde, einer Frau die Hand zu geben, weil dies als eine Respektlosigkeit angesehen werde (Ob die Erklärung stimmt, welche ich an anderer Stelle gelesen habe, vermag ich nicht zu beurteilen. Diese besagt, dass die Frau, die nach einem Händeschütteln in die Küche zurückkehrt, die ihr angestammter Platz ist, sich die Hände dann ständig waschen müsse, bevor sie wieder mit den Lebensmitteln hantiert, und dass man ihr dies respektvoll ersparen möchte).
Ob es auch als respektlos  angesehen wurde, als Frau diesbezüglich initiativ zu sein und die Hand eines verdutzten Mannes zu ergreifen, oder ob hier andere Bewertungskategorien gelten, ist mir nie wirklich klar geworden. Aber im Laufe der beiden Jahre begegnete man mir mit freundlicher Nachsicht. Meine rechte Hand führte manchmal ein Eigenleben und wollte schneller Guten Tag sagen, als mein Gedächtnis brauchte, um die kulturellen Unterschiede in den Arbeitsspeicher zu laden.
Und so stellten wir uns wechselseitig darauf ein, uns die Hände zu schütteln oder auch nicht, je nach dem, welcher Impuls auf welcher Seite vom jeweiligen Gegenüber zuerst dekodiert wurde.
Rudi berichtet an anderer Stelle über die korrekte Zusammensetzung eines ukrainischen Frühstücks, das wir häufig in einem Café zu uns nahmen.

Es bestand aus Eiern in jeder Zubereitungsform, süßen und salzigen Pfannkuchen, eingelegten oder frittierten Fischen, Würstchen, Kuchen, Buchweizengrütze, Brot und Butter, Marmelade, Käse oder Aufschnitt. Längere Zeit gingen wir davon aus, dass diese Angebotspalette typisch für dieses spezifische Café war, und eine Ähnlichkeit mit dem typischen ukrainischen Frühstück nicht bestünde.
Weit gefehlt. Staunend hörten wir dem Bericht einer jungen Germanistikstudentin zu, die Oleg gelegentlich beim Dolmetschen vertrat, als diese höflich nach unserem Frühstück gefragt und anschließend erzählt hatte, welche verschiedenen kalten und warmen Gerichte sie an diesem Morgen bereits zu sich genommen hatte.
Ihre Mutter, so erzählte sie, stehe an jedem Morgen um 5:00 Uhr auf, um der Familie ein Frühstück zu bereiten, welches mindestens aus drei warmen und frisch zubereiteten Gerichten bestehe.  Danach gehe sie selbst zur Schule, wo sie als Lehrerin arbeite.
Alles andere sei mit der weiblichen Ehre und dem Anspruch, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein, nicht zu vereinbaren.
Oxana & Svetlana, zwei gestandene Frauen im mittleren Alter mit fast erwachsenen Kindern und beide als Oberärztinnen in der Psychiatrie tätig, bestätigten mir das in einer Unterhaltung am Rande der Mittagspause. Allerdings erzählten sie auch, wie erschöpft  von diesem Mammutprogramm in Familie, Haushalt und Beruf sie waren.
Die Situation der Frauen in der Ukraine blieb ein besonderes Thema. Viele Frauen sorgten alleine für das Einkommen der Familien. Die Arbeitslosigkeit der Männer war sehr hoch und für Frauen gab es Jobs auf dem grauen Arbeitsmarkt von Pflege, Kinderbetreuung und als Hausangestellte. Der Anteil weiblicher Migranten, die zum großen Teil illegal im Dienstleistungssektor im westlichen Europa tätig waren (und oft in der Zwangsprostitution landeten), lag damals im 7-stelligen Bereich – die genaue Größenordnung weiß ich nicht mehr. Ob es mittlerweile weniger oder doch eher mehr geworden sind? Der Versuch, die Zahl schnell zu googlen, führte auf eine unendliche  Anzahl von einschlägigen Kontaktbörsen.
Auch eine ukrainische Familie, die wir im Rahmen eines Live-Interviews in der Klinik kennenlernten, war von dieser Thematik betroffen. Die 20jährige Ola, die seit ihrem 16. Lebensjahr fast schon Dauergast in der Psychiatrie war, war von ihrem behandelnden Psychiater mit ihren Eltern eingeladen worden. Ola hatte bereits die meisten  Interventionen der osteuropäischen Psychiatrie kennengelernt. Sie war mit Elektroschocks, Neuroleptika, Insulinschock und Hypothermie behandelt worden. Eine Besserung wurde nicht erreicht. Jetzt sollte die Wunderwaffe der Systemischen Therapie zum Einsatz kommen.
Wir bemühten uns, einerseits die Erwartungen der Gruppe zu minimieren und andererseits, uns auf die Familie einzustellen. Die Mutter lebte mit der älteren Tochter seit 4 Jahren in den USA und arbeitete mit greencard in einem privaten Haushalt. Ein halbes Jahr nach ihrer Abreise war Ola zum erstenmal psychiatrisch behandelt worden.
Der Vater war seit etlichen Jahren arbeitslos und trank zuviel. Die Ehe bestand zumindest formal noch, der Vater hatte aber nicht ohne die Großmutter mit in die USA  umziehen wollen. Die Großmutter väterlicherseits lebte in der Nähe. Sie war 1947 im Rahmen der polnischen Operation Weichsel zwangsumgesiedelt worden, war früh verwitwet und hatte ihre beiden Söhne alleine großgezogen. Ola und ihr Vater waren die einzigen Angehörigen in der Nähe, der andere Sohn mit seiner Familie lebte in Portugal.
Ola wollte nicht ohne den Vater emigrieren, die Mutter nicht ganz zurückkommen. Olas ältere Schwester war mittlerweile in den USA verheiratet. Zum Zeitpunkt des Familiengesprächs war die Mutter wegen der Krise der jüngeren Tochter für einige Wochen in die Ukraine zurückgekehrt.
Wir sprachen mit der Familie über die Nöte der vergangenen Jahre, die sich wechselseitig blockierenden Loyalitäten und die Auswirkungen von Ola ‘s psychotischen Krisen auf Bindung und Distanz.
Die Tochter hatte seit einem halben
Jahr kaum etwas geredet und niemandem auf der Station ihr Gesicht gezeigt, welches sie unter einer tief in die Stirn gezogenen Baseballmütze versteckte. Wir fragten die Eltern, ob sie es für möglich hielten, dass Ola sich in sich zurückgezogen habe, da die Optionen für eine befriedigende Veränderung zur Zeit so unerreichbar schienen.  Ola schob die Mütze zurück und beteiligte sich am Gespräch.
Als das Gespräch vorbei und die Familie bereits verabschiedet war, kehrte der Vater in den Seminarraum zurück und schenkte uns eine Tüte mit Äpfeln. Eine würdevolle Geste, die uns berührte. Wir saßen mit der Gruppe zusammen und aßen Äpfel und ließen den Tag ausklingen.

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